DAS WERDEN DER ORGANISMEN ZUR WIDERLEGUNG VON DHRWINS ZUFHLLSTHEORIE DURCH DHS GESETZ IN DER ENTWICKLUNG VON OSCAR HERTWI6 BERLIN DRITTE, VERBESSERTE AUFLAGE MIT 115 ABBILDUNGEN IM TEXT JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1922 Alle Rechte Vorbehalten. Copyright 1916 by Gustav Fischer, Publisher, Jena. I h cP \p 0* U- re ^ O-Prv^ “3 G& Vorwort zur dritten Auflage. cr& Nach der günstigen Aufnahme, die mein Buch „Das Werden der Organismen“ bei seinem Erscheinen (1916) in zahlreichen Be- sprechungen erfahren hat, sind später auch Angriffe aus dem Lager der Ultradarwinisten nicht ausgeblieben; sie haben in letzter Zeit sogar eine schärfere Form angenommen, je mehr sich die weitere Verbreitung meines Buches, das jetzt auch in spanischer Sprache erscheint, bemerkbar machte. Selbst vor persönlichen Verun- glimpfungen ist man nicht zurück geschreckt. Ich bin darauf vorbereitet gewesen und daher durch die An- griffe keineswegs überrascht. Handelt es sich doch in dem zum Austrag zu bringenden Kampfe um mehr als eine bloße Aufklärung einzelner Irrtümer in einer vorübergehenden Lehre der Biologie, wie es der Darwinismus in seinen verschiedenen Begleitformen ist. Höheres steht in Frage! Es gilt die Parteinahme in dem Kampf zweier Weltanschauungen, der materialistischen und der idealisti- schen, die so alt sind als die Geschichte der Philosophie überhaupt und sich in verschiedenen Perioden mit wechselndem Erfolg den Rang streitig machen. Zwar ist seit zwei Jahrhunderten die materialistische Welt- anschauung in immer weiteren Kreisen zur Herrschaft gelangt. In den Naturwissenschaften hat sie zu der von den französischen Enzyklopädisten verbreiteten Lehre des Mechanismus geführt und hat zuletzt auch in der Zufallstheorie von Darwin mit ihrem Kampf ums Dasein und der natürlichen Zuchtwahl das Gebiet der Biologie ergriffen. Ebenso hat sie sich im Wirtschaftsleben geltend gemacht in der auf englischem Boden entstandenen Lehre vom „Utilitarismus“ mit seinem ungezügelten Wirtschaftskampf aller gegen alle, mit seinem laisser faire, mit seiner ungebundenen Kon- kurrenz der einzelnen Individuen und ganzer Völker gegeneinander. Aber wenn nicht alle Zeichen der Zeit trügen, befinden wir uns jetzt wieder an einem großen Wendepunkt in der geistigen Entwicklung der Menschheit. Die zweihundertjährige Herrschaft 58020.' S IV Vorwort zur dritten Auflage. der verschiedenen materialistischen Richtungen, gegen welche schon immer von Zeit zu Zeit bedeutende Schriftsteller, Philosophen und Naturforscher, wie Goethe, Fichte, Carlyle, Carl Ernst V. Baer, die Physiker Fechner und Mach, ihre warnende Stimme, Propheten gleich, erhoben haben, steht im Begriff, jetzt wieder einer idealistischeren Weltanschauung unter der Not der Zeit zu weichen. Der Wunsch, hierbei noch mitzuwirken, soweit es meine schwachen Kräfte in vorgerücktem Alter erlauben und meine in einem Menschenalter gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen zur Pflicht machen, hat mir die Feder zur Niederschrift meines Buches „vom Werden der Organismen“ in die Hand gedrückt und mich weiter mit zwingender Konsequenz veranlaßt, ihm bald noch zwei Ergänzungsschriften folgen zu lassen, die auf verwandten Ge- bieten gegen die materialistisch-mechanistischen Ideenkreise gerichtet sind. Die eine ist meine jetzt in zweiter Auflage (1921) erschienene Schrift : „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“ ; die zweite ist soeben veröffentlicht worden unter dem Titel: „Der Staat als Organismus, Gedanken zur Entwicklung der Menschheit“. Sie schließt sich an die beiden voran gegangenen in- sofern enger an, als Biologie und Soziologie sehr wichtige Be- rührungspunkte zueinander darbieten. In ihr wird die auf biologische Gesichtspunkte begründete organische , sittliche Staatsidee der materialistischen Lehre von der Gesellschaftsentwicklung von Marx, Engels u. a. entgegengehalten. Durch eine gemeinsame Grundanschauung stehen also die drei Bücher, wie die Glieder einer Kette, in näherem, festem Zusammen- hang untereinander. Mögen sie in ihrer Verbindung und gegen- seitigen Ergänzung durch Erweckung und Stärkung aller geistigen und sittlichen Kräfte, die in dem noch jugendfrischen, deutschen Volke ruhen, zu seiner Erneuerung, seiner Erstarkung und seiner Wiederaufrichtung aus den tiefen Nöten der Gegenwart beitragen. Berlin-Grunewald im April 1922. Oscar Hertwig. Vorwort zur ersten Auflage. Meine akademische Studienzeit ist mit dem Aufstieg der durch Darwin neu begründeten Entwicklungslehre zusammengefallen. Als Schüler meines verehrten Lehrers Haeckel und in persön- lichem Verkehr mit ihm gewann ich das rege Interesse für die Biologie, welches für meine eigene Entwicklung und für die Richtung meiner späteren Forschungen entscheidend wurde. Schon früh konnte ich an der Quelle selbst den Kampf der Meinungen ver- folgen, welche für und wider die einzelnen Lehren des Darwinismus geäußert worden sind. Hierbei blieben mir viele Schwächen des- selben nicht verborgen und regten mich, je älter ich wurde, zu eigenem Nachdenken an. Daher bin ich in keiner Periode meiner wissenschaftlichen Ausbildung, auch nicht in der Zeit der siegreichen Ausbreitung des sogenannten Darwinismus, zu einem blinden Partei- gänger desselben geworden. Namentlich über den Wert und die Tragweite der Selektionstheorie und der verschiedenartigsten aus ihr gezogenen Folgerungen konnte ich die Zweifel niemals los werden. Auf gef ordert, an der Jahrhundertwende auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Aachen einen Vortrag über die Ent- wicklung der Biologie im 19. Jahrhundert zu halten1 * *) benutzte ich die Gelegenheit, meine Zweifel über die Richtigkeit der Selektions- theorie zum ersten Male öffentlich auszusprechen. Die Entstehung der Organismen weit aus natürlichen Ursachen bezeichnete ich „als ein außerordentlich verwickeltes und schwieriges Problem, das durch eine Zauberformel ebensowenig zu lösen sei, als es ein für jede Krankheit brauchbares Allheilmittel gebe“. „Indem Weismann“, fügte ich abschließend hinzu, „die Allmacht der Naturzüchtung ver- kündete, sah er sich gleichzeitig zu dem Geständnis genötigt: ,Wir können den Beweis, daß eine bestimmte Anpassung durch Natur- züchtung entstanden ist, für gewöhnlich nicht leisten4, das heißt nichts anderes als: wir wissen in Wahrheit nichts von dem Ur- sachenkomplex, welcher die bestimmte Erscheinung hervor gerufen hat. , Ohnmacht der Naturzüchtung4 läßt sich daher mit Spencer entgegnen.“ Mein Endurteil aber faßte ich in die Sätze zusammen : „In diesem wissenschaftlichen Streit, mit dem unser Jahrhundert 1) Hertwig , Oscar , Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert. Vor- trag auf der Naturforscherversammlung zu Aachen. Jena 1900. 2. Aufl., nebst einem Zusatz über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus, Jena 1908. VI Vorwort zur ersten Auflage. schließt, muß man wohl unterscheiden zwischen Entwicklungslehre und Selektionstheorie. Beide stehen auf einem sehr verschiedenen Grund und Boden. Denn mit Huxley können wir sagen: ,Wenn die DARWlNsche Hypothese auch weggeweht würde, die Ent- wicklungslehre würde noch stehen bleiben, wo sie stand‘. In ihr besitzen wir eine auf Tatsachen beruhende, bleibende Errungenschaft unseres Jahrhunderts, die jedenfalls mit zu ihren größten gehört.“ Einer zweiten 1908 erschienenen Auflage meines Aachener Vortrages fügte ich einen längeren Zusatz mit dem Titel „Über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus“ hinzu und hob her- vor, daß man jetzt häufiger von „einer Krisis des Darwin is- m u s“ sprechen höre. Denn der Zweifel an der Zulässigkeit mancher Fundamente der Deszendenztheorie und der auf ihnen erbauten Schlußfolgerungen habe sich weiter ausgebreitet und mit ihm das Bestreben, die mit Darwins Namen verknüpften Entwicklungs- hypothesen einer strengeren Prüfung auf ihren Wahrheitsgehalt zu unterziehen. So habe gegenüber der Spekulation, die in der ersten Periode der DARWiNschen Lehre in den Vordergrund getreten war, wieder eine heilsame Reaktion eingesetzt, indem ein größerer Wert auf methodisch und kritisch durchgeführte Untersuchungs- reihen gelegt werde. Als neuere Errungenschaften, die über den von Darwin vertretenen Anschauungskreis hinausführen, bezeichnete ich die Forschungen auf dem Gebiete der Zellen- und Zeugungs- lehre, die experimentelle Biologie mit den Richtungen von Mendel, NäGELI, Roux, de Vries u. a. Ich selbst versuchte eine ein- greifende Reform „des biogenetischen Grundgesetzes“ vorzunehmen. Namentlich aber trat ich in vielen meiner Schriften als ein ent- schiedener Gegner des von WEISMANN begründeten und nicht ohne Erfolg gelehrten, an Hypothesen besonders erfindungsreichen Ultra- darwinismus auf. Dagegen fand ich mich in erfreulicher Übereinstimmung mit den Gedankengängen, die der geistreiche Botaniker NÄGELI in dem tief durchdachten Werk: „Die mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre“ (1884) als Zusammenfassung und als kritisches Endergebnis seiner botanischen Studien entwickelt hat. Ich erkenne in ihm den bedeutendsten Versuch, die Lehre vom Werden der Organismen wieder auf gesunde, naturwissenschaftliche Grundlagen iurückzuführen und die unhaltbar gewordene Selektionstheorie durch die Lehre von der direkten Bewirkung zu ersetzen. In seinem Buche liegen zugleich manche fruchtbare Keime für die vorzüg- zchen Untersuchungen der modernen Pflanzenphysiologie, in welchen neue Wege der Forschung beschritten worden sind. Vorwort zur ersten Auflage. VII Schon lange war es mein Plan, für die vielumstrittenen Fragen vom Werden der Organismen, die mich als jungen Studenten unter dem anregenden unmittelbaren Einfluß von Haeckel mit Interesse erfüllten, und mir seitdem bei meinen eigenen Forschungen als Leitstern gedient haben, die mich am meisten befriedigende Antwort zu suchen und mit ihr meine Lebensarbeit zum Abschluß zu bringen. Bin ich doch auf vielen Gebieten der Biologie, auf deren Ergebnissen das Lehrgebäude der Deszendenztheorie aufgeführt worden ist, auf dem Gebiet der Entwicklungslehre der Tiere, der vergleichenden Anatomie, der experimentellen Biologie und auch der Geschichte der biologischen Wissenschaft als Forscher und als Lehrer tätig gewesen. Aber die Ausführung wurde von Jahr zu Jahr hinaus- geschoben. Andere Arbeiten harrten noch der Beendigung, neue drängten sich wieder auf; auch sprachen Beweggründe persönlicher Natur hierbei noch mit. Endlich begann ich Ostern 1913 mit der Niederschrift des ersten Kapitels und konnte ihm die übrigen durch Ausnutzung meiner von Berufstätigkeit frei gebliebenen Zeit rasch nachfolgen lassen. Auch der Ausbruch des großen Völkerkrieges führte keinen längeren Stillstand in meiner Arbeit herbei, sobald ich das seelische Gleichgewicht nach einigen Wochen besorgter Unruhe und er- wartungsvoller Spannung wieder gefunden hatte. Im Gegenteil ge- währte es mir eine Befriedigung, von den aufregenden Ereignissen des Tages einen Ruhepunkt bei dem Studium wissenschaftlicher Fragen zu finden, und ich unterzog mich gern der Mühe, die ein- zelnen Kapitel nach ihrer ersten Aufzeichnung mehrfach durchzu- arbeiten, um meine Gedanken zu einer möglichst klaren und auch für Nichtgelehrte verständlichen Darstellung zu bringen. Denn mein Buch ist nicht nur an die Fachgelehrten gerichtet. Durch unzählige populäre Darstellungen ist das Lehrgebäude, das man als Darwinismus zu bezeichnen pflegt, zum Gemeingut aller Ge- bildeten geworden. Auch an Versuchen hat es nicht gefehlt, das- selbe zum Ausgangspunkt einer neuen Weltanschauung zu machen. Daher hielt ich es für meine Pflicht, durch mein Buch über das Werden der Organismen und über das Gesetz in der Entwicklung, das sich zu Darwins Zufallstheorie in vielen Beziehungen in einem Gegensatz befindet, auch weiteren Kreisen Gelegenheit zu geben, die Forschritte der Wissenschaft kennen zu lernen, die in den letzten 30 Jahren über Darwin hinaus gemacht worden sind. Wie sich unter den Augen der lebenden Generation in wenigen Jahrzehnten mehr Umwandlungen in unserer ganzen Kultur voll- zogen haben, als früher in mehreren Jahrhunderten, so ist auch die VIII Vorwort zur ersten Auflage. Entwicklung der Biologie seit 1859, seit ^er Herausgabe des Werks Über die Entstehung der Arten“ nicht stehengeblieben ; sie hat Fortschritte aufzuweisen und Entdeckungen hervorgebracht, die jetzt eine ganz andere Grundlage für viele allgemeine Fragen geben, als sie den Deszendenztheoretikern von ehedem zur Verfügung standen. Daher wird jetzt auch der Nichtbiologe, je mehr er in die neuen Errungenschaften der Forschung einen Einblick gewinnt, um so eher in die Lage kommen, sich durch Nachdenken ein eigenes Urteil über „Irrtum und Wahrheit im Darwinismus“ und über die Unzulänglichkeit von manchen noch herrschenden und populär ge- wordenen Lehren zu bilden. Ein derartiger Prozeß aber ist un- umgänglich notwendig, da vieles, was in das Laienpublikum als wissenschaftliche Lehrmeinung eingedrungen ist und sich als Dogma dort festgewurzelt hat, ein viel zäheres Dasein zu haben pflegt, als die leichter sich ändernden Anschauungen bei den Vertretern der Wissenschaft selbst. Der Laie pflegt vielfach nur auf die verba magistri zu schwören und läßt sich dabei von allgemeinen Schlagworten leiten, die an Gefühl und Gesinnung appellieren. Erkenntnis und Wissen wird dadurch für ihn leicht zu einer Sache des Glaubens, die gegen alle anderen Meinungen blind und unduldsam macht. Dagegen hat der Naturforscher immer wieder von neuem Gelegenheit, die ihm über- lieferten einseitigen und unvollkommenen Erkenntnisse an den un- verfälschten Tatsachen, welche die Natur ihm als Objekte für eigene Untersuchungen darbietet, zu prüfen, und, wo es not tut, zu berichtigen. Denn wenn auch die Naturgesetze unveränderlich sind, so unter- liegen doch die vom Menschen über sie aufgestellten Ansichten, weil sie nur menschlich einseitige sind, oft vielfachem Wandel im Laufe der Zeiten. Daraus aber folgt, daß in demselben Maße, als sich die Wissenschaft in tiefer eingreifender Weise verändert, dann auch die Arbeit der Aufklärung in weiteren Kreisen immer wieder von neuem einsetzen muß. Obwohl mein Buch in der Kriegszeit erscheint, steht es nach Ur- sprung und Inhalt, wie schon ausgeführt wurde, in keinem noch so entfernten Zusammenhang mit ihr. Man würde irren, sollte man meinen, daß ich mich gerade jetzt gegen Darwins Theorie wende, weil er ein Engländer ist. Wenn ich auch die Selektionstheorie und viele mit ihr verknüpften Ansichten über die beim Werden der Organismen wirkenden Ursachen für irrig halte, so hege ich gleichwohl die größte Hochachtung vor Darwin und Haeckel als bahnbrechenden und erfolgreichen Naturforschern von den viel- seitigsten Verdiensten. Wenn ich diese, wie bei den verschieden- Vorwort zur ersten Auflage. IX sten Gelegenheiten 1)J so auch jetzt offen anerkenne, fühle ich mich dadurch in keinem Widerspruch zu meiner gegenwärtigen, aber schon seit langer Zeit vorbereiteten Stellungsnahme zu den Lehren des Darwinismus. Wenn somit ein Zusammenhang zwischen der Entstehung meines Buches und der Kriegszeit fehlt, so erfüllt es mich doch mit einer gewissen Befriedigung, daß die Veröffentlichung mit diesem Zeit- punkt zusammenfällt. Denn wenn auch Kunst und Wissenschaft, jetzt hinter wichtigeren Erfordernissen des Tages zurückstehen müssen, so halte ich trotzdem den Augenblick der Veröffentlichung für keinen ungeeigneten. Werden doch ohne Frage die Wirkungen dieses schweren Weltkrieges und der durch ihn allen Völkern auf- erlegten Prüfungszeit nicht nur in politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, sondern auch in vielen Fragen der Kultur und Wissen- schaft von Folgen begleitet sein, deren Tragweite sich gar nicht übersehen läßt. Wie mit der französischen Revolution, wird auch von diesem Weltkrieg an vielleicht ein neues Zeitalter in der Ent- wicklung der Völker datiert werden. Eine Umwertung von vielen Werten, die schon zum Teil begonnen hat, wird sich von neuem und in gesteigertem Maße vollziehen. In solcher Zeit wird das schon morsch gewordene Lehrgebäude des Darwinismus den ver- tieften und erweiterten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf allen Gebieten der Biologie nicht widerstehen können. Von dieser Überzeugung durchdrungen, gebe ich dem lange geplanten, doch erst spät vollendeten Buch den Wunsch mit auf den Weg, daß es einen im Sturme der Zeit empfänglich gewordenen Boden für seine Aufnahme finden und zu seinem bescheidenen Teil mit beitragen möge, die Stellung der Biologie zu allgemeineren Fragen der Weltanschauung und der Naturwissenschaft in ein richtigeres Verhältnis zu setzen, als es durch die Selektions- und Zu- fallstheorie, durch die unbegründeten Abstammungshypothesen, ferner durch die einseitig mechanistische Forschungsrichtung und durch die auf ihrem Boden erwachsene Literatur geschaffen worden ist. Mein Vorwort schließe ich mit dem Ausdruck besonderen Dankes an den Herrn Verleger, der, obwohl selbst durch seine Einberufung zum Heer an der Leitung seines Verlages verhindert, nicht gezögert hat, auch unter den erschwerten Verhältnissen des Krieges die Heraus- gabe eines größeren wissenschaftlichen Werks zu übernehmen. 1) Hertwig , Oscar , Darwins Einfluß auf die deutsche Biologie. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 1909, S. 953 — 958. Grunewald-Berlin, Januar 1916. Oscar Hertwig. Vorwort zur zweiten Auflage. Mein Buch vom „Werden der Organismen“ hat in Zeitschriften und in der Tagespresse fast durchweg eine freundliche Aufnahme und Worte der Anerkennung erfahren. Obwohl es nur wissen- schaftliche Fragen in gemeinverständlicher Form behandelt und keine Verbreitung in den feindlichen Kulturländern während des Weltkriegs hat finden können, ist es doch in kaum 2 Jahren ver- griffen worden. Dies würde noch vor kurzer Zeit, als der Glaube an die Allmacht von Darwins Selektionstheorie fester begründet war, wohl selbst im Frieden kaum möglich gewesen sein. Daher erblicke ich in dieser Tatsache ein verheißungsvolles Zeichen für den Anbruch einer neuen Zeit des Fortschritts, die nicht mehr unter dem Bann einer vorgefaßten, der wissenschaftlichen Beweise ent- behrenden Lehrmeinung steht. Indessen hat es auch nicht an vereinzelten Kritikern gefehlt, die bei der Besprechung rein biologischer Probleme religiöse und politische Parteistandpunkte mitsprechen lassen, und für die, wie schon in meinem Buch vom Werden der Organismen gelegentlich bemerkt wurde (S. 638, 688), „als Reaktionär gilt, wer den unter dem Sammelnamen des Darwinismus vereinten Lehren nicht Beifall zollt“. Als ein Typus dieser Art hat jetzt wieder der Wiener Pro- fessor Kämmerer in der Zeitung „Der Morgen“ (Wien, 8. April 1918) das Wort ergriffen und an die Spitze seiner Kritik, um Stimmung gegen mich zu machen, gleich den Vorwurf erhoben, daß die dunkeln Mächte der Reaktion durch mich eine ihnen er- wünschte Förderung erfahren. Es fällt ihm auf, mit welcher Be- geisterung sogar klerikale Zeitungen das „Werden der Organismen“ begrüßen. Und gleichsam erläuternd fügt er hinzu: „Wer — und sei es auch nur mißverständlich — den Kampf gegen den Ent- wicklungsgedanken aufs Titelblatt schreibt, kann des Beifalls ent- wicklungsfeindlicher Kräfte sicher sein. Man denke: eine erste Autorität der Lebensforschung verwirft den Darwinismus: sollen da die Mächte des Rückschritts nicht jubeln?“ Vorwort zur zweiten Auflage. XI Hierzu sei zweierlei bemerkt : Bei der Ermittlung naturwissen- schaftlicher Wahrheiten halte ich an dem Grundsatz fest, daß der Forscher sich allein durch wissenschaftliche Gründe leiten lassen darf, unbeirrt vom Beifall oder Tadel dieser oder jener durch augen- blickliche Zeitströmungen getragenen Parteien. Damit richtet sich von selbst schon der Versuch Kämmerers, das Urteil der Leser gleichsam durch das Schreckgespenst beeinflussen zu wollen, daß mein Buch wegen seiner Stellung zum Darwinismus eine klerikale Reaktion heraufzubeschwören drohe. Mit ernsteren Worten habe ich dagegen ein Verfahren von Kämmerer derb zurückzuweisen, durch welches er eine ganz falsche Vorstellung von dem Inhalt meines Werks bei unkundigen oder oberflächlichen Leserkreisen zu erwecken sucht. Was veranlaßt ihn zur Unterstellung, daß ich des Beifalls entwicklungsfeindlicher Kräfte sicher sein könne, weil ich — und sei es nur mißverständ- lich — den Kampf gegen den Entwicklungsgedanken aufs Titelblatt geschrieben habe? Meine Worte zur Ergänzung des Haupttitels lauten doch: Eine Widerlegung von Darwins Zufalls- theorie. Ist das nicht etwas absolut anderes, als ein Kampf gegen den Entwicklungsgedanken? Bleibt der Entwicklungsgedanke überhaupt nicht ganz unberührt von meiner Kritik der Lehren Darwins, vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Zuchtwahl, von der Rolle, welche der Zufall bei dem Zustandekommen des Zweckmäßigen in der Entwicklung spielen soll? Habe ich nicht selbst den Ausspruch Huxleys „If the Darwinian hypothesis was swept away, evolution would still stand, where it was“ öfters zitiert und als zutreffend bezeichnet? Beim Lesen meiner Schriften, fbe- sonders aber des Buches „vom Werden der Organismen“ wird nie auch nur der leiseste Zweifel aufkommen können, daß ich nicht fest auf dem Boden der Entwicklungslehre stehe und nicht die Theorie von der natürlichen Entstehung der Organismenwelt ver- trete, wenn ich auch die von Darwin gegebene Erklärung der- selben nicht teile. Zur Begründung seiner Kritik weist Kämmerer darauf hin, daß man, am unversöhnlichen Gegensatz zum Schöpfungsglauben festhaltend, „unter Darwinismus — zumal in Laienkreisen — die ganze Abstammungslehre zu verstehen pflege“. Er stellt hiermit eine irrige Behauptung auf, indem er dem Darwinismus, das heißt der von Darwin ausgehenden Lehre, einen weit umfangreicheren Inhalt gibt, als vor dem Urteilsspruch der Geschichte zu recht- fertigen ist. Denn schon jahrhundertelang vor Darwin haben XII Vorwort zur zweiten Auflage. wohldurchdachte, „im Gegensatz zum Schöpfungsglauben“ gefaßte Theorien über eine natürliche Entwicklung der Organismen be- standen und Beifall in der Wissenschaft gefunden. Es sei nur an die Namen von K. F. Wolff, Buffon, Lamarck, G. S. Hilaire, an die deutschen Naturphilosophen Oken, Kielmeyer, Meckel, an Goethe, an C. E. von Baer und andere erinnert. Haeckel selbst, gewiß ein unbedingter und begeisterter Anhänger Darwins, hat darüber von Anfang an, schon bei der Niederschrift der gene- rellen Morphologie (1866) und später in den verschiedenen Auflagen der „natürlichen Schöpfungsgeschichte“ keinen Zweifel gelassen. „Wenn heutzutage“, bemerkt er (N. Sch., 9. Auf!., 1898, S. 133) , häufig die gesamte Entwicklungslehre als Darwinismus bezeichnet wird , so geschieht dies eigentlich nicht mit Recht. Denn wie Sie aus der geschichtlichen Einleitung der letzten Vor- träge gesehen haben werden, ist schon zu Anfang unseres Jahr- hunderts der wichtigste Teil der organischen Entwicklungstheorie, nämlich die Abstammungslehre oder Deszendenztheorie, ganz deut- lich ausgesprochen und insbesondere durch Lamarck in die Natur- wissenschaft eingeführt worden. Man könnte daher diesen Teil der Entwicklungstheorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller Tier- und Pflanzenarten von einfachsten gemeinsamen Stamm- formen [behauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorragenden Naturforschers das Ver- dienst knüpfen will, eine solche Grundlehre zuerst durchgeführt zu haben. Dagegen würden wir mit Recht als Darwinismus die Selektionstheorie oder Züchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Teil der Entwicklungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verschiedenen Organismen- arten aus jenen einfachsten Stammformen sich entwickelt haben.“ In diesem Punkt sind also Haeckel und ich, wie überhaupt jeder geschichtskundige Forscher, der gleichen Ansicht. Unge- schmälert soll hierbei das Verdienst von Darwin bleiben, daß er durch seine Selektionstheorie dem Entwicklungsgedanken auf dem Gebiet der Biologie einen neuen, mächtigen Anstoß gegeben und zum Gemeingut der weitesten Kreise gemacht hat. Somit fällt der von Kämmerer rein aus der Luft gegriffene Vorwurf, daß ich „zu den falschen Auslegungen Anlaß oder Vor- wand gebe“, vollständig in sich zusammen. Falsch ist endlich die Behauptung Kämmerers, daß „ich an hundert (!) Stellen Darwin und seine Lehre entgelten lasse, Vorwort zur zweiten Auflage. XIII was verirrte Nachbeter verschulden“. Und ebenso falsch ist seine weitere Bemerkung: „Legt man, wie Hertwig es unablässig tut, die einseitigsten Fortbildungen des Darwinismus Darwin selber zur Last, so kommt es darauf hinaus, als würde man etwa um des Futurismus willen die ganze neuzeitliche Malerei verdammen.“ Mit diesem Angriff wendet sich Kämmerer hauptsächlich gegen meine zweite, zur Ergänzung „des Werdens“ 1918 veröffentlichte kleine Schrift: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus 1). Hier habe ich aber ganz klar und bestimmt in der Einleitung ausgesprochen, daß ich unter der Bezeichnung „Dar- winismus“ nicht allein die eigentliche Lehre Darwins, sondern auch, wie es allgemein üblich ist, die ganze geistige Bewegung verstehe, die von Darwin ausgeht und seine Lehre als ein fest- stehendes allgemeines Naturgesetz bewertet und sie durch Über- tragung auf menschliche Verhältnisse als Grundlage zum Aufbau einer neuen Weltanschauung benutzt. Ich verweise nur auf folgende Stellen meiner zweiten Schrift. Auf Seite 2 bezeichne ich als ihr Programm: „Es gilt zu zeigen, wie bald hier, bald dort versucht worden ist, durch Darwins Lehren, die ursprünglich nur rein biologische sind, jetzt auch die verschiedensten Ge- biete des menschlichen Lebens zu reformieren und zu revolutio- nieren.“ Ausdrücklich hebe ich auf Seite 3 hervor, daß „Darwin zu keiner Zeit seines Lebens ebensowenig wie Wallace, der Mit- begründer der Selektionstheorie, geneigt gewesen ist, eine Anwen- dung seiner Naturgesetze auf die Entwicklung der Menschheit predigen zu wollen.“ In nicht mißzu verstehender Weise erkläre ich an mehreren Stellen: 1. „Darwin hat es vermieden, die zahlreichen, alle menschlichen Verhältnisse berührenden Schlußfolgerungen zu ziehen, die als Keime in seiner Selektionstheorie bis zu einem gewissen Grade enthalten sind.“ 2. „Einen wesentlich anderen Charakter erhielt die als Darwinismus bezeichnete wissenschaftliche Bewegung erst durch Darwins Anhänger, unter denen Haeckel, Weismann und Galton früh zu großem Einfluß gelangten und auf verschiedenen Wegen sich am Ausbau und an der Vollendung der neuen Lehre beteiligten“ (S. 4). 3. „Die aus dem Darwinismus geborenen Reformideen betreffen namentlich drei eng miteinander verknüpfte Gebiete der menschlichen Kultur, auf denen schwere Schäden in der Gegenwart aufgedeckt und zu deren Heilung neue Entwicklungsziele der Mensch- heit gesteckt werden. Es handelt sich teils um ethische, teils um soziale, teils um politische Fragen, die auf der Grundlage der Lehren Darwins neu beantwortet und geordnet werden sollen. Insofern können wir bei unserer Darstellung zweckmäßiger- 1) Jena, Gustav Fischers Verlag, 1918. XIV Vorwort zur zweiten Auflage. weise auch von einem ethischen, einem sozialen und einem politischen Darwinismus sprechen“ (S. 7). Muß nicht angesichts dieser Erklärungen die oben zitierte Be- hauptung Kämmerers als geradezu unbegreiflich bezeichnet werden, weil sie rein aus der Luft gegriffen ist? Mit Kopfschütteln wird der kundige Forscher auch in der näheren Ausführung des gegen mich gerichteten Ausfalls weiter lesen : „In seiner Abwehr hat Hertwig mit den ärgsten Scharf- machern, geradezu Raubrittern des Darwinismus zu tun, wie man sie nennen möchte, weil sie das schrankenlose Faustrecht des Lebens fordern. Blasphemisch ist es, wenn Hertwig ihnen unausgesetzt den Ehrentitel „Darwinisten“ zubilligt; denn strenggenommen ver- drehen Ammon, Haykraft, Ploetz, Schallmayer, Tille u. a. den echten Darwinismus in sein Gegenteil; sie bieten Darwinismus in plan bewußt reaktionärer Verarbeitung, geben Rückentwicklung für Fortschritt aus und wären daher als „Antidarwinisten“ immer noch zutreffender gekennzeichnet. Was Hertwig gegen solche Wegelagerer eines gefälschten Darwinismus vorbringt, kann nur begeisterte Zustimmung erfahren.“ Obwohl in diesen Worten der Wiener Kritiker meine Schrift „zur Abwehr“ im Prinzip zu billigen scheint, kann ich trotzdem seinem wegwerfenden, harten Urteil über die Männer, deren Lehren ich angegriffen und abgewehrt habe, durchaus nicht beipflichten. Es sind anerkannte Schriftsteller, deren Anschauungen von vielen Seiten geteilt werden. Ähnliche Gedankengänge wie die von ihnen vorgetragenen habe ich seit 50 Jahren in Privatgesprächen von so vielen Anhängern Darwins, wenn auch in weniger extravaganter Weise, aussprechen hören, daß ich der Überzeugung bin, daß sie der Ausdruck einer vorherrschenden Meinung sind. Schallmayer erhielt für sein in zwei Auflagen erschienenes großes Werk, das infolge eines Preisausschreibens unter der Ägide von Conrad Fraas und Haeckel entstanden ist, den ersten Preis unter 60 Be- arbeitungen zuerkannt, und zwar von so angesehenen Preisrichtern wie dem Nationalökonomen Conrad, dem Historiker Dietr. Schäfer und dem Zoologen Ziegler. Ploetz ist der Herausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Haykraft ist ein bekannter Professor der Physiologie an der Universität Edin- burgh, usw. Wenn ich auch die Bemühungen dieser Männer, aus den Lehren Darwins die Nutzanwendung auf die menschliche Ge- sellschaft zu ziehen, für verfehlt, zuweilen auch für tadelnswert halte, o zweifle ich doch keinen Augenblick, daß sie ihre Behauptungen Vorwort zur zweiten Auflage. XV in der vollen Überzeugung von ihrer Richtigkeit und in der besten Absicht aufgestellt haben, und daß sie wirklich glauben, nur auf dem von ihnen vorgezeichneten Weg werde sich die Menschheit vervollkommnen und zu höheren Zielen weiter entwickeln können. In solchen nach bestem Glauben und Gewissen und nicht ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse handelnden Schriftstellern kann ich nimmermehr, auch wenn ich ihre Ansichten verurteile, „Raub- ritter oder Wegelagerer eines gefälschten Darwinismus“ erblicken. Sie sind vielmehr in meinen Augen teils Opfer, teils Fanatiker einer zeitweilig überschätzten Lehre geworden. Übrigens mögen die Anhänger Darwins selber sehen, wie sie sich in dem von Kämmerer angeregten Streit darüber einigen, wer von ihnen jetzt noch als echter Darwinist und wer als Anti- darwinist gelten soll. Ich glaube nicht, daß sie untereinander bei den bestehenden verschiedenen Auffassungen in wichtigen Fragen zu einer Einigung kommen werden. Noch manche andere Punkte in Kämmerers Kritik wären als unberechtigt zurückzuweisen, doch ich glaube mich mit ihr schon allzu lange beschäftigt zu haben. Nachdem ich es jahrzehntelang hinausgeschoben habe, meine abweichenden Ansichten über die Lehren des Darwinismus im Zu- sammenhang zu veröffentlichen , erfüllt es mich mit hoher Be- friedigung, daß ich mein Buch „vom Werden der Organismen“ und meine zur notwendigen Ergänzung hinzugefügte Schrift „zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“ mitten im größten und schwersten Krieg um Deutschlands Bestand und Zukunft habe vollenden können. Ich betrachte beide Schriften als ein Vermächtnis, welches ich dem schwergeprüften, hart an- gegriffenen und in der Welt jetzt viel verleumdeten deutschen Volk hinterlasse, und ich hoffe, daß sie ihm Anlaß zu ernstem Nach- denken und zur sittlichen Einkehr bieten werden. Dann wird ihm, dem von Natur aus friedfertigen, arbeitsamen und zugleich auch heldenhaften Volk eine harmonischere Weltanschauung für seine weitere Entwicklung erblühen, als sie ihm die als ein fremdartiges Gewächs überlieferte Theorie von der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein dargeboten hat, eine Theorie, welche der geist- reiche Fechner nicht mit Unrecht als „die Nachtansicht vom Leben“ bezeichnet hat. Grunewald-Berlin, Juni 1918. Oscar Hertwig. Inhalt Seite Erstes Kapitel. Die älteren Z eugungs th eorien i 1. Die Theorie der Präformation oder Evolution 3 2. Die Theorie der Panspermie 9 3. Die Theorie der Epigenesis . 12 Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien 16 Zweites Kapitel. Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und mechanistischen Lehre vom Leben 19 a) Bemerkungen zur vitalistischen Richtung in der Biologie 19 b) Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie 22 c) Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik 24 Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis 46 Drittes Kapitel. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen 52 Einleitung 52 1. Die Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen 58 2. Die Organisation der Keimzellen auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes 69 3. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der durch Mendel begründeten experimentellen Forschungsrichtung 72 1. Die Monohybriden 80 2. Die Dihybriden 87 3. Die Polyhybriden 91 4. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der mikroskopischen Erforschung des Befruchtungsprozesses, sowie der Ovo- und Spermiogenese 96 a) Der Befruchtungsprozeß 96 b) Die Kernidioplasmatheorie 102 Beweise für die Kernidioplasmatheorie 103 1. Erster Beweis: die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Erbmasse 104 2. Zweiter Beweis: die gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erbmasse auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen . . 106 3. Dritter Beweis: die Verhütung der Summierung der Erbmassen in der Reihe der Generationen durch den Reduktionsprozeß bei der Ei- und Samenreife 107 4. Weitere Beweise 117 c) Zusammenfassung 120 Inhalt. XVII Seite Viertes Kapitel. Die allgemeinen Prinzipien, nach denen aus den Artzellen die vielzelligen Organismen entstehen 122 1. Das Prinzip der Zellenvermehrung und der durch Potenzierung bewirkten Mannigfaltigkeit 122 a) Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere . 123 b) Die Teilung der Artzelle, die zur Entstehung eines vielzelligen Repräsen- tanten der Art dient 126 2. Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung 139 3. Das Prinzip der physiologischen Integration 148 4. Das Prinzip der Korrelation oder Koadaptation 16 1 a) Die Korrelation im ausgebildeten Organismus 161 b) Die Korrelation im Entwicklungsprozeß . . 167 5. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben und Organen 1 7 1 Fünftes Kapitel. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes 179 Die Stufenfolge in der Entwicklung. — Der Parallelismus zwischen ontogenetischer und vergleichend-anatomischer Forschung 179 1. Metamoiphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere 180 2. Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen durch die Rekapitulationstheorie von Meckel und durch Haeckels biogenetisches Grundgesetz' 189 3. Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes 192 a) Begründung der Ansicht, daß ontogenetische Einrichtungen Rückschlüsse auf hypothetische Stadien der Phylogenese gestatten 195 Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse . . 195 Die Metamorphosenreihe von Sacculina als 'Zeugnis für ihre Phylogenese 201 Die Bedeutung der rudimentären Organe für phylogenetische Schlußfolgerungen 205 b) Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz in seiner alten Fassung 209 1. Innere ontogenetische Anpassung 221 2. Interpolation larvaler Organe, die auf ontogenetischer Anpassung an äußere Bedingungen beruht 222 3. Die Heterochronie in der Anlage der Organe 224 Sechstes Kapitel. DieErhaltung des Lebensprozesses du r ch di e Genera t ionsfolge 228 1. Die Stammtafel 229 2. Die Ahnentafel 236 3. Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk . . . 242 4. Das Problem des Ahnenplasma 247 5. Unwissenschaftliche Verwendung des Begriffs Stammbaum 251 6. Tod und Verjüngung 253 Siebentes Kapitel. DasSystemderOrganismen 203 Der Speziesbegriff 263 Trennung der LiNNEschen Arten in kleinere Gruppen zusammengehöriger Formen 280 1. Die elementaren Arten 281 XVIII Inhalt. Seite 2. Die Varietäten, Unterarten oder MENDELschen Arten 284 3. Die reinen Linien (Biotypen) 286 Achtes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten 294 Ihre Variabilität und ihre Mutabilität 294 I. Die Variabilität im Organismenreich. Die Varianten oder Modifikationen einer Pflanzen- und Tierart 296 1. Die Geschlechts Varianten , ■ 297 a) Experimentelle Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren . 299 b) Die sogenannten ,, Geschlechtschromosomen“ 303 2. Die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Polymorphismus im Tierreich 306 3. Die Standorts-, die Kultur- und Umschlagsvarianten im Pflanzenreich . . 309 4. Die fluktuierenden Varianten 315 5. Die monströsen Varianten 335 Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Pflanzenreich 336 Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Tierreich 340 Neuntes Kapitel. . Die Frage nach der Konstanz der Arten 347 II. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten 347 1. Erste Gruppe. Die Kombinationen 348 Die Mutation der Artzelle durch Verbindung zweier artverschiedener Idio- plasmen 348 2. Zweite Gruppe. Mutation der Artzelle durch Veränderung der Chromo- somenzahl 353 3. Dritte Gruppe. Die Mutation der Artzelle durch direkte Veränderung ihres Idioplasma 355 a) Mutation der Artzelle im Protistenreich 357 b) Mutation der Artzelle im Pflanzenreich 358 Mutation von Chrysanthemum segetum 359 Mutation von Linaria vulgaris 362 Weniger genau studierte Mutationen im Pflanzenreich 365 c) Sprunghafte Mutation der Artzelle im Tierreich * 367 Mutation von Leptinotarsa . . . . 367 Mutation von Schmetterlingen 370 Zehntes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur . . . 373 Erster Abschnitt : Das Maß der Empfindlichkeit, mit der die Organismen auf äußere Faktoren reagieren 375 Zweiter Abschnitt: Die Anpassungen der Organismen an die leblose Natur . 380 a) Anpassungen im Pflanzenreich 380 b) Anpassungen im Tierreich 391 Der morphologische Grundplan für die tierische Ernährung 391 1. Die Atmungsorgane . • • 397 2. Das Nervensystem 410 3. Die Sehorgane 418 4. Die Werkzeuge zur Fortbewegung 435 Inhalt. XIX Seite Elftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur . . 451 Dritter Abschnitt: Anpassungen der Organismen aneinander 451 a) Anpassungen zwischen Pflanzenarten 451 b) Anpassungen zwischen Pflanzen und Tieren 456 1. Die Anpassung der insektenfressenden Pflanzen 456 2. Die Anpassung der Mundwerkzeuge der Insekten an die Art des Nahrungs- erwerbs 461 3. Die Anpassung der Blüten der Phanerogamen an den Insektenbesuch . 466 c) Anpassungen zwischen zwei Tieren gleicher oder verschiedener Art . . . 470 1. Die Tierstöcke und Tierstaaten 471 2. Die Anpassungen zwischen beiden Geschlechtern und zwischen Mutter und Frucht 477 Zwölftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur . . . 482 Vierter Abschnitt: Der Kreislauf des Lebens und der Einfluß der Umwelt auf die Verbreitungs- und Lebensweise der Organismen 482 1. Die Ergebnisse der Pflanzen und Tiergeographie 487 2. Die Lehre von der Mimicry und ihre Beurteilung 492 3. Über die Bedeutung der vom Menschen ausgeübten Selektion im Haushalt der Natur 508 Dreizehntes Kapitel. Das Problem der Vererbung 512 1. Was hat man unter dem Begriff der Vererbung erworbener Eigenschaften zu verstehen? 513 2. Auf welchem Wege können neue Arteigenschaften erworben und als Anlagen vererbt werden? 514 I. Die Hypothesen der Pangenesis von Darwin und des Keimplasma von Weismann 515 II. Kritik und Ersatz der Keimchen- und Determinantenhypothesen . . . 523 I. Einwand. Die Methode von Darwin und Weismann 523 II. Einwand. Die von der Hypothese verlangte übergroße Zahl der Keim- chen und Determinanten usw. führt zu physikalisch unmöglichen Vor- stellungen 525 III. Einwand. Logische Unhaltbarkeit des von Darwin und Weis- mann formulierten Begriffs der erblichen Anlage 531 IV. Einwand gegen Darwins und Weismanns Transporthypothesen . 537 V. Einwand gegen die künstlichen Gegensätze , in welche Weismann Keimzellen und „Soma“ gebracht hat 540 Vierzehntes Kapitel. III. Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. . . . 544 Der Erwerb von neuen Anlagen 567 Fünfzehntes Kapitel. Die Geschichte der Deszendenztheorien. Lamarckismus und Darwinismus 580 1. Die Lehre von Lamarck 583 XX Inhalt. Seite Widerlegung der Einwände gegen die Theorie der direkten Bewirkung . 587 2. Die Lehre von Charles Darwin 592 3. Die Nachfolger und Anhänger Darwins, E. Haeckel und A. Weismann . 601 Sechzehntes Kapitel. Kritik der Selektions- und Zufalls theorie 605 A. Kritik der Selektionstheorie in ihrer Anwendung auf die domestizierten Rassen 610 1. Die beiden experimentell festgestellten Wege, auf denen abgeänderte Organismen entstehen 613 a) Die Kombination zweier Idioplasmen 613 b) Durch Mutation des Idioplasma entstehende, abgeänderte Organismen . 616 2. Auswahl und Sortierung von Varianten 618 3. Zusammenfassung der Kritik 621 4. Der logische Irrtum in der Begründung der Lehre von der künstlichen Zuchtwahl ...• 622 B. Kritik der natürlichen Zuchtwahl (natural selection) 627 1 . Gruppe der Einwände : betreffend den Selektionswert kleiner Organisation - vorteile 632 2. Einwand : der fehlende Selektionswert vieler morphologischer Merkmale . 638 3. Gruppe von Einwänden: Allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht durch Selektion von zufälligen Organisationsvorteilen erklären lassen . . 640 4. Einwand, welcher der Genealogie der Organismen entnommen ist . . . 644 5. Gruppe von Einwänden: Die Stellung der Selektionstheorie zum Zweck- begriff 652 C. Kritik der Intraselektion oder des Kampfs der Teile im Organismus . . . 658 D. Ein letztes, wenn auch mehr untergeordnetes Argument 663 Siebzehntes Kapitel. Zusammenfassung • 666 Nachwort zur ersten bis dritten Auflage 678 Register 680 Erstes Kapitel. Die älteren Zeugungstheorien. Indem man die Lebewesen Organismen nennt, bezeichnet man mit richtigem Gefühl das hauptsächlichste Merkmal, durch welches Pflanzen und Tiere sich von den Objekten der leblosen Welt unter- scheiden. Ihre Organisation ist etwas so Eigentümliches und von allem, was uns Physik und Chemie vom Bau der leblosen Körper lehren, so sehr Verschiedenes, daß sie von diesen auch heute noch trotz der weit fortgeschrittenen Erkenntnis der Naturwissenschaften durch eine tiefe Kluft getrennt sind. Wie die eigentümliche Wirkungsweise und Arbeitsleistung der Maschinen durch ihre Zusammensetzung aus verschiedenartigen an- einandergepaßten und für besondere Arbeitszwecke konstruierten Maschinenteilen bestimmt wird, so hängt auch mit der spezifischen Organisation der verschiedenen Pflanzen und Tiere die Summe ihrer zahlreichen, gleichfalls spezifisch unterscheidbaren Funktionen zu- sammen. Spezifische Organisation und spezifische Wirkungsweise bedingen sich gegenseitig. Die eine ist ohne die andere nicht möglich. Ihr Studium bezeichnet daher die beiden Wege, auf denen der Naturforscher als Morphologe oder als Physiologe in die Er- kenntnis der Organismenwelt tiefer eindringt. Von beiden Wegen ist wohl ohne Frage der morphologische der leichter gangbare. Die Erforschung der Organisation der Lebe- wesen, ihres Aufbaues aus Organen, aus Zellen und noch feineren Strukturteilen ist im allgemeinen leichter auszuführen, als der Ein- blick in ihre Wirkungsweisen. Auch lehrt die Geschichte der Biologie, daß größere Fortschritte auf dem Gebiete der Physiologie durch große Entdeckungen auf dem Gebiete der Morphologie ein- geleitet, vorbereitet und oft erst ermöglicht worden sind. Am Aus- gang des Mittelalters wurde eine neue Epoche durch die großen Meister der Anatomie, durch Vesal (1534), Eustachius und Fallopius eröffnet. Und wieder hat in der Mitte des 19. Jahr- hunderts die normale und pathologische Physiologie durch die Be- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. I 2 Erstes Kapitel. gründung der Zellentheorie, wie einst Johannes Müller treffend bemerkt hat, ein neues wissenschaftliches Fundament erhalten. Denn erst von da an wurde es möglich, die Funktionen der lebenden Körper noch genauer als vordem zu lokalisieren und auf die Tätig- keit spezifischer Zellen, der Drüsen-, der Muskel-, der Ganglien-, der Sinnes-, der Keimzellen usw. zurückzuführen. Auch was wir von der Physiologie der Zeugung und Entwicklung wissen, beruht zurzeit vorwiegend auf morphologischen Entdeckungen. Das Verhältnis zwischen Morphologie und Physiologie ist ein ähnliches wie zwischen den chemischen und physikalischen Grund- wissenschaften. Die Chemie nimmt in vielen Beziehungen, in ihren Aufgaben und Methoden eine ähnliche Stellung wie die Morphologie der Organismen ein. Sie bringt die Natur der unorganischen und organischen leblosen Stoffe unserem wissenschaftlichen Verständnis näher, indem sie ebenfalls einen feineren Bau derselben durch Zer- legung in ihre Elemente nach weist oder, wie man gewöhnlich sagt, ihre Elementarstruktur durch Analyse feststellt. Auf Grund der- selben ordnet sie ebenfalls alle uns umgebenden Stoffe und solche, die sie mit ihren Methoden selbst erst schafft, in ein übersichtliches, natürliches System ein. Wenn die Chemie einen höheren Grad von Exaktheit als die Morphologie in ihren Ermittlungen erreicht hat, so liegt dies haupt- sächlich an den viel einfacheren Verhältnissen, mit deren Studium sie sich beschäftigt; infolgedessen kann sie bei ihren Analysen wägen und messen, sie kann feste, mathematisch ausdrückbare Zahlen- verhältnisse zwischen den in einer Verbindung enthaltenen chemischen Elementen ermitteln und sie in leicht faßlichen Strukturformeln zum Ausdruck bringen. Einen noch viel größeren Vorsprung gegen- über der Morphologie zeigt sie endlich darin, daß sie mit der Analyse sogar die Synthese verbinden kann. Den in seine Elemente zerlegten Stoff kann sie auch wieder aus den Elementen aufbauen und so die verschiedenartigen und oft komplizierten Wege nachmachen, auf denen in der Natur zusammengesetzte Substanzen aus ein- facheren entstehen können. Für den Morphologen der Gegenwart aber würde ein derartiges Ziel seiner Wissenschaft in Anbetracht der noch kaum zu übersehenden Komplikation der lebenden Or- ganisationen in nebelhafter Ferne schweben. — Wie die Chemie als analytische Wissenschaft viele Berührungs- punkte in ihren Aufgaben und Methoden mit der Morphologie dar- bietet, so auch die physikalische Chemie mit der Physiologie. Der Chemophysiker baut mit seinen Fragestellungen auf dem von der Die älteren Zeugungstheorien. 0 analytischen Chemie vorbereiteten Boden weiter. Um die Eigen- schaften und Kräfte der Körper und ihres Verhaltens zu den sie auf- bauenden Elementarteilen physikalisch näher erforschen zu können, müssen die Arbeiten des Chemikers zuvor die Grundlagen geschaffen haben: die Erkenntnis der Zusammensetzung aus Atomen und der Einblick in ihre Anordnung durch Aufstellung der Strukturformeln muß vorausgegangen sein. — Ebenso hat die physiologische For- schung die anatomische Erkenntnis der Organe und Gewebe zu ihrer Voraussetzung; sie kann sich um so mehr vertiefen und schwierigere Fragen aufwerfen, wie z. B. in der Physiologie des Hirns und der Retina, je besser die materielle Grundlage, an welche bestimmte physiologische Leistungen gebunden sind, erforscht ist, nämlich der Aufbau der grauen Hirnrinde mit ihren Leitungsbahnen, die Schich- tung der Retina mit ihren Stäbchen und Zapfen. Auch die Frage, die uns in den vorliegenden Aufsätzen beschäf- tigen wird : wie sind die Organismen auf natürlichem Wege entstanden, gewinnt eine viel schärfere Fassung, wenn wir sie in die Frage umwandeln : wie ist die Organisation der Lebewesen entstanden ? Um aber hierüber etwas aussagen zu können, ist es klar, daß wir zuvor einen Einblick in die Organisation, deren Entstehung wir er- gründen wollen, besitzen müssen. Die Morphologie muß der Morpho- genesis vorausgegangen sein. Die Geschichte der Morphologie ist hierfür sehr lehrreich. Denn auch in früheren Zeiten hat die Präge nach der Entstehung der Orga- nismen die Naturforscher viel beschäftigt. An den sehr verschiedenen Llypothesen, die hierüber auf gestellt wurden, läßt sich deutlich zeigen, wie sich in ihnen der Stand der morphologischen Kenntnisse ihrer Urheber spiegelt. Ihre Geschichte ist daher ein interessantes Ka- pitel, das sich zur Einführung in unser Thema vorzüglich eignet. Unter den älteren Zeugungstheorien sind drei von größerer wissenschaftlicher Bedeutung gewesen und noch jetzt der Beachtung wert: i) die Theorie der Präformation oder Evolution, 2) die Theorie der Pan spermie und 3) die Theorie der Epigenese. 1. Die Theorie der Präformation oder Evolution1). In früheren Jahrhunderten war die Urzeugung von Organismen aus dem Schoß der leblosen Natur eine weit verbreitete Lehre. Im 1) Hertwig, Oscar , Die Entwicklungslehre im 16. bis 18. und im 19. Jahr- hundert. Einleitung zum Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwick- lungslehre der Wirbeltiere, Jena 1906. (Das erste Kapitel dieser Schrift ist eine kurz- gefaßte und teilweise veränderte Wiedergabe meiner Darstellung vom Jahre 1906.) — Swammerdam, Biblia naturae, sive historia inseclorum in certas classes reducta 4 Erstes Kapitel. Altertum und Mittelalter empfanden viele Forscher kein Bedenken bei der Annahme, daß selbst höhere Organismen aus dem Schlamm der Gewässer oder aus faulenden Substanzen : Frösche aus Sümpfen. Fliegen und Milben aus faulem Fleisch und Käse ihren Ursprung nehmen. Man war gern geneigt, besondere schöpferische Kräfte zur Erzeugung von Lebewesen, einen Nisus formativus, der Natura creatrix zuzuschreiben. Je weniger man sich vom Wesen einer solchen Kraft eine Vorstellung machen konnte, um so schwerer war der Glaube an eine Generatio aequivoca auszurotten. Wenn er in einem Fall, wie bei der Entstehung der Fliegenmaden, durch Entdeckung der Eier und durch einfache Experimente von dem Italiener Redi widerlegt worden war, so tauchte er bald wieder an anderer Stelle auf. Daß Infusorien sich aus Infusen organischer Substanzen durch Urzeugung bilden, galt lange Zeit als sicher aus- gemacht; die einfachen und richtigen Experimente von Spallanzani konnten viele Forscher (Oken) in ihrem Irrtum nicht wankend machen. Über die Urzeugung von Bakterien aus organischen Flüssigkeiten hat man noch bis in die jüngste Zeit heftig gestritten ; Avurde doch erst durch Pasteur und R. Koch das Gegenteil mit Hilfe des Experiments in überzeugender Weise dargetan. Augen- blicklich ist dadurch die Frage der Generatio aequivoca zu einem Stillstand gekommen und hat für die Naturforscher ihre Anziehungs- kraft verloren. Gegenüber den abenteuerlichen, auf schlechter Beobachtung ba- sierten Ideen, daß Organismen wie Bakterien, Infusorien, Würmer, Insekten, Frösche etc. sich durch Urzeugung bilden sollten, muß das Dogma der Präformation, welches mehrere Jahrhunderte die Wissenschaft beherrscht hat, als ein großer Fortschritt bezeichnet werden. Nach der Vorstellung der Evolutionisten sind die Keime der Organismen nichts anders als diese selbst, nur in außerordent- lich verkleinertem Zustand. In diesem Sinne bezeichn ete Spallanzani in seiner Untersuchung über die Froschentwicklung das befruchtete Ei selbst schon als kleines Fröschchen. Für ihn handelte es sich hierbei nicht um eine Hypothese, sondern um eine einfache Tat- sache, da ja nachweislich der Frosch aus der Kaulquappe und diese Leiden 1737 — 38 In deutscher Ausgabe: Bibel der Natur. Nebst Swammerdams Leben ■van Bnerhave, 1752. — Leeawenhoek , Philosopliical Transactions, 1677. — Male- branche, De la recherche de la verite 1+ edit. Amsterdam, 1688. — Spallanzani , Versuche über die Erzeugung der Tiere und Pflanzen etc. Übersetzt von Michaelis. 1786. von Haller, Albrecht, Anfangsgründe der Physiologie des menschlichen Körpers. Übersetzt von Halle, Bd. 8, 1775. — Bonnet, Considerations sur les corps organises, Geneve 1762, In deutscher Übersetzung von Goeze: Betrachtungen über die organisierten Körper, 1775. Die Theorie der Präformation oder Evolution. 0 wieder kontinuierlich aus dem Ei hervorgeht. In der gleichen Weise weiter schließend, hielt es Spallanzani auch für ausgemacht, daß die zukünftigen Fröschchen in ihrer Mutter lange Zeit, ehe die Eier ausgestoßen und befruchtet werden, vorhanden sind. Auch gibt er an, die Fröschchen, welche erst in den nächsten Jahren geboren werden sollen, im Eierstock gesehen zu haben ; er meinte hiermit die kleinen Eier, welche in diesem nach Ausstoßung der reifen am Ende einer Laichperiode Zurückbleiben. Swammerdam glaubte durch musterhafte Untersuchungen ein entscheidendes Beweismaterial für die Richtigkeit der Präformation geliefert zu haben: er lehrte, daß Ei, Raupe, Puppe und Insekt nur verschiedene Entwicklungsstadien eines und desselben Tieres sind. Daher will er die Eier lieber geradezu Eierpüppchen heißen, mit der Begründung, daß in ihnen die Tierchen in Gestalt eines Püpp- chens darin stecken ; auch zieht er vor, das sogenannte Ei, das die Tierchen umgibt, besser seine Haut oder Schale zu nennen. Es hat im 19. Jahrhundert eine Zeit gegeben, in der man die Vorstellung, daß im Ei schon die betreffende Tierart im kleinen enthalten ist, in das Lächerliche gezogen und die Vertreter der Präformationstheorie für phantastische und durch religiöse Vor- stellungen beschränkte Köpfe erklärt hat. Das Urteil ist bei Be- rücksichtigung der Zeitlage und des Zustandes der biologischen Forschung ein ungerechtes. Die Forscher, die so urteilen, über- sehen, daß die hervorragendsten Gelehrten ihrer Zeit, ein Marcellus Malpighi, ein Swammerdam, Spallanzani, Haller, Leeuwen- hoek, Leibniz, Bonnet u. a. Evolutionisten gewesen sind. Daß ihre Lehre sich im Einklang mit der biblischen Überlieferung be- fand, kann ihnen in einer Zeit, welche noch von christlich-religiösen Vorstellungen in tiefster Weise beeinflußt wurde, gewiß nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn wir alle werden von den ton- angebenden Strömungen unserer Zeit beeinflußt. Vor allen Dingen aber darf, um ein richtiges Urteil abgeben zu können, nicht über- sehen werden, daß die Evolutionisten auf Grund von Ergebnissen ihrer wissenschaftlichen Forschung und von Beobachtungen , die für ihre Zeit als vorzüglich bezeichnet werden müssen, die Theorie der Präformation glaubten aufstellen zu müssen. Denn was gerade die exakte Beobachtung betrifft, so haben Forscher, wie Malpighu Swammerdam, Haller und Spallanzani geradezu bahnbrechend gewirkt und die Erkenntnis der tierischen Organisation, namentlich auch während des Embryonallebens, in grundlegender Weise gefördert. Auch vom Standpunkt unserer aufgeklärteren Zeit betrachtet, 6 Erstes Kapitel. hatten die Evolutionisten im Durchschnitt viel richtigere Vorstellungen von der Organisation der Lebewesen, als viele ihrer Widersacher, welche für die Lehre von der Urzeugung eintraten. Auch jetzt würde man ohne Bedenken viele Sätze unterschreiben können, durch welche Haller und Bonnet in ihren Schriften die Vor- stellung bekämpfen, daß eine Naturkraft nach einfach mechanischen Prinzipien aus einer ungeordneten, rohen Stoffmenge einen kom- plizierten Organismus hervorbringen könne. In dem Bestreben, über die Erfahrung hinaus die Entwicklung der Organismen zu begreifen, scheiterten die Evolutionisten an der Unzulänglichkeit ihrer Beobachtungsmittel und an der Unmöglich- keit, eine Antwort auf eine Frage zu finden, welche für den Stand des Wissens damaliger Zeit noch nicht reif war. In dieser Beziehung sind sie uns ein lehrreiches Beispiel, daß sich Natur Verhältnisse, so- lange sie für Beobachtung und Experiment gleich unzugänglich sind, nicht einfach durch Spekulation philosophisch erfinden lassen. Die Evolutionisten standen noch auf dem Boden der Wirklich- keit bei ihrer Lehre, daß sehr junge Embryonen im allgemeinen schon aus denselben Organen als das fertige Geschöpf aufgebaut sind, und daß ihre in kleinerem Maßstab nachweisbaren Organe weicher und häufig auch durchsichtiger und von etwas anderer Form sind. Auch jetzt kann man mit Haller sagen, „daß die wesentlichsten Teile der Frucht schon längst, aber nicht als solche, wie sie bei großen Tieren erscheinen, gebildet sind, daß das Hühnchen im Ei vom vollkommenen Huhn nicht weniger verschieden ist, als die Raupe vom Schmetterling“. Nur dadurch, daß die Evolutionisten ihre an jungen Embryonen gewonnenen Erfahrungen auch auf den Anfang der Entwicklung über die Erfahrung hinaus und zum Teil im Widerspruch zur ihr glaubten ausdehnen zu müssen und daher für das unbefruchtete Ei selbst eine Organisation gleich der des ausgewachsenen Organismus annahmen, verfielen sie in einen Irr- tum, der dann in seinen Konsequenzen immer verhängnisvoller wurde und gewissermaßen schon von selbst die Präformationstheorie ad absurdum führte. Wurde man doch auf ihrem Wege schließlich zur berüchtigten Einschachtelungstheorie geführt! Denn wenn in der langen Folge der Generationen ein Organismus immer den anderen hervorbringt, ihn aber nicht wirklich neu bildet, sondern bereits fertig als kleinstes Miniaturgeschöpf einschließt, so mußte man bei logischem Fortspinnen dieses Gedankens unweigerlich zu der Vorstellung geführt werden, daß überhaupt alle Geschöpfe, die einst gelebt haben und^ noch leben werden, in einem ersten Geschöpf Die Theorie der Präformation oder Evolution. 7 der entsprechenden Art als Keime der Zukunft schon angelegt oder eins in dem andern ein geschachtelt gewesen sind. Die Erschaffung eines solchen Wunderwerks aber überließ man der Weisheit des allmächtigen Schöpfers am Anfang aller Dinge. Dem Philosophen Malebranche blieb es Vorbehalten, diesen Gedankengang in ein philosophisches System zu bringen. „Denn unsere Sinne“ — so führt er aus — „sind nur beschränkt; die Vorstellung von Größe und Ausdehnung sind sehr relative“. „Obschon im Ver- gleich zum Menschen eine Milbe ein unendlich kleines Tier sei, lasse sich ein logischer Grund nicht anführen, daß es nicht Tiere gebe, die noch unendlich kleiner als eine Milbe sind. Denn die Materie sei ins Unendliche teilbar. Daher dürfe der Verstand vor dem, was die Augen sehen, nicht Halt machen. Denn das geistige Auge sei viel schärfer als das körperliche.“ Und so kommt er denn zu dem verhängnisvollen Schluß: „Nous devons penser outre cela que tous les corps des hommes et des animaux qui naitront jusque a la consommation des siecles, ont peut-etre ete produits des la creation du monde; je veux dire que les femelles des premiers animaux ont peut-etre ete creees avec tous ceux de la meine espece qu’ils ont engendres et qui doivent s’engendrer dans la suite destemps.“ Wie abenteuerliche Ideen, wenn sie nur mit Logik, mit Methode und Beredsamkeit vorgetragen werden, ihren begeisterten Lobredner auch unter ernsten Forschern finden können, dafür mag uns der Schweizer Gelehrte Bonnet als Beispiel dienen ; er sagt : die Hypo- these der Einschachtelung (emboitement) sei eine von den größten Siegen des Verstandes über die Sinne. „Die verschiedenen Ordnungen so unendlich kleiner Dinge, welche nach dieser Hypo- these ineinander ein geschlossen sind, beschweren die Einbildung^ ohne die Vernunft zu erschrecken.“ Auch der Poet kann bei solchen wissenschaftlichen Hypothesen auf seine Rechnung kommen. Er kann im Hinblick auf die prästabilierte Harmonie des Weltgeschehens sich mit dem Gefühl einer inneren Zufriedenheit, wie Bonnet wört- lich sagt, „in dem Schoße der Ämilia den Keim des Helden vor- stellen, der nach einigen Jahrtausenden ein mächtiges Reich auf- richtet, oder vielmehr des Weltweisen, der alsdann der Welt die Ursache der Schwere , das Geheimnis der Erzeugung und die Mechanik unseres Wesens erklären wird“. Mit Absicht bin ich auch auf diese Extravaganzen eingegangen, weil sie für die menschliche Natur charakteristisch sind, und weil Ähnliches, was wir jetzt als eine weit zurück gelegene Geschichte mit größerer Objektivität an unserem Auge vorbeiziehen lassen können, 8 Erstes Kapitel. sich auch in der heutigen Wissenschaft unter anderer Form wieder abspielt. Gerade auf dem Gebiete der Biologie, die es mit so viel schwierigeren und verwickelteren Verhältnissen, als die exakten Wissenschaften der Physik, Chemie und Mathematik zu tun hat, kann die moderne Wissenschaft aus den Irrungen früherer Jahrhunderte lernen. Auf diesen Punkt werde ich noch später zurückkommen. Daß die Einschachtelungslehre, als letzte Konsequenz der Prä- formationstheorie, dieser selbst auf die Dauer verhängnisvoll werden mußte, ist von vornherein verständlich. Auch konnte der Widerspruch nicht ausbleiben, als mit der Entdeckung der Samenfäden durch Leeuwenhoek die Streitfrage aufgeworfen wurde, ob man im Ei oder im Samenfaden das präformierte Geschöpf zu erblicken habe. Teilten sich doch aus diesem Anlaß die Evolution isten selbst in die sich heftig befehdenden Schulen der Ovisten und der Animalkulisten ! Das ist ja das Gute und Tröstliche in der Entwicklung der Wissen- schaften, daß häufig auch der Irrtum, indem er Widerspruch hervor- ruft, der besseren Erkenntnis die Wege bereitet. Auch dies läßt sich in unserem Fall mit Aussprüchen von Forschern, die der Präformations- theorie schon frühzeitig entgegentraten, belegen. So sieht Buffon, der Urheber der Lehre von der Panspermie, in der Annahme der Ein- schachtelungslehre nicht nur ein Geständnis, daß man die Entstehung eines Organismus nicht begreifen könne, sondern auch zugleich einen Verzicht auf den Willen, sie zu begreifen. „Abgesehen davon, daß man die Aufgabe selbst nicht löse, füge man zu ihr noch die neue Schwierigkeit, daß man zu der Annahme einer unendlichen Zahl von Keimen, die alle in einem einzigen ein geschlossen seien, ge- zwungen werde. So verliere man in dem Labyrinth des Unendlichen vollends den Faden der Wahrheit und anstatt die Frage aufzuklären und zu lösen, beginne man nur mehr sie zu verwickeln und sich von ihrer Lösung zu entfernen.“ Noch schärfer gibt Kaspar Friedrich Wolff dem unbefriedig- ten Gefühl, das die Präformation in ihm hervorgerufen hat, beredten Aus- druck. In schönen, von Überzeugung durchdrungenen Worten richtet er sich an seine Leser: „Sie werden sich noch erinnern, daß eine Evolution (Präformation) ein Phänomen ist, welches seinem Wesen nach gleich bei der Schöpfung von Gott erschaffen, aber in einem unsichtbaren Zustande erschaffen wurde. Sie sehen bald, ein ent- wickeltes Phänomen ist ein Wunderwerk, welches von den gemeinen Wunderwerken nur darin unterschieden ist, daß es erstlich zur Zeit der Schöpfung schon von Gott produziert ist, zweitens daß es eine Zeitlang, ehe es zum Vorschein gekommen, unsichtbar geblieben Die Theorie der Panspermie. 9 ist. Alle organischen Körper sind also wahre Arten von Wunder- werken. — Allein wie sehr ändert sich nicht dadurch der Begriff, den wir von der gegenwärtigen Natur haben, und wie viel verliert er nicht von seiner Schönheit. Bisher war sie eine lebendige Natur, die durch ihre eigenen Kräfte unendliche Veränderungen herfür- brachte; jetzt ist sie ein Werk, welches nur Veränderungen herfürzu- bringen scheint, in der Tat aber und dem Wesen nach unverändert so liegen bleibt, wie es gebauet war, außer daß es allmählich immer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war sie eine Natur, die sich selbst destruierte und sich selbst von neuem wieder schuf, um da- durch unendliche Veränderungen herfürzubringen, und sich immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen. Jetzt ist sie eine leblose Masse, von der ein Stück nach dem anderen herunterfällt, so lange bis der Kram ein Ende hat. Eine solche elende Natur kann ich nicht ausstehen, und die Samentierchen, in ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein Werk des unendlichen Philosophen, sondern sie sind das Werk eines Leeuwehoeks, eines Glasschleifers.“ Der Wunsch, an die Stelle der Präformationstheorie etwas Besseres zu setzen, war also vorhanden. Auch wurden von verschiedenen Seiten Reformversuche gemacht. Doch da Tadeln viel leichter ist als besser machen, und da beim damaligen Gesamtzustand der Wissen- schaften die Vorbedingungen noch nicht gegeben waren, um der Entwicklung der Organismen auf die Spur zu kommen, entstanden in der Panspermie und in der Epigenesis zwei Hypothesen, die sich ebensowenig haltbar erweisen sollten, als die bekämpfte Präfor- mationstheorie. 2. Die Theorie der Panspermie1). Die Lehre von der Panspermie hat nicht wie die Evolutions- theorie und die Epigenesis in weiteren Kreisen festen Fuß gefaßt. In modernen Betrachtungen über die Geschichte der Biologie pflegt sie häufig in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht ganz übergangen zu werden. Und doch ist sie in hohem Maße historisch beachtens- wert. Wurde doch in ihr zum erstenmal der Gedanke der elemen- taren Lebenseinheit, hauptsächlich auf Grund von biologischen Be- obachtungen, in genialer Weise erfaßt und in ein System gebracht, das allerdings, weil auf mangelhaftem Tatsachenmaterial auf gebaut, verfehlt war. Buffon und Oken müssen als ihre wichtigsten Ver- treter bezeichnet werden. Oken rühmt die Panspermie als die älteste, ehrwürdigste Theorie der Naturphilosophie. 1) Buffon , Histoire naturelle, generale et parti culiere, T. II, Paris 1749. — Oken, Lovern , Die Zeugung. Bamberg 1805. IO Erstes Kapitel. Buffon hat 1749 im zweiten Band seiner allgemeinen Natur- geschichte, als Meister einer klaren, naturwissenschaftlichen Dar- stellungsweise, seine orginellen Ansichten in gefälliger Sprache ent- wickelt. Aus der Tatsache, daß fast an jeder Stelle eines Baumes eine Knospe sich bilden kann, die, abgelöst von ihm, wieder einen Baum liefert, und ebenso aus der Tatsache, daß aus einem in viele Stücke zerschnittenen Polypen sich ein jedes Stückchen wieder zu einem Polypen gestaltet, zieht er den wichtigen Schluß, daß sowohl die Pflanze wie das Tier als eine V ereinigung zahlloser kleiner Individuen derselben Art aufgefaßt werden muß. In diesem Sinne läßt er die Ulme aus vielen Ulmen, die Hydra aus vielen Hydren zusammen- gesetzt sein. Auch läßt er die Organismen bei ihrem Tode in die einzelnen lebendigen Elemente, durch deren Vereinigung sie ent- standen sind, wieder zerfallen. Als Beweis hierfür dienen ihm die Experimente des englischen Naturforschers Needham, welcher be- obachtete, daß in Aufgüssen organischer Substanzen durch Fäulnis Infusorien und Bakterien entstehen. Auch während des Lebens sollen die Organismen lebende Teilchen an einzelnen Stellen von sich ab- stoßen können. Als solche bezeichnet Buffon z. B. die Samen- fäden der Tiere und den Blütenstaub der Pflanzen. Eine scharfe Grenze wird auch in der Lehre der Panspermie zwischen der unorganischen Natur und der Welt der Organismen gezogen. Wie jene aus Teilchen unorganischer, unzerstörbarer und unveränderlicher Materie, so besteht auch diese aus kleinen, lebenden organischen Einheiten, welche nur ihr eigentümlich sind. Alle lebenden Wesen bauen sich aus ihnen auf und zerfallen in dieselben wieder bei ihrem Tode. Buffon gebraucht für sie den Namen „matiere productive et organique“. Er läßt dieselbe überall in Wasser, Erde und Luft verbreitet sein und eine unerschöpfliche Quelle für die Entstehung neuer Pflanzen- und Tiergenerationen bilden. Bei der Beantwortung der Frage, durch welche Kraft die in der Natur überall verbreiteten Urteilchen des Organischen sich fortwährend wieder zu neuen Pflanzen und Tieren verbinden, wird Buffon zu der Hypothese eines beständig vor sich gehenden Kreislaufs derselben geführt. Pflanzen und Tiere nehmen die Urteilchen als Nahrung in sich auf, jene mit ihren Wurzeln aus dem Boden, diese, indem sie entweder Pflanzen oder Tiere verzehren, welche beim Verdauungs- prozeß sich wieder in die unzerstörbaren, organischen Moleküle auf- lösen und je nach ihrer Verwandschaft von den einzelnen Organen assimiliert werden, zu deren Wachstum sie dienen. Wie die Ernährung wird auch die Fortpflanzung durch Abstoßung der im Überschuß Die Theorie der Panspermie. I I aufgenommenen Urteilchen erklärt Diese sammeln sich bei den niederen Geschöpfen überall als Keime an, bei den höheren nur in den Geschlechtsorganen. Weibliche und männliche Keimdrüsen sind nach der Ansicht von Buffon gleichsam Behälter, in welche von jedem Organ und von jedem verschiedenen Teil des Körpers der Überschuß der organischen Moleküle hingeschickt wird. Daß aber aus einem solchen Aggregat von Urteilchen immer die spezifische Pflanzen- und Tierart, in der sich der Keim gebildet hat, hervorgeht, will Buffon aus einer formgebenden Kraft erklären, welche jeder Organismenart innewohnt. Er gebraucht hierfür den charakte- ristischen Ausdruck „Modell“. Jede einzelne Pflanzen- und Tierart ist gleichsam ein Modell, in dem die aufgenommenen und dann weiter zur Zeugung verwandten Urteilchen, der Art gemäß, neu geformt werden. Das Werden der Organismen, das Geheimnis der Fortpflanzung und der Regeneration, schien so besser als durch die Präformation und Einschachtelungslehre aus einem gemeinsamen Prinzip erklärt. „II y a une matiere organ ique toujours active, toujours prete a se mouler, ä s’assimiler et a produire des etres semblables a ceux qui la reqoivent : les especes d’animaux ou de vegetaux ne peuvent donc jamais s’epuiser d’elles memes; tant qu’il subsistera des individus l’espece sera toujours toute neuve; eile Test autant aujourd’hui qu’elle etait il y a trois mille ans.“ Der Lehre von Buffon hat sich der Naturphilosoph Oken in seiner impulsiven Art angeschlossen, ihr aber nicht selbst wesentlich neue Gedanken hinzugefügt. In der Fäulnis sieht er einen der Zeugung entgegengesetzten Prozeß; er nennt sie daher auch eine wahre Entzeugung oder Katagenesis. Die Infusorien, die Samenfäden der Tiere, die Pollenkörner der Pflanzen sind auch für Oken die organischen Urteilchen, aus deren Synthese sich wieder spezifisch geformte Tiere und Pflanzen unter den hierfür geeigneten Bedingungen auf bauen. Sie allein sind das Material für die Prozesse der Zeugung, der Ernährung und des Wachstums. Wenn bei den Säugetieren z. B. der Embryo im Mutterleibe wächst, so geschieht dies durch fortdauerndes Absetzen von Infusorien aus dem Blute der Mutter. Wie das Spezifische in Buffons Lehre durch das ..Modell“, wird es bei Oken durch „eine Typus gebende Kraft“ bei der Zeugung hervorgebracht. Und diese ruht wieder im weiblichen Eibläschen; sie ist ihm, um wieder Ausdrücke von Oken zu ge- brauchen, ebenso eigentümlich, wie der Niere die „harnbildende Funktion“ oder der Leber die Gallenabsonderung. „Das weibliche Bläschen liefert zum entstehenden Embryo“, wie es in Okens Buch Erstes Kapitel. I 2 von der Zeugung heißt, „weder einen Keim, noch organische Grund- teilchen, noch sonst etwas Materielles, sondern bloß die Form, welche die eintretenden Cercarien“, wie Oken auch häufig die Samenfäden heißt, „durch die mit dem Bläschen erwachsene organische Tätig- keit so miteinander verbindet, daß sie, auch noch durchsichtig, schon den Typus desjenigen Tieres in Miniatur darstellen, zu dessen Gattung sie gehören.“ Ein Bestandteil der Lehre von der Panspermie ist die Urzeugung. Buffon und Oken lassen sie jederzeit stattfinden, allerdings nur aus den Elementen des Organischen, welche von den Elementen der un- organischen Natur vollständig verschieden sind. Auch für die Heil- kunde zieht Oken hieraus eine uns jetzt wunderbar anmutende Kon- sequenz. Wie Infusorien aus Zerfall von faulendem Fleisch, läßt er auch höherorganisierte, parasitische Tiere, die wie die Krätzmilbe, Erreger von Hautkrankheiten sind, oder die verschiedenen Arten von Eingeweidewürmern aus einem Auflösungsprozeß, also aus einer Katagenesis einzelner Organteile in ihre Urbestandteile, und aus einer darauf folgenden neuen Vereinigung derselben ihren Ursprung nehmen. In den Wurmkrankheiten etc. erblickt Oken „eine Tendenz des Tieres, in seinen Ursprung zurückzusinken“. Wenn in der Theorie der Panspermie auch viele irrige und zum Teil phantastische Vorstellungen enthalten sind, so haben sich doch die Gedanken, daß die Organismen aus elemen- taren Lebenseinheiten aufgebaut sind und daß diese bei der Zeugung zeitweise als Samenfäden und Pollen- körner abgestoßen werden, als bleibende Wahrheiten bewährt. Allerdings ist hierfür ein besseres Verständnis erst später durch die Zellentheorie gewonnen worden. 3, Die Theorie der Epigenesis1). Ein dritter Versuch, die Entstehung der Organismen zu erklären, ist schließlich in der Theorie der Epigenesis gemacht worden, mit der wir unseren geschichtlichen Überblick beschließen wollen. Eine Hauptschwierigkeit bei der Erklärung der Lebewesen bildet ihre spezifische Organisation. Um sich mit ihr abzufinden, wurden die Evolutionisten zur Einschachtelungslehre, Buffon und Oken zur Idee des Modells geführt, in welchem die Urteilchen der lebenden I) TVolff. C. Fr., Theoria generationis. Dissert. 1759. In deutscher Ausgabe: Theorie der Generation, 17 64. Neu ausgegeben durch Sam assa in: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, No. 84, 1896. — Derselbe, Von der eigentümlichen und wesentlichen Kraft der vegetabilischen soivolil als auch der animalischen Substanz. Petersburg 1789. — Blumenbach, Über den Bildungstrieb. 2. Aufl. Göttingen 1791, Die Theorie der Epigenesis. 3 Substanz erst wieder das spezifische Gepräge eines bestimmten, pflanzlichen und tierischen Körpers erlangen. In der Epigenesis aber wird die Schwierigkeit dadurch zu beseitigen gesucht, daß die Eigenart der lebenden Organisation als nebensächlich behandelt und der pflanzliche und tierische Körper als ein System von Stoffen aufgefaßt wird, die in Aktion zueinander treten und dadurch die Lebensvorgänge her vorrufen. Der Urheber der neuen Theorie ist Kaspar Friedrich Wolff. Mit dem Wagemut der Jugend einen neuen Weg beschreitend, be- gründete er eine Lehre, die zuerst das Mißfallen seiner Zeitgenossen erregte, dann, nachdem sie jahrzehntelang unbeachtet geblieben war, zu später Geltung gelangte und schließlich unter Übersehung ihrer Fehler weit über Gebühr eingeschätzt wurde. Welchen primitiven und rohen Vorstellungen von tierischer Struktur und Organisation Wolff huldigte, trotzdem die Entwicklung der Morphologie zu seiner Zeit schon auf einer höheren Stufe stand, geht aus vielen Stellen seiner Dissertation und seiner späteren Schriften, besonders deutlich aber aus folgendem Satz hervor: „Die Gefäße und Bläs- chen machen die innere Struktur eines Teiles aus; sie machen den Teil organisch, und ohne sie würde der Teil aufhören, organisch zu sein. Nehmen Sie der Leber oder der Niere alle Gefäße weg, so bleibet weiter nichts als ein Klumpen Materie übrig, die zwar die Eigenschaften der tierischen Substanz haben kann, in der Sie aber so wenig Organisation oder Struktur noch an- treffen, als in einem Klumpen Wachs.“ Daher werden auch die niedersten Lebewesen, unter denen Polypen, Volvox, Proteus etc. aufgeführt werden, als lebende oder vegetierende Materie, nicht aber für organisierte Lebewesen erklärt. So ist von vornherein K. Fr. Wolff in jedem Punkt das Gegenteil von einem Evolutionisten ; nimmt dieser Strukturen an, wo keine mit damaligen Hilfsmitteln zu sehen waren, so sucht WOLFF sie auf ein Minimum, auch beim Erwachsenen, wo sie nicht zu leugnen waren, einzuschränken; sonst aber stellt er sie auf das entschiedenste in Abrede. Indem Wolff zum Beispiel bei Pflanzen die Stellen untersucht, wo neue Organe, junge Samenknospen, Vegetationskegel, Blätter etc. entstehen, findet er, daß die jüngsten Teile weich und flüssig sind und sich wie kleberichte Säfte in Fäden ausziehen lassen, daß sie ferner wie ein Tropfen Wasser durchsichtig und klar, ohne jede Struktur sind, daß sie, durch Weingeist verdichtet, weiß werden und auch dann „dem besten Mikroskop nichts als eine ebene und polierte Oberfläche zeigen“. Die gleiche Vorstellung bildet er sich von 4 Erstes Kapitel. jedem neu entstehenden, tierischen Organ. „Auch beim Embryo sei das Gehirn so flüssig wie Wasser.“ Da es nun eine wahre Unmöglich- keit sei, daß ein flüssiger Körper zugleich organisch sein könne, hält er es für „geometrisch bewiesen“, daß am Anfang alle neu sich bildenden Teile nicht organisch sind. Sie sind ihm nichts mehr als eine Absonderung oder ein Sekret, gebildet von einem bereits vorhan- denen Organ einer Pflanze oder eines Tieres. Das Sekret werde aus ihren Gefäßen und Saftbläschen nach außen hervorgetrieben, in ähnlicher Weise, wie z. B. die Milch aus der Milchdrüse. Daher formuliert jetzt Wglff das erste allgemeine Gesetz von der natür- lichen Formation organischer Körper in dem Satz: „Ein jeder orga- nische Körper oder Teil eines solchen wird zuerst ohne organische Struktur produziert.“ Seine Ergänzung findet es in dem zweiten Gesetz der Epigenese, welches lautet : „Das, was erst als eine unorganische Aus- scheidung produziert ist, wird organisch gemacht oder mit Organi- sation versehen, indem es Bläschen und Gefäße erhält.“ Nach Wolff würde sich demnach die Entstehung der Or- ganisation während der Entwicklung eines Geschöpfes in höchst ein- facher Weise vollziehen. Während auf der einen Seite der aus- geschiedene Saft sich vermehrt, indem immer neuer nachdrängt, verändert er sich auf der anderen Seite in seiner Beschaffenheit: denn je länger er ausgeschieden ist, um so zäher, fester und solider wird er. Hierbei aber bilden sich in der fester gewordenen Substanz besondere Gefäße aus als Wege für den Saft, der beständig neu Zu- strömen muß, um das zuerst Gebildete weiter zu ernähren. Außer- dem wird ein Teil des Saftes auch noch in Bläschen abgelagert. Das Werden eines tierischen Körpers geht daher nach Wolff etwa so vor sich: „Die verschiedenen Teile entstehen alle einer nach dem anderen ; sie entstehen alle so, daß immer einer von dem anderen entweder (an der Oberfläche) excerniert oder deponiert, d. h. im Inneren abgeschieden wird.“ „Ein jeder Teil ist also allemal erstlich ein Effekt eines anderen vorhergehenden Teiles und wird alsdann wiederum die Ursache anderer folgender Teile. Ein jeder Teil ist am Anfang, wenn er excerniert oder deponiert wird, unorganisch und wird erst organisiert, wenn er schon wieder andere Teile excerniert hat; und diese Organisation eines Teiles geschiehet durch Gefäße und Bläschen, die in ihm formiert werden, oder durch zusammengesetzte Teile, die innerhalb seiner Substanz deponiert werden. Jene Exkretion des einen Teils durch den anderen, die ich Vegetation genannt habe, gehet auf solche Art eine Zeitlang fort, endlich aber hört sie auf, und diejenigen Teile, welche alsdann zuletzt excerniert worden sind, bleiben die letzten und excernieren keine anderen mehr.“ Die Theorie der Epigenesis. 15 Die Vermehrung der Organe, die im Laufe der Entwicklung da- durch erfolgt, daß von den zuerst gebildeten wieder neue ausgeschieden werden, erklärt Wolff durch die Annahme, daß in die Säfte immer mehr ungleichartige Substanzen aufgenommen wTerden, die dann an be- sonderen Stellen wieder zur Absonderung gelangen. „Es sind gallen- hafte Säfte in einer Vegetationsperiode, welche die Leber her vor bringen und bilden. Es sind in einer anderen Periode wässerige, mit Salzteilen geschwängerte Säfte, welche die Nieren produzieren.“ Aus der Be- wegung der Säfte in der organischen Substanz erklärt er die Ent- stehung der Gefäße, die durch Erhärtung der Grenzschicht eigene Wandungen erhalten. Nach demselben Prinzip läßt er an Stellen, wo überflüssige, ungleichartige Säfte wieder nach außen ausgeschieden werden müssen, eine zweite Art von Gefäßen, die Drüsenausführgänge, ihren Ursprung nehmen; zugleich läßt er in Verbindung mit ihnen auch besondere Sekretionsbehälter, Gallenblase, Nierenbecken, Harn- leiter, Harnblase, gebildet werden. Obwohl so Wolff das Wesen der Organisation ganz verkennt, nimmt er trotzdem in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der unbelebten Natur und den Lebewesen in ähnlicher Weise wie die Evo- lutionisten und Panspermisten einen dualistischen .Standpunkt ein. Er lehrt eine scharfe Trennung zwischen beiden Reichen. Denn die Organismen entstehen aus vegetabilischer und tierischer Materie; diese aber ist mit Kräften, die nur ihr eigentümlich und wesentlich sind, begabt, also mit einer Vis essentialis, wie sie Wolff zu nennen vor- schlägt. Die Vis essentialis und die Kräfte der unbelebten Natur sind ganz verschieden voneinander. Beide sind bei der Erschaffung der Welt von Gott unmittelbar aus dem Nichts geschaffen worden. Von der ersten Schöpfung abgesehen, ist dann das Werden der Pflanzen und Tiere, ebenso wie alle Gebilde der leblosen Natur den bloßen Natur- kräften überlassen. Die Grundkraft der Lebewesen aber, die schon früher erwähnte Vis essentialis, wird von Wolff als eine Kraft be- zeichnet, die in ihren Wirkungen für uns unerklärbar ist. Sie entspricht etwa dem Begriff, den man im 19. Jahrhundert mit dem Wort „Lebens- kraft“ verbunden hat. Denn nach Wolff „läßt sie von sich alle Wirkungen ausgehen, die zusammengenommen das Leben eines Dinges ausmachen, wie Digestion, Sanguifikation, Sekretion, Vege- tation, Produktion und Bildung neuer Teile, Respiration, selbst die Generation“. Daher spricht sich auch Wolff gegen den Vergleich des Organismus mit einer Maschine aus, da diese weder aus der Substanz der organischen Welt besteht noch Sitz einer Vis essentialis ist. Einen ähnlichen Standpunkt wie Wolff vertritt später auch Blumenbach, dessen mit Geist und Witz geschriebene kleine Schrift: i6 Erstes Kapitel. „Über den Bildungstrieb“ den Beifall seiner Zeitgenossen fand und die Präformation um ihren letzten Kredit brachte. Auch er nimmt eine Epigenese, d. h. eine allmählich erfolgende Neubildung eines Organis- mus „aus dem zwar reifen, übrigens aber rohen, ungeformten Zeugungs- stoff der Eltern an“. Auch er stattet ihn mit einer besonderen, bilden- den Kraft aus. Der Vis essentialis von WOLFF entspricht der Bildungs- trieb, der Nisus formativus von Blumenbach ; er bewirkt, daß der von ihm beherrschte Zeugungsstoff anfangs eine bestimmte Gestalt an- nimmt, sie lebenslang erhält und, wenn sie verstümmelt worden ist, in manchen Fällen wiederherzustellen vermag. Der Bildungstrieb wird von Blumenbach in die Reihe der Lebenskräfte, wie Kon- traktilität, Irritabilität, Sensibilität etc. gerechnet und von den phy- sischen Kräften unterschieden. Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien. Präformation, Panspermie und Epigenese sind die drei großen Theorien, durch welche bedeutende Naturforscher aus älterer Zeit die Frage nach dem Werden der Organismen glaubten erklären zu können. Welche Stellung nimmt die moderne, durch die Arbeit eines Jahr- hunderts bereicherte Biologie zu ihnen ein? Hat von den drei Theorien der Entwicklung sich eine als die allein berechtigte siegreich durchge- setzt? Es war einst in der Biologie die Ansicht weit verbreitet und wurde durch eine einseitig gefärbte, zum Teil falsche Darstellung von Wolffs Lehren gefördert, daß die Epigenesis die Irrtümer der Evo- lution aufgeklärt, sie endgültig überwunden habe und somit jetzt zu allgemeiner Anerkennung gelangt sei. Eine derartige Geschichts- darstellung gibt kein richtiges Bild von der Sachlage. Es mag zu- gegeben sein, daß seit Blumenbach die Embryologen unter der Herrschaft der Epigenesis und als Anhänger derselben ihre For- schungen ausgeführt haben ; aber schon hier möchte ich einen Zweifel laut werden lassen, ob Karl Ernst v. Baer nicht Protest erhoben haben würde, wenn man das Ergebnis seiner Forschung als einen Beweis für Wolffs oder Blumenbachs Epigenesis hätte bezeichnen wollen. Denn nach seinen Untersuchungen beruht die „Entwicklung eines Organismus nicht auf einer wirklichen Neubildung, sondern auf Wachstum und Umbildung eines bereits Vorhandenen“ oder, wie wir sagen, einer Anlage, die nach einem Ausspruch v. Baers das unausgebildete Tier selbst ist. V. Baer erklärt sich sowohl gegen die Präformation, wie gegen die Epigenese. Denn er will beweisen, „daß die organischen Körper weder vorgebildet sind, noch auch, wie man sich gewöhnlich denkt, aus ungeformter Masse in einem be- Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien. jy stimmten Momente plötzlich anschießen“. Nach seiner Auffassung würde „die Beobachtung die strengste materialistische Lehre wider- legen und den Beweis führen, daß nicht die Materie, wie sie gerade an- geordnet ist, sondern die Wesenheit der zeugenden Tierform (die Idee nach der neuen Schule) die Entwicklung der Frucht beherrscht“. Noch mehr aber haben sich zwischen den Grundlehren von Wolff und dem, was wir uns jetzt unter einem Entwicklungsprozeß vor- stellen, nicht zu überbrückende Gegensätze auf getan, je mehr sich die Lehre vom Aufbau der Organismen aus Zellen und die Erkenntnis der Zelle als eines Elementarorganismus herausbildete. Kann man sich größere Gegensätze denken, als sie zwischen Wolffs rohem, un- organischem Zeugungsstoff auf der einen und der Keimzelle auf der anderen Seite bestehen, der Keimzelle, die selbst schon ein Elementar- organismus und die organische Anlage für das werdende Geschöpf, also dieses selbst im Eizustand ist? Oder ist eine größere Kluft denkbar, als zwischen Wolffs Lehre, daß die Organe aus flüssiger Substanz entstehen, die von einem vorher in gleicher Weise ent- standenen Organ sezerniert, dann allmählich fest und zuletzt durch Bildung von Gefäßen organisch gemacht wird, und der modernen Entwicklungslehre, die sich auf dem Zellteilungsprozeß und der sich immer komplizierter gestaltenden Anordnung und Differenzierung der Embryonalzellen aufbaut? Sollte es aber in Zukunft einmal gelingen, noch tiefer in die Geheimnisse der Keimzelle als Anlage des späteren Organismus einzudringen, so würde sich der Gegensatz zu Wolffs Epigenesis nur noch um so größer gestalten! Die Fortschritte, welche in der Erkenntnis der Entwicklung der Organismen durch die moderne Forschung gemacht worden sind, haben in Wahrheit mit der in Wolffs Epigenesis gegebenen Grund- anschauung vom rohen Bildungsstoff nichts mehr gemein. So konnte es denn geschehen, daß, während fast alle Biologen der Tradition entsprechend noch fest auf dem Boden der Epigenesis zu stehen glaubten, bei einzelnen ein ganz jäher Umschlag eintrat. Als Beispiel hierfür sei kein Geringerer als Weismann auf geführt, der in der Ein- leitung zu seinem Werk über das „Keimplasma“ den Ausspruch tat: „Im ersten Kapitel meines Buches wird man einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit der Evolution finden, und zwar einen so nahe- liegenden und einfachen, daß ich heute kaum begreife, wie ich so lange an ihm vorübergehen konnte.“ Und an einer anderen Stelle: „Man wird wohl mit mir die Überzeugung gewinnen, daß die Ontogenese nur durch Evolution, nicht durch Epigenese erklärt werden kann.“ Trotz alledem wird eine historisch-kritische Prüfung der Ver- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 2 lg Erstes Kapitel. Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien dienste Wolffs zu dem Schlußurteil kommen, daß die Entwicklungs- lehre seinen Anregungen ihren großen Aufschwung im 19. Jahr- hundert zum großen Teil mitverdankt und ans seiner Epigenesis auch bedeutende bleibende Wahrheiten geschöpft hat. Da ich hierauf später noch näher ein gehen werde, beschränke ich mich jetzt auf diese kurze Bemerkung. Zusammenfassung und Ergebnis. Bei einem Rückblick auf die Geschichte der älteren Zeugungs- theorien wird man, wie ich bereits in einer anderen Schrift bemerkt habe, das Endergebnis ziehen, daß die moderne Theorie der Entwicklung mit keinem der alten Namen bezeich- net werden kann. Denn sie weicht von einer jeden in sehr wesentlichen Punkten ab und baut sich auf Erfahrungen auf, die, in 100 Jahren gesammelt und geistig verarbeitet, zur Grundlage für eine ganz neue Anschauungswelt über das Werden der Organis- men geworden ist. In diese sind die fruchtbaren Gedanken der Präformation, der Epigenese, aber auch der Pan- spermie mithinübergenommen und erhalten worden. Denn mit den Evolutionisten stimmen wir überein in der Anerkennung der Organisation, die, von den Vor- fahren ererbt, in der Generationenreihe zu keiner Zeit eine Unterbrechung erfährt. DenVertretern der Epi- genesis dagegen nähern wir uns wieder mehr in der Einsicht, daß der Keim, obwohl schon selbst ein Or- ganismus, doch kein Miniaturbild des aus ihm ent- stehenden Geschöpfes ist, sondern erst durch tiefein- greifende Umwandlungen seiner Form sich zu ihm entwickelt. Von dcrPanspermie aber leitet sich der fruchtbare, später durch die Zellentheorie in das Be- reich exakter Forschung eingeführte, spekulative Gedanke her, daß die Lebewesen aus elementaren, kleinsten Lebenseinheiten aufgebaut sind. Zweites Kapitel. Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und zur mechanistischen Lehre vom Leben. a) Bemerkungen zur vitalistischen Richtung in der Biologie. Wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten in meinen Schriften hervorgehoben habe, so teile ich im allgemeinen die Ein- wände, die gegen den Begriff der Lebenskraft von Lotze, du Bois- Reymond, Schopenhauer u. a. erhoben worden sind. Denn der Be- griff der Lebenskraft, der in der älteren Biologie eine große Rolle vor- übergehend gespielt hat, ist für die Entwicklung der Wissenschaft wenig förderlich gewesen; er spielte in der Physiologie, nach dem treffenden Ausdruck von DU Bois-Reymond, die Rolle „eines Mäd- chens für Alles“ 1). Die Erklärung der Lebenserscheinungen wird nicht gefördert, wenn wir noch besondere Lebenskräfte oder auch nur eine Lebens- kraft annehmen, die nur in den Organismen wirksam sein und das Eigentümliche des Lebens ausmachen soll. Auch wird mit dieser An- nahme, wie mir scheint, der Forschung selbst kein gangbarer Weg ge- wiesen. Es hängt dies zum Teil mit dem Begriff „Kraft“ selbst zu- sammen, von welchem Lotze, Schopenhauer, Nägeli u. a. eine treffende Analyse gegeben haben. „Kräfte“, bemerkt Lotze, „zeigt keine Erfahrung, sie sind ein Supplement des Gedankens. Die ver- gleichende Abstraktion leitet zuerst aus den Erscheinungen immer nur allgemeine Gesetze der Beziehung her; sie sagt uns z. B., daß alle im Raum gleichzeitig vorhandenen Körper sich mit zunehmender Geschwindigkeit nähern, deren Beschleunigung den Quadraten der Annäherung proportional ist. Nur Gesetze dieser Art fließen unmittel- bar aus der analysierenden Kritik des Tatbestandes, und sie werden i) Hertwig, Oscar, Zeit - und Streitfragen der Biologie. Heft 2, Mechanik und Biologie, 1897. — Lotze , H., Lehen, Lebenskraft. Wagners Handwörterbuch der Phy- siologie, Bd. 1, 1842 : Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens, 1851. — Du Bois- lleyiuonil, Reden. Bd. 2. Über die Lebenskraft, 1887. — Driesch, H., Der Vitalis mus. Leipzig 1905. 2* 20 • Zweites Kapitel. jeder philosophischen Foischung vollkommen genügen.“ „Insofern ist es eine Fiktion, wenn der Begriff der Kraft dennoch das, was dem Dinge nur infolge der Gesetze unter gewissen Bedingungen zu- kommt, ihm als ein ihm eigentümliches Verdienst, Kraft und Tugend zuschreibt. Mit Lotze stimmt DU Bois-Reymond überein, wenn er in seiner Streitschrift über die Lebenskraft ebenfalls erklärt: „Die Kraft ist nichts Wirkliches, wie der Vitalismus es sich denkt, nicht ein mit dem materiellen Substrat zusammen gefügtes, die Materie, wie sie unseren Sinnen erscheint, ausmachendes Wesen, welches auch von der Materie getrennt selbständig fortbestehen kann. Sie ist nichts, als eine zur scheinbaren Befriedigung unseres Kausalitätsbedürfnisses einge- bildete Ursache von Veränderungen , welche selber das einzig Wirkliche sind, das wir wahrnehmen.“ Daher nennt auch Schopen- hauer die Kräfte selbst „qualitates occultae“. In der Neuzeit hat der alte Vitalismus eine philosophische Fort- bildung im Neovitalismus erfahren, in der Entelechienlehre von Driesch und in der Dominantenlehre von Reinke* Die Dominanten- lehre geht ebenfalls vom Kraftbegriff aus. Daher treffen sie auch dieselben Bedenken, wie sie oben geäußert wurden. Denn noch mehr als die Kraft ist die übergeordnete oder Oberkraft eine „Qualitas occulta“ für den Naturforscher. Daher wird dieser im allgemeinen wohl vorziehen, anstatt von Dominanten oder Oberkräften von Wirkungsweisen zu sprechen, welche auf der Konfiguration ver- schieden komplizierter, materieller Systeme beruhen. Bei der An- nahme von solchen können wir, wie es in der Chemie und Morpho- logie geschieht, eine Stufenfolge in der Verbindungsweise des Stoffes unterscheiden: Atome, Moleküle, Molekülaggregate, Micellen, Zellen, Organe, Personen, Stockbildungen usw. Was für ein fruchtbares Feld sich der Forschung bei diesen Untersuchungen eröffnet hat, lehrt der gegenwärtige Stand der Chemie und Biologie. Nun ist es allerdings dem Forscher unbenommen, der Stufen- folge in der Verbindungs weise des Stoffes entsprechend auch eine parallele Stufenfolge einfacherer und zusammengesetzterer Kräfte an- zunehmen und von Atom-, Molekül-, Micell-, Zellular-, Organkräften usw. zu sprechen, wie es ja auch häufig im täglichen Leben ge- schieht; auch kann man sich die Kräfte der komplizierten Stoffver- bindungen als Oberkräfte oder Dominanten aus einfacheren Natur- kräften zusammengesetzt denken. Aber wie die Erfahrung und Ge- schichte der Wissenschaft zeigt, wird durch eine derartige Verwen- dung des Kraftbegriffs an wissenschaftlichem Verständnis der Natur- Bemerkungen zur vitalistischen Richtung in der Biologie. 2 I erscheinungen nichts gewonnen. Denn wir tun hierbei nichts anderes, als daß wir die Welt der Erscheinungen in die Welt der Kräfte übersetzen (Kuno Fischer) und dabei leicht in die Selbsttäuschung verfallen, die Sache dadurch besser begriffen zu haben. Denn „die Kräfte selbst bleiben dabei, wie man sich auch geberden mag, qua- litates occultae“ (SCHOPENHAUER). Indem ich mich auf diese wenige Bemerkungen beschränke, verweise ich auf die etwas ausführlichere Behandlung des Gegen- standes in meiner Schrift: „Mechanik und Biologie“, 1897 (p. 39 — 61) und auf die dort angeführten Abschnitte aus den Schriften von Schoppenhauer, Lotze und Nägeli. Wenn daher die Unterscheidung von Ober- und Unterkräften schon aus dem einfachen und praktischen Grund, daß sie keinen Vorteil bietet und nichts zur wirklichen Aufklärung beiträgt, sich für den Naturforscher nicht empfiehlt, so läßt sich doch ein Vorteil aus ihr ziehen. Sie kann uns zur Widerlegung j en er Form des Vita - lismus dienen, welcher auf Grund der Annahme einer besonderen Lebenskraft einen fun dam e n talen Unterschied zwischen der un- belebten und der belebten Natur ziehen will. Denn wenn in der unbe- lebten Natur, wie z. B. in den zusammengesetzten chemischen Ver- bindungen, kompliziertere materielle Systeme gegeben sind, die sich nur in dem Grad ihrer Zusammensetzung von den Lebewesen unter- scheiden lassen, so würde ein Anhänger der Dominantenlehre ebenso- gut für die komplizierteren chemischen Erscheinungen Oberkräfte, wie für die Lebewesen Lebenskräfte annehmen können. Damit schwindet aber der von dem alten Vitalismus betonte prinzipielle Gegensatz zwischen unbelebter und belebter Natur und sinkt zu einem graduellen Unterschied herab. Mit Unrecht ist der in meinen Schriften vertretene Standpunkt von einigen Seiten als ein vitalistischer bezeichnet worden. Nach der eben und auch schon früher gegebenen Darlegung liegt hier ein offenbarer Irrtum und ein mir nicht erklärliches Mißverständnis vor. Denn in diesen Fragen stehe ich auf einem ähnlichen Standpunkt wie Comte, wie Claude Bernard, Pfeffer und namentlich wie Nägeli. . Und diese Forscher, auf die ich später noch einmal zurückkommen werde, sind gewiß nicht Vertreter vitalistischer Lehren gewesen. Wem es indessen Vergnügen bereitet, sich um Worte zu streiten, möge mich immerhin einen Vitalisten nennen. Denn welche Stellung ich zu den strittigen Fragen des Mechanismus und des Vitalismus einnehme, glaube ich an den verschiedensten Stellen meiner Schriften Zweites Kapitel. 22 klar genug auseinandergesetzt zu haben. Und darauf kommt es mir in erster Linie an. b) Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie. Ebensowenig wie die vitalistische kann ich freilich auch die chemisch-physikalische oder mechanistische Richtung gutheißen, wenigstens nicht in der Form, wie sie von einigen extremen Wort- führern vertreten wird. Als solche greife ich unter vielen anderen nur den amerikanischen Forscher JACQUES Loeb, den Botaniker Schenk und den Physiologen Verworn heraus. J. Loeb l) erblickt in den chemischen Vorgängen im Organismus nichts, dessen Beherrschung der chemischen Technik unmöglich wäre, obwohl es auch hier an pessimistischen An- schauungen nicht fehle; die Strukturen in der lebenden Substanz läßt er zum größten Teil durch Gelation oder Fällung von gelösten Kolloiden entstehen. Die Befruchtung der Eier betrachtet er als einen rein chemischen Prozeß, der sich auf experimentellem Wege mit bestimmten Stoffen nachmachen lasse, und dem Spermatozoon teilt er hierbei nur die Rolle eines Motors zu, der die befruchten- den chemischen Stoffe ins Ei hineinträgt. Schenk bezeichnet in seiner Schrift: „Über die physiologische Charakteristik der Zelle“ als die gegenwärtig in der Physiologie herr- schende Lehre die Auffassung, daß die Lebenseigenschaften auf den chemischen und physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz beruhen, und er zählt als Aufgaben der allgemeinen Physiologie auf: die Zurückführung der Lebensprozesse auf die besondere chemische Konstitution des lebendigen Eiweißes, die Erklärung des Wachstums durch chemische Polymerisierung, die Erklärung der physiologischen Verbrennung und der Reizbarkeit aus der labialen Konstitution der für das lebendige Eiweiß charakteristischen Atomgruppen. Unter Be- rufung auf PelüGERS Ideengänge, die er in seinem Aufsatz über die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen entwickelt hat, nennt er das Eiweiß „ein ungeheures Molekül, wohl oft so groß wie ein ganzes Geschöpf“, eine Substanz, „deren Moleküle durch chemische Polymerisation sich vereinigen und dadurch an Umfang zunehmen können“. Einen besonders prononcierten Standpunkt hat Verworn bei manchen Gelegenheiten eingenommen. Auch er findet, daß die 1) Loeb , Jacques , Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, 1906 ; Über den chemischen Charakter des Befruchtungsvorganges, 190?. Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie. 23 ganze Formbildung des Organismus sich mehr und mehr in physi- kalische und chemische Probleme auflöst und daß die Morphologie in letzter Instanz, genau wie die Physiologie schon heute, nichts anderes sein kann, als spezielle Physik und Chemie der Organismen. Er sieht „bei einzelnen sehr bedeutenden Morphologen noch manche Dog- men herrschen, die erst bei tieferem Eindringen schwinden werden, die aber heute noch einen Rest alter Mystik vorstellen, die vita- listischen Neigungen immer wieder von neuem Vorschub leistet“. Eine solche Mystik scheint ihm auch in dem von mir gebrauchten Satz zu liegen: „daß der lebende Organismus nicht nur ein Komplex che- mischer Stoffe und ein Träger physikalischer Kräfte ist, sondern daß er noch außerdem eine besondere Organisation, eine Struktur besitzt, vermöge deren er sich von der unorganischen Welt ganz wesentlich unterscheidet“. Daher schließt Verworn auch seinen Exkurs mit dem Ausruf: „Also fort mit dem Dogma der mystischen Organisation“ In dem Streit, welcher schon lange Zeit die Naturwissenschaft beschäftigt hat und gelegentlich immer wieder mit neuem Eifer und neuen Truppen, hier zugunsten vital istischer, dort mechanistischer Weltanschauung, zugleich auch über Wesen und Bedeutung der Organisation geführt wird, handelt es sich in meinen Augen zur- zeit hauptsächlich um eine verschiedene Beurteilung des Verhältnisses, in welchem die biologischen Wissenschaften auf der einen Seite und die exakten Wissenschaften der Chemie und Physik auf der anderen Seite in ihren Aufgaben und Zielen zueinander stehen. Während der Vitalismus dazu neigt, zwischen belebter und unbelebter Natur einen prinzipiellen Gegensatz anzunehmen, will die mechanistische Richtung keine Unterschiede zwischen beiden an- erkennen oder bemüht sich wenigstens, dieselben zu verwischen ; sie will die Aufgaben des Biologen auf diejenigen des Chemikers und Physikers zurückführen. Zwischen vital istischer und mechanistischer Rich- tung in der Lebensforschung besteht indessen noch einedritteRichtung, welcherichmichanschließe und welche ich als die biologische bezeichnen will. Indem diese die Unterschiede zwischen der unbelebten und d er belebten Körper w eit , auchwennsie nur graduelle sind, nicht übersieht, betont sie die Eigenart biolo- gischer Aufgaben und betrachtet die Morphologie und die Physiologie der Lebewesen als selbständige, der Chemie und Physik koordinierte Grundwissen- schaften (Driesch). 24 Zweites Kapitel. c) Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik x). In einem Streit, wo es sich um so allgemeine Fragen handelt, laufen gewöhnlich auch mannigfache Mißverständnisse auf beiden Seiten unter. Daher muß immer wieder von neuem versucht werden, zu einer besseren Verständigung durch Wegräumung des Miß- verstandenen zu gelangen. Diesem Zweck sollen die folgenden Betrachtungen dienen, gleichzeitig aber auch dazu beitragen, den wissenschaftlichen Standpunkt, den ich in den einzelnen Aufsätzen dieses Buches einnehme, noch klarer zum Ausdruck zu bringen. Sie sollen dadurch eine Vorarbeit für sie bilden. Als etwas fast Selbstverständliches schicke ich voraus, daß, wenn ich von Aufgaben und Zielen der Wissenschaft spreche, ich nur die Gegenwart und eine absehbare Zukunft im Auge haben kann. Wie sich die Wissen- schaft einmal in entfernter, unberechenbarer Zukunft gestalten wird, braucht wohl nicht unsere Sorge zu sein. Vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet, ist das Objekt aller naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Stoff, aus dem sich die uns umgebende Welt auf baut, und die dem Stoff innewohnende Kraft. Hierbei bediene ich mich des Begriffes „Kraft“, der nach der früher schon gegebenen Erörterung leicht Mißverständnissen ausgesetzt ist, in dem von Lotze u. a. definierten Sinne; das heißt: da wir Kräfte selbst nicht wahrnehmen können, so schließen wir nur auf ihr Vorhandensein oder auf etwas in den Dingen Wirkendes aus den Wirkungen, die unter verschiedenen Bedingungen von der Körperwelt ausgehen und sich nach unveränderlichen Naturgesetzen vollziehen. Daher lassen sich in der Erforschung der Natur zwei Grundwissenschaften unterscheiden, die Wissenschaft von der aus Stoff geformten Körperwelt und die Wissenschaft von den Wir- kungen, die von den Körpern vermöge ihrer Kraft unter bestimmten Konstellationen ausgeübt werden. In dieser Feststellung treffen wir mit den Anschauungen der einen Richtung, welche sich gern als die mechanistische zu bezeichnen pflegt, zusammen, entfernen uns aber wieder von ihr bei der weiteren Ausführung unseres Stand- punktes. Denn nach dem heutigen Stande unserer Naturerkenntnis und auf Grund der Entwicklung der Wissenschaften existieren die beiden Generalwissenschaften des „mechanistischen Naturphilosophen“ nur in der bloßen Theorie. Denn weder ist die Chemie eine General- 1) Nernst , Theoretische Chemie. 7. Aufl. — Cohen, Ernst , Jacobus Henricus van 1 * 3t Hoff. Sein Leben und Wirken. Leipzig 1912. — Kotbe, H., Zeichen der Zeit. Journal für praktische Chemie , Bd. 14- und 15, 1876 u. 1877. — Hubens , ff , Die Entwicklung der Atomistik. Rede. Berlin 1918. Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. ? c- Wissenschaft der aus Stoff geformten Körperwelt noch die Physik eine solche aller ihr eigentümlichen Kräfte oder aller von ihr ausgehenden Wirkungen. Die Naturwissenschaft hat sich nicht nach einer philosophischen Schablone entwickelt, sondern ist im Verkehr des Menschen mit der Natur aus praktischen Bedürfnissen und nach dem Maßstab|entstanden, als sich ihm Mittel und Wege darboten, einen wissenschaftlichen Ein- blick in das Wesen der ihn umgebenden Körperwelt zu gewinnen. In dieser aber hat der Mensch schon früh zwischen leblosen und lebenden Körpern unterscheiden gelernt, eine Unterscheidung, die auch in der Naturwissenschaft vom frühen Altertum bis in die Gegenwart ihre Gel- tung behalten hat. Durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den leblosen Körpern sind die Chemie und die Physik, durch die Beschäf- tigung mit der Lebewelt die Morphologie und die Physiologie hervor- gegangen. — Wie die Objekte der Forschung, sind auch die Mittel und Wege, die hier und dort zu tieferer wissenschaftlicher Erkenntnis ge- führt haben, in vieler Beziehung voneinander verschieden. Daher läßt sich ebensowenig die Morphologie auf Chemie, wie die Physiologie auf Physik zurückführen oder aus ihnen erklären ; vielmehr sind Chemie und Morphologie auf der einen, Physik und Physiologie auf der anderen Seite gleichberechtigte Grundwissenschaften, auf denen unser Naturwissen beruht. Nur in ihrer Ergänzung und Vereinigung bil- den die einen zusammen die Generalwissenschaft vom Stoff, die bei- den anderen die Generalwissenschaft von den Wirkungen, die von der leblosen und der belebten Körper weit ausgehen. Sowohl die Untersuchungen des Chemikers wie des Morpho- logen haben zu dem allgemeinen Ergebnis geführt, daß ihre Ob- jekte sich in Teile zerlegen lassen. Die chemische Forschung ist hierbei zur Unterscheidung einer geringen Anzahl von Grundstoffen oder chemischen Elementen durch- gedrungen, aus deren verschiedener Kombination sich die unendlich zahllosen, in der Körperwelt gegebenen, zusammengesetzten Stoff- verbindungen ableiten lassen. Indem sie sich ferner der aus philosophi- schen Erwägungen entstandenen, atomistischen Hypothese bedient, kommt sie zu dem Begriff der Atome der chemischen Elemente, aus diesem aber leitet sie wieder den Begriff des Moleküls ab, welches in einer Verbindung gleicher oder verschiedenartiger Atomelemente be- steht. Durch das Studium von zusammengesetzten, namentlich organi- schen Verbindungen hat sich auf dieser Grundlage allmählich eine außerordentlich sinnreiche, komplizierte Strukturchemie ent- wickelt. Um die Verschiedenheit hochmolekularer chemischer Verbin- Zweites Kapitel. 2b düngen zu erklären, genügtnicht mehr der Nachweis, daß sie aus einer bestimmten Anzahl verschiedenartiger Atome bestehen, sondern man sieht sich genötigt, auch eine bestimmte Anordnung derselben zu klei- neren und größeren Gruppen anzunehmen und zur Erklärung stofflicher Verschiedenheiten zu benutzen. Von der Strukturchemie KekulLs aber war nur ein Schritt zu der von Le Bel und VAN t’ Hoff begründeten o Stereochemie. Von der Annahme einer im Molekül gegebenen, durch ihre Affinitäten geregelten, fest bestimmten Verbindung der Atome untereinander wurde man zu der zweiten, eine Ergänzung zur ersten bil- denden Annahme „ein er Lagerungder Atome im Raume“ ge- führt. Um die verschiedenen optischen Eigenschaften (Links- und Rechtsdrehung im polarisierten Licht) von isomeren Molekülen mit glei- cher Strukturformel zu erklären, wurde es nötig, wie sich WiSLlCENUS ausdrückt, „geometrische Anschauungen in die Lehre der Konstitution der Verbindungsmoleküle hineinzuziehen“. So kam die Zeit, in welcher sich der Chemiker durch Modelle die gesetzmäßige Anordnung der Atome, die zum Molekül im Raum vereint sind, zu versinnbildlichen suchte. Wie die chemische Wissenschaft ist auch die morphologische, d. h. die auf die Körper der Lebewesen gerichtete Forschung in mancher Hinsicht eine Scheidekunst; sie hat zur Zerlegung der Organismen in Organe, in Gewebe und schließlich in Zellen und noch feinere Bestandteile derselben geführt; dabei hat sie zugleich erkannt, daß in dem Vorkommen, in der Zahl, Anordnung und Lage, sowie in der Gestaltung der Organe, Gewebe und Zellen bestimmte Gesetzmäßig- keiten herrschen, und daß auf Grund derselben das Organismen- reich sich in Pflanzen und Tiere, in Stämme, Klassen, Familien, Arten etc. in systematischer Weise einteilen läßt. Wie in der Gegenwart die Atome der chemischen Elemente für den Chemiker die letzten Einheiten sind, zu denen ihn seine Zer- legung des Stoffes hinleitet, so für den Morphologen die Artzellen. Denn diese bilden zuerst die einfachsten, einander vergleichbaren, lebenden Stoffeinheiten, die jedem Lebewesen zugrunde liegen. In ihnen ist die Eigenart eines jeden Organismus gleichsam in der ein- fachsten Formel ausgedrückt, in der Weise, daß wir sagen können, es existieren so viele verschiedene Artzellen, als das Organismen- reich aus verschiedenartigen Lebewesen besteht. Hier läßt sich nun wohl die Frage aufwerfen, ob wir bei dem von den Chemikern und Morphologen geübten Verfahren schon mit allen Einheiten einfachster oder zusammengesetzter Art, in welche sich die Körperwelt zerlegen und aus denen sie sich wieder auf- Die Stellung der Biologie /.u Chemie und Physik. 27 bauen läßt, bekannt geworden sind. Die Frage muß sowohl für die Chemie wie für die Morphologie verneint werden. Den lange Zeit festgehaltenen Standpunkt, daß die Atome die kleinsten denkbaren Stoffeinheiten, und daß die bekannten chemischen Elemente unveränderliche Stoffgebilde sind, beginnt jetzt die chemische Wissenschaft aufzugeben, veranlaßt durch die neueren Errungen- schaften auf den Gebieten der Elektrizitätslehre und der Radioaktivität- Helmholtz stellte die Hypothese der Elektrizitätsatome, der sogenann- ten Elektronen, auf, welche viel kleiner sind, als die chemischen Atome. Aus dem Studium der radioaktiven Substanzen aber leitete man die Theorie vom Atomzerfall in sehr viel kleinere korpuskulare Elemente her, die in den a-, ß- und ^-Strahlen abgestoßen werden. Diese sind ge- wissermaßen Uratome mit neuen chemischen und physikalischen Eigen- schaften. Also sind auch die früher angenommenen chemischen Ele- mente keine unveränderlichen Größen mehr, sondern zum Teil ineinan- der verwandelbar : das Ionium in Radium, und dieses wieder durch Zwi- schenstufen in Polonium. So ist für den modernen Physiker aus dem einst unteilbaren Atom jetzt plötzlich, wie Rubens hervorhebt, „ein kompli- ziertes Gebilde geworden, eine Welt im Kleinen, in welcher dauernde Veränderungen eintreten können und innerhalb deren sich die merk- würdigsten Vorgänge abspielen, die zu ergründen eine der schwie- rigsten, aber auch eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft bilden wird“. O. Hahn spricht von einer recht komplizierten Struk- tur der gewöhnlichen chemischen Elemente, und A Rowland macht auf Grund seiner spektralanalytischen Beobach- tungen die sehr charakteristische Äußerung, „daß ein Eisenatom komplizierter gebaut sein müsse, als ein Stein way-Flügel“. Wie man jetzt in der Physik bestrebt ist, das Atom in noch feinere Stoffteilchen zu zerlegen, so könnte es auch bald in einer ent- gegengesetzten Richtung dem Chemiker als wünschenswert und zur bequemeren Verständigung sogar notwendig erscheinen, bei der Er- forschung hochmolekularer organischer Körper noch eine dem Mole- kül übergeordnete, höhere Einheit zu unterscheiden. Denn die An- nahme, daß mit dem Molekül die Verbindungsfähigkeit des Stoffes an ihrer oberen Grenze angelangt sei, ist eine willkürliche, es läßt sich kein vernünftiger Grund dagegen geltend machen, daß, wie die Atome zu Molekülen, auch Moleküle gleicher und verschiedener Art sich wieder zu einer nächsthöheren Stufe verbinden können, und daß eine Grenze in der so fortschreitenden, immer komplizierter werdenden Zu- sammensetzung des Stoffes zunächst gar nicht festzustellen ist. In der Tat läßt ja auch der Chemiker, besonders in der organischen Chemie, 28 Zweites Kapitel. sich hochatomige Moleküle wieder untereinander zu neuen Ver- bindungen verketten, und er unterscheidet an ihnen einen festen, weniger veränderlichen Kern und ihm gleichsam als Glieder ange- fügte, leichter abtrennbare, für sich isolierbare und auch in ihrer Lage mehr veränderliche Atom gruppen. Mit Fug und Recht könnte man hier von Molekülkomplexen sprechen, die eine neue, über dem einfachen Molekül stehende Stoffverbindung darstellen. Derartige zusammengesetztere Verbindungen mit besonderen Namen schärfer zu kennzeichnen, wird sich in der Chemie vielleicht noch einmal als ein Bedürfnis herausst eilen. Denn es will uns im In- teresse einer klaren wissenschaftlichen Ausdrucksweise nicht emp- fehlenswert erscheinen, alle durch Vereinigung von Molekülen oder, um es kürzer auszudrücken, alle „übermolekularen“ Verbindungs- stufen des Stoffes auch mit dem Namen „Molekül“ zu bezeichnen, Wohl schwerlich wird sich ein Chemiker dazu entschließen, mit Pflüger das lebende Eiweiß „ein ungeheures Molekül, wohl oft so groß wie ein ganzes Geschöpf“ zu nennen. Auch der Ausdruck „lebendes Eiweiß“ läßt sich beanstanden, da Eiweiß als chemisch dar- stellbarer Körper nicht die Eigenschaften des Lebens aufweist. Diese kommen vielmehr erst bei übermolekularen Verbindungsstufen in der Organisation des Stoffes zum Vorschein. In ihnen aber liegt ein großes, noch vollkommen unerforschtes Zwischengebiet zwischen chemischer und morphologischer Wissenschaft vor. In der hier bestehenden Un- kenntnis ist auch der Hauptgrund zu suchen, daß die leblose und die lebende Körperwelt durch eine tiefe Kluft getrennt zu sein scheinen. Vielleicht wird in der Zukunft diese Kluft noch einmal über brückt werden, je mehr von der einen Seite die chemische, von der anderen Seite die morphologische Wissenschaft in das sie trennende Zwischen- gebiet mit ihren Arbeitsmethoden erfolgreich eindringen und das Dunkel durch Entdeckung der noch fehlenden Verbindungsstufen des Stoffes aufhellen wird. Schon seit Jahrzehnten ist für den Morph ologen die Frage eine dringende geworden, ob die Zelle, die man als Elementarorganismus zu betrachten sich gewöhnt hat, wirklich die kleinste Lebenseinheit ist, zu der uns die fortgesetzte Zerlegung der Lebewesen hinführt. Mit großer Ausdauer ist man bemüht, den BRÜCKEschen Elementarorganis- mus mit Hilfe des Mikroskopes selbst wieder in noch kleinere und ein- facher individualisierte Stoffeinheiten zu zerlegen, die mit zwei wich- tigen Grundeigenschaften des Lebens, mit Selbstassimilation und Selbst- teilung, begabt sind. Bei diesen Bestrebungen kann man sich schon jetzt auf einige sichere Errungenschaften der mikroskopischen For- Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 2Q schung stützen, auf den Nachweis von wirklichen, kleinen Teilkörpern in der Zelle. Als solche nenne ich: den Zellenkern, die in diesem wieder eingeschlossenen Chromosomen und die Chromatinkügelchen, in die sich wahrscheinlich die Chromosomen wieder zerlegen lassen, sodann zahlreiche, im Protoplasma eingebettete, kleinere und größere Teil- körper, wie die Centrosomen, die Trophoplasten der pflanzlichen Zellen, manche Arten von Granula (Plastosomen), welche die Fähigkeit des Wachstums und der Selbstteilung besitzen. Auch das tiefere Eindringen in die Erscheinungen der Verer- bung führt den Biologen ebenfalls zur Annahme von materiellen Trägern erblicher Eigenschaften, von elementaren Erbeinheiten oder Genen (Johannsen). Von einigen Forschern, wie z. B. NäGELI, ist in Zusammenhang mit der Zerlegbarkeit der Zelle in einfachere Le- benseinheiten auch die Möglichkeit erörtert worden, ob nicht Lebe- wesen existieren, die zwar größer als ein Molekül sind, da sie aus vielen Molekülgruppen bestehen würden, aber sich unter der Größe des Mikroskopischen befinden und sehr viel [einfacher als Zellen sein würden. NÄGELI hat sie Probien genannt. In der angegebenen Weise arbeiten Chemie und Morphologie nach einem gemeinsamen Ziel: dieses ist die Zerlegung der Körper- welt in Stoffeinheiten, von denen sich eine ganze Stufenlage ein- fachster und immer komplizierter werdender Arten unterscheiden läßt. Die Stufenfolge aber entsteht dadurch, daß die allerelemen- tarsten Einheiten sich zu einer nächsthöheren Einheit zweiter Ord- nung, diese wieder zu einer solchen dritter Ordnung und so weiter ver- binden: So vereinigen sich radioaktive a- und ß-Korpuskel zu Atomen, die Atome zu Molekülen, diese wieder zu Molekülkomplexen und so immer weiter, bis schließlich Körper von einer unendlich verwickelten Zusammensetzung des Stoffes, einzellige Lebewesen, entstanden sind. Und auch über diese hinaus schreitet die Stufenfolge in der Organisation des Stoffes noch weiter fort. Aus der V ereinigung von Zellen und infolge der zwischen ihnen sich ausbildenden Arbeitsteilung werden Pflanzen und Tiere. Aus der weiteren Vergesellschaftung von Tieren entstehen Tierstöcke und Staaten mit ihren höheren Wirkungsweisen. Während nach der vorausgegangenen Darlegung Chemie und Morphologie in ihren Aufgaben und Zielen eine prinzipielle Über- einstimmung aufweisen, sind ihre Methoden, die sie zur Lösung ihrer Aufgaben verwenden, grundverschiedene. Die chemische Methode ist eine Scheidekunst, welche die dem Stoff eigenen Kräfte, seine Affini- täten, deren Erklärung dem Forschungsgebiet der Physik angehört, zur Zerlegungin Atome und zu ihrer Wiedervereinigungzu Molekülen be- 30 Zweites Kapitel. nutzt. Indem verschiedene Stoffe aufeinander wirken, werden hier Atome aus ihren alten Verbindungen freigemacht, dort wieder nach ihrer Affinität zu neuen Molekülen verbunden. Die morphologische Methode dagegen setzt die sinnliche Wahr- nehmung der zur Untersuchung dienenden Objekte voraus und be- steht in einer Zergliederung derselben auf mechanischem und opti- schem Wege. Mit Messer, Schere und Mikrotom wTerden die Orga- nismen in ihre gröberen und feineren Teile, Organe, Gewebe und Zellen, und diese wieder in noch feinere Bestandteile zerlegt, die teils schon mit dem unbewaffneten Auge zu sehen sind, teils durch Verwertung des Mikroskops und durch farbenanalytische Methoden für uns direkt erkennbar gemacht werden. Jede der beiden Methoden hat ihre eigenen Vorzüge und ihre Begrenzung. Durch die Scheidekunst ist der Chemiker in den Stand gesetzt worden, die der Analyse unterworfenen Stoffe zu wägen, ihr Vo- lumen zu messen und auf diesem Wege zu festen, gesetzmäßigen Zahlen- verhältnissen zu gelangen, in denen sich die Atome der chemischen Elemente verbinden. Durch Messen und Wägen und durch die so gewonnene Möglichkeit, die Ergebnisse seiner Experimente in feste mathematische Formeln zu fassen, hat er in seiner Wissenschaft einen hohen Grad von Vollkommenheit und Exaktheit erreicht. — Und noch mehr: indem er die zahlenmäßig festgestellten Befunde seiner Ana- lysen und Synthesen mit der atomistischen Hypothese in logischen Zusammenhang brachte, hat er mit wunderbarem Scharfsinn ein Bild von der komplizierten Zusammenordnung der Atome im Molekül, gewissermaßen eine Topographie derselben, zu gewinnen versucht. Auf diesem Weg ist in den letzten 40 Jahren eine Struktur- und Stereochemie entstanden, welche die Erforschung zusammengesetzter organischer Verbindungen im höchsten Maß gefördert hat. Sehr treffend bemerkt Nernst in seiner theoretischen Chemie: „Die hohe Entwicklung der organischen Strukturchemie und die außerordent- lichen, experimentellen Erfolge, welche man ihrer zielbewußten Durch- führung verdankt, beweisen auf das schlagendste, wie glücklich die Aufstellung des Begriffs der , Konstitution der Moleküle* ge- wesen ist.“ Als Stereochemie aber hat die Chemie noch mehr den Charakter einer morphologischen Wissenschaft erhalten. Bei diesem großen Fortschritt ist indessen nicht zu übersehen, daß die Strukturchemie, so sehr sie uns auch das Verständnis che- mischer Verbindurgen erleichtert, immerhin auf dem Boden der Hypothese errichtet ist. Denn da die Atome und Moleküle unsicht- bare, weder mit dem Auge noch mit dem Tastsinn faßbare, also Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. hypothetische Elementareinheiten sind, über deren Form, Begrenzung, Lage, Verbindung und andere Qualitäten wir uns keine sinnlichen Vorstellungen bilden können, so sind die durch ihre Zusammen- gruppierung im Raum ausgedachten, stereochemischen Modelle im letzten Grunde doch nur Symbole. Denn von außerhalb der Sinnen- welt gelegenen, also zunächst für uns noch übersinnlichen Struktur- verhältnissen können wir uns, streng genommen, keine wirklich zu- treffende Vorstellung bilden. Daher läßt es sich bei einem Bück- blick auf die Geschichte der Chemie recht wohl verstehen, daß die Struktur- und besonders die Stereochemie bei ihrem ersten Hervor- treten keine günstige Beurteilung von angesehenen Forschern einer streng empirischen Richtung gefunden haben. Interessant in dieser Hinsicht ist das maßlos schroffe Urteil, in welchem sich der berühmte Chemiker Kolbe über die neue Richtung und besonders über die „Chemie dans l’espace“ von VAN t’ Hoff aus- gesprochen hat. Kolbe beklagt es „als ein Zeichen der Zeit, daß die modernen Chemiker sich berufen und imstande erachten, für alles eine Erklärung zu geben, und wenn dazu die gewonnenen Erfahrungen nicht ausreichen, zu übernatürlichen Erklärungen4 zu greifen1' „Als billig und fadenscheinig bezeichnet er die Erzeugnisse unserer modernen chemischen Metaphysik“; er sieht in ihnen „ein Überhand- nehmen des Unkrauts der gelehrt und geistreich scheinenden, in Wirklichkeit trivialen, geistlosen Naturphilosophie“. Zu ihr rechnet er „die modernen naturphilosophischen Spekulationen über Verlage- rung und Verkettung der Atome etc., womit in Deutschland die große Mehrzahl der Chemiker jetzt Zeit und Kraft unnütz vergeude“. Einen Beweis für sein Urteil sieht Kolbe besonders „in der von Phantasie- spielereien strotzenden Schrift des Herrn VAN t’ Hoff über die Lage- rung der Atome im Raume“. In derselben habe VAN t’Hoff „den Pegasus (offenbar der Tierarzneischule entlehnt) bestiegen“, um zu verkünden, „wie ihm auf dem durch kühnen Flug erklommenen che- mischen Parnaß die Atome im Weltenraum gelagert erschienen sind“. Es seien „Halluzinationen“, an denen die prosaische chemische Welt wenig Geschmack fände. — Das wissenschaftliche Urteil über den Wert der Stereochemie ist seitdem im entgegengesetzten Sinne, als es Kolbe wünschte, ausgefallen. Trotzdem wird auch jetzt die Natur- wissenschaft, wie ich glaube, in den Strukturformeln und Modellen doch nichts anderes als berechtigte und notwendige, für die Forschung und zur Verständigung nützliche Symbole erblicken dürfen. In dem Versuch, die chemische Wissenschaft in das Gewand einer morphologischen einzukleiden, enthüllt sich uns zugleich eine 32 Zweites Kapitel. der Grenzen, welche ihr durch ihren Gegenstand und durch ihre Untersuchungsmethoden gezogen sind. Eine zweite Grenze ergibt sich aus der weiteren Eigenart der chemischen Scheidekunst, daß die Stoffe, welcher einer Analyse unterworfen werden sollen, isoliert und „rein“ dargestellt werden müssen. Das stößt aber bei der lebenden Zelle auf kaum zu überwindende Schwierigkeiten. Wenn z. B. Ei- weißmoleküle besonderer Art zwischen vielen Hunderten ähnlicher Aut verteilt sind, mit welchen Methoden sollte man sie aus dem In- halt lebender Zellen ausscheiden, ohne sie selbst dabei in ihrer ur- sprünglichen Konstitution zu verändern ? Oder wie könnte man die chemisch veränderten Stoffe wieder in die ursprünglichen Zellbe- standteile rückverwandeln ? Eine dritte Grenze stellt endlich die ungeheure Komplikation dar, welche Körper, wie z. B. eine Zelle, annehmen würden, wenn wir sie bis in Atome zerlegen und ihren Aufbau aus solchen in einer wissenschaftlichen Strukturformel zum Ausdruck bringen wollten. Schon ein gewöhnliches Eiweißmolekül besteht aus so zahlreichen Atomen, daß sehr viele verschiedenartige Gruppierungen derselben und isomere Verbindungen möglich sind und daß zurzeit schon hier die Chemie sich der Grenze nähert, wo es ihr mit ihren Methoden, wie es fast scheint, unmöglich wird, in einer stereochemischen Kon- stitutionsformel, wie bei anderen einfacheren Stoffen, den Bau des Eiweißmoleküles symbolisch darzustellen. Nun steigt aber die Zahl der möglichen Verbindungen um Tausende und aber Tausende, wenn wieder verschiedene Arten von Proteinmolekülen sich zu neuen Gruppen verketten, und wenn aus solchen in ihrer Konstitution ver- schiedenen Gruppen ein neuer, noch höherer Verband auf Grund von biologischen Affinitäten entsteht. Es ist leicht gesagt, das Wachstum, anstatt aus Teilung von Zellen, durch chemische Polymerisation zu erklären ; aber wann wird sich der Chemiker finden, der Pflügers chemisches Riesenmolekül analysiert, das, durch eine in Infinitum fortschreitende Polymerisierung entstanden, einen lebendigen Or- ganismus bildet? Wie die chemische Untersuchung, hat auch die morphobiologische ihre bestimmten Grenzen. Da sie die Lehre von den Formen und Strukturen der Lebewesen ist, erstreckt sich ihr Reich zunächst so weit, als dieselben mit unseren Sinnen wahrgenommen werden können. Ihr Reich ist der Ausdehnung um so mehr fähig, als die natürliche Seh- kraft unseres Auges gesteigert werden kann. In großem Maßstab ist daher durch die Erfindung des zusammengssetzten Mikroskops und seine fortschreitende Vervollkommnung die Morphologie im Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 33 letzten Jahrhundert gefördert worden. Eine Welt kleinster Lebe- wesen (einzellige Organismen, Mikroben und Zellen) und feinste Struk- turen der lebenden Substanz sind erst mit seiner Hilfe unserem Auge erschlossen worden. Ist damit die Grenze ein für allemal erreicht, über welche hinaus wir mit unserer Sehkraft nicht weiter Vordringen werden? In der Gegenwart gewiß noch nicht! Denn kleinste dis- krete Stoffteilchen, die in ihrer natürlichen Farbe von der Umgebung nicht zu unterscheiden sind, können noch dadurch erkennbar gemacht werden, daß wir ihnen eine spezifische Färbung geben. Die „farben- analytische Methode“ ist aber gewiß noch weiterer Vervollkommnung fähig. Daher wird auf diesem Wege die Zerlegung der Zelle in feinere Strukturteile noch weitere Fortschritte zu verzeichnen haben. Nicht minder werden auch Verbesserungen in den optischen Hilfs- mitteln (Ultramikroskop) und in der bestmöglichen Ausnutzung der- selben in der Zukunft zu erwarten sein. Aber auch zugegeben, daß wir in der chemischen Erforschung der Eiweißkörper und in der morphologischen Erkenntnis der feineren Elementarstruktur der Zellen noch große Fortschritte machen werden, so wird immerhin nach unserer Ansicht ein weites Zwischengebiet stofflicher Organisation übrig bleiben, in welches es weder der che- mischen noch der mikroskopisch-morphologischen Analyse in abseh- barer Zukunft möglich sein wird, weiter einzudringen. Hier eröffnet sich ein weites Feld für wissenschaftliche Hypothese! Was diese zu leisten vermag, hat uns als ein glänzendes Beispiel die Chemie mit ihren Hypothesen von den Atomen, von den Molekülen und den Struktur- formeln derselben gezeigt. Sollte es in ähnlicher Weise einmal der Biologie möglich sein, in die hypothetische Organisation der Zelle tieferen Einblick zu gewinnen? Ich glaube, daß in Zukunft diese Frage mit einem Ja ihre Beantwortung finden wird ! Schon lassen sich die vielversprechenden Anfänge einer neuen, grundlegenden Forschungsrichtung übersehen. Ihren Ausgangspunkt bilden die Tatsachen der Vererbungslehre. Vermöge ihrer spezifischen Or- ganisation sind die Keimzellen die Anlagen für die aus ihnen ent stehenden besonderen Arten von Lebewesen. Zwar läßt sich weder chemisch noch morphologisch erkennen, in welcher Weise die spä- teren sichtbaren Eigenschaften des Geschöpfes in der materiellen Beschaffenheit der Keimzellen als Anlagen begründet sind. Aber nach dem ontogenetischen Kausalgesetz können wir den sicheren Schluß ziehen, daß in irgendeiner Art materielle Träger der ver- erbbaren Eigenschaften (Gene) vorhanden sein müssen. Wie uns der Chemiker über die in eine Verbindung eingetretenen und in o, H ertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 3 34 Zweites Kapitel. ihr nicht erkennbaren chemischen Elemente durch Analyse belehrt, so liefert uns auch die Entwicklung der Keimzelle selbst gleichsam eine biologische Analyse der im Keim verborgenen Anlagen, in- dem sie alles, was in den Keimzellen unsichtbar angelegt ist (vgl. hierüber Kap. III), uns allmählich in sichtbar werdenden Merkmalen vor Augen führt. Auch auf experimentellem Wege können wir hierbei die Me- thoden des Chemikers in mancher Beziehung nachahmen. Durch Benutzung der zwischen männlichen und weiblichen Keimzellen bestehenden Affinitäten können wir zwei materielle Systeme zu einer neuen Stoffverbindung, zu einer gemischten Anlage, vereinigen und die Kombination der erblichen Anlagen in dem daraus abge- leiteten Entwicklungsprodukt studieren. In dieser Weise eröffnet sich uns ein weites Feld interessanter Studien in der Bastardzeugung, durch welche die Anlagen von stärker voneinander divergierenden Eigenschaften zweier Varietäten oder verwandter Arten zu neuen Merkmalspaaren miteinander kombiniert werden können. — Hier ruft der Morphologe, wie der Chemiker, der durch Synthese neue Substanzen bildet, ganz neue biologische Verbindungen allerkompliziertester Art hervor. Dieselben erhalten aber noch dar- über hinaus eine nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung durch die Möglichkeit, später wieder eine Zerlegung der in der Bastardanlage kombinierten Eigenschaften herbeizuführen. Denn nach der fundamental wichtigen Entdeckung von Mendel, welche man als die Spaltungsregel bezeichnet, werden die durch Bastar- dierung kombinierten, zu Paaren verbundenen Anlagen, wenn sich im Bastard die Keimzellen bilden (wie man aus guten Gründen annimmt, während des Reduktionsprozesses), wieder voneinander getrennt und in verschiedenartiger Kombination auf die männlichen resp. weiblichen Keimzellen verteilt (vgl. hierüber Kap. III). In die neuen Anlagesysteme aber, die durch Befruchtung der Keimzellen bei Inzucht entstehen, kann der Experimentator durch das Studium der zweiten und dritten Generation der Nachkommen des ursprüng- lichen ersten Bastardproduktes auf Grund des ontogenetischen Kau- salgesetzes sich einen Einblick verschaffen und eine hierbei statt- gefundene verschiedenartige Vermischung der differenten Anlagen der ursprünglichen Stammeltern feststellen. So ist ein Weg gewiesen, auf welchem sich durch mühsame und ausgedehnte Versuchsreihen vielleicht ein besserer Einblick, als wir ihn gegenwärtig besitzen, in das, was eine elementare An- lage ist, und überhaupt in die Konstitution des Anlagesystems wird gewinnen lassen. Die Stellung der Biologie zü Chemie und Physik. 35 Einen kühnen Vorstoß in dieser Richtung hat neuerdings der amerikanische Forscher Morgan gemacht, gestützt auf langjährige erbanalytische Studien an der Taufliege, Drosophila melanogaster Indem er von der Richtigkeit der im Kap. III besprochenen Kern- idioplasmatheorie ausgeht, glaubt er aus der festeren und lockeren Verbindung, aus der „Koppelung“, in welcher die einzelnen mendeln- den Anlagen bei der Kreuzung von Mutanten in ihrer Nach^ kommenschaft auftreten, einen Schluß auf ihre Anordnung in den Chromosomen des Kerns ziehen zu können. Er erblickt in dem Grad der Koppelung zweier Erbfaktoren gewissermaßen einen Maß- stab für die Lagerung der sie repräsentierenden und linear ange- ordneten Stoffteilchen (Chromomeren) im Chromatinfaden und hat schon nach diesem Grundsatz versucht, gleichsam eine topogra- phische Karte von der Lage der Faktoren in den 4 Chromosomen von Drosophila aufzunehmen. Wie der Chemiker durch Analyse und Synthese sich eine Vorstellung von der Lagerung und Ver- bindung der Atome im Molekül macht, würde es dann auch für den Biologen möglich sein, eine Vorstellung von der Architektur der Erbfaktoren im Chromosom zu gewinnen. So kühn das Vorhaben uns jetzt auch erscheinen mag, so kann es trotzdem nicht als aussichtslos bezeichnet werden. Auf einen Erfolg ist hierbei um so mehr zu hoffen, als wir auch in dem Äquivalenzgesetz der im Ei- und Samenkern enthaltenen Chromatinmengen und in dem Zahlengesetz der Chromosomen eine sichere Grundlage in morphologischer Beziehung für die Annahme der Hypothese besitzen , daß wir es in den äquivalenten Kern- substanzen mit stofflichen Trägern erblicher Anlagen zu tun haben (vgl. Kap. III). Maß und Zahl werden auf diese Weise in die Ver- erbungslehre und die Morphologie eingeführt. Und wenn wir auch wegen der mikroskopischen Kleinheit der körperlichen Gebilde die- selben nicht genau wägen und messen und durch Scheidekunst darstellen können in der exakten Weise, wie es der Chemiker ver- mag, so ist doch ein wichtiger Schritt, auch diesem Ziele exakter Forschung näher zu kommen, wohl hierdurch geschehen. Nach den vorausgeschickten Erläuterungen glaube ich die Be- rechtigung des von mir eingenommenen Standpunktes bewiesen zu haben, daß Chemie und Morphologie in gleicher Weise Grundwissen- schaften sind. Beide geben uns von dem Wesen des Stoffes, nur auf verschiedenen Stufen seiner Zusammensetzung zu toten und lebenden Körpern, Kenntnis. Es läßt sich Morphologie ebensowenig durch Chemie, wie diese durch Morphologie ersetzen, gewiß nicht in der Gegenwart, aber wohl auch nicht in der Zukunft. Denn die 3: 3$ Zweites Kapitel. Vorbedingungen hierzu scheinen mir weder in dem menschlichen Erkenntnisvermögen noch in der Natur der Dinge selbst gegeben zu sein. Um dies in noch etwas drastischerer Weise zu erläutern, wollen wir uns für einen Augenblick in das Reich der Phantasie begeben. Laplace hat sich einen Geist vorgestellt, der den ganzen Welten- prozeß in die Bewegungen sich anziehender und abstoßender Massen aufzulösen, in einer mathematischen Riesenformel auszudrücken und mit ihr Vergangenheit und Zukunft zu berechnen imstande ist. In ähnlicher Weise wollen wir uns einen Geist denken, dessen Seh- kraft uns gewöhnlichen Menschen so überlegen ist, daß er auch die kleinsten Stoffeinheiten, die Atome der Elemente, wahrnehmen und in ihren Bewegungen verfolgen könnte. Mit solcher göttlichen Seh- kraft ausgerüstet, würde er in der Lage sein, den Aufbau aller Arten von Molekülen aus den verschieden gruppierten Atomen, wie ihn der Chemiker symbolisch in seinen Strukturformeln dar- zustellen versucht, direkt zu schauen, wenn auch vielleicht in etwas anderer Weise, als es sich der Chemiker vorstellt. Und da er ferner aus der rascheren oder langsameren Bewegung, mit welcher sich in den Verbindungen die Atome und Atomgruppen suchen oder fliehen, auch ihre größeren oder geringeren Affinitäten zu beurteilen vermöchte, so könnte er durch Verwertung dieser Erkenntnis, in einfacherer Weise als der Chemiker durch seine synthetischen Me- thoden, neue Verbindungen hersteilen und alte lösen, dadurch daß er verschiedene Stoffe in geeigneter Weise zusammenbringt und nach ihrer Affinität die ihm sichtbaren Atomgruppen miteinander Austauschen läßt. Für einen Geist mit einer solchen Sehkraft wäre die Chemie in der Tat eine rein morphologische Wissenschaft geworden; sein Auge zerlegt oder seziert gleichsam die Moleküle in ihre einfachsten Elemente und verschafft sich einen Einblick in die atomistische Morphologie des Stoffes. Ein solcher Morphologe hat auch das Ziel der mechanistischen Schule erreicht. Die Zelle ist ihm nicht mehr der mit Struktur ausgerüstete lebende Elementarorganismus, sondern ist zu einem wunderbaren Mikrokosmos unzähliger Mole- küle geworden. Wie im Weltenraum die Himmelskörper, zu Sonnen- systemen verbunden, sich in fest bestimmten Bahnen bewegen, so würde er im Mikrokosmus der Zelle die Moleküle je nach ihren Affinitäten zu kleineren oder größeren Gruppen (Micellen, Bio- blasten etc.) verbunden schauen ; er würde wahrnehmen, wie durch Vereinigung zu noch umfangreicheren Systemen schließlich die auch Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 0/ dem gewöhnlichen menschlichen Auge erkennbaren Stoffgebilde entstehen, die wir jetzt als Protoplasmafäden, als Granula, Centro- somen, Trophoplasten, als Chromosomen, Spindelfasern, Nukleolen etc. bezeichnen. Obwohl das hier entrollte Zukunftsbild einer Morphologie, welche auch das Forschungsgebiet der gegenwärtigen Chemie sich ange- eignet hat und so zu einer allumfassenden Wissenschaft des Stoffes geworden ist, nur ein leeres Phantom ist, würde auf diesem Wege trotzdem noch nicht einmal das Endziel der Erkenntnis erreicht sein. Denn nach physikalischen Theorien würde ja das Atom selbst wieder als eine Welt von a-Korpuskeln vorgestellt werden müssen. In eine gleiche Lage würde sich eine Chemie versetzt sehen, die durch chemische Kenntnis das ersetzen soll, was wir durch morphologische Erkenntnis von der Organisation der lebenden Körperwelt erfahren haben. Wie das menschliche Auge auch in Zukunft nicht jene durch- dringende Sehkraft erwerben wird, um Moleküle und Atome oder gar a-Korpuskel zu schauen, so wird auch die chemische Kunst der stofflichen Analyse und Synthese eine menschliche bleiben und nicht jenen Grad von Vollendung erreichen, der erforderlich wäre, um das durch fortgesetzte Polymerisierung und Molekülkombinie- rung entstehende PFLÜGERsche Riesenmolekül in seine unzähligen verschiedenen Atom gruppen zu zerlegen, einen Einblick in ihre ge- setzmäßige Verbindungs- und Lagerungsweise zu gewinnen und von ihm eine Riesen konstitutionsformel zu entwerfen. — An dem Organismus der Zelle scheitert auch die analytische und synthetische Kunst des Chemikers. Denn wenn er auch aus der Zelle einzelne Eiweißkörper gewinnen und darstellen kann, so hat er dadurch eine chemische Analyse von der molekularen Organisation der lebenden Zelle, eines Samenfadens, eines Eies etc. noch lange nicht geliefert. Wer aber eine solche im kühnsten Fluge der Phantasie in der Zukunft für möglich halten würde, müßte dann auch an die Möglichkeit glauben, einmal durch chemische Synthese einen Samen- faden oder ein Ei bilden zu können, also eine biologische Substanz, welche ausgerüstet mit der Fähigkeit zur Entwicklung, Organe wie Hirn und Auge aus sich hervorbringen könnte. Denn wenn in der Chemie die Analyse eines Stoffes wirklich ausgeführt werden kann, dann ist gewöhnlich auch eine Synthese in den Bereich der Möglichkeit gerückt. Wie ich nach diesen Erörterungen glaube mit vollem Recht behaupten zu können, haben die Untersuchungen des Stoffes auf Zweites Kapitel. 33 jeder Stufe seiner Verbindung oder Organisation, mögen sie chemi- sche oder morphologische sein, die gleiche Wichtigkeit für die Er- kenntnis der uns umgebenden Körper weit. Die Untersuchung der niederen Stufe, der molekularen Zusammensetzung des Stoffes, macht nicht die Erforschung der höheren Stufen stofflicher Organi- sation (der Zellen, Gewebe, Organe, der zusammengesetzten Lebe- wesen) überflüssig, noch kann sie überhaupt einen Ersatz für sie bilden. Betrachten wir noch einen anderen Fall. Genau dasselbe Ver- hältnis wie zwischen Morphologie und Chemie würde entstehen, wenn es zukünftiger Forschung einmal gelingen sollte, die Atome aller Elemente nach dem Muster der radioaktiven Substanzen in a-, ß-, 7-Korpuskel etc. zu zerlegen. Eine neue Wissenschaft würde sich neben der Chemie entwickeln, die Wissenschaft von der Kon- stitution der Atome. Dann würde das Atom (vgl. S. 26) schon an und für sich eine komplizierte Welt im allerkleinsten darstellen, in welcher man auch, um die Verschiedenheit der Elemente zu erklären, wie in der Stereochemie der Moleküle, die Zahl und Lagerung der Korpuskel im Atomraum zum Gegenstand der Forschung mit den für solche Aufgabe geeigneten Methoden erheben könnte. Würde durch solche neue Wissenschaft etwa die alt gewordene Chemie be- seitigt sein, indem nun der zukünftige Forscher die Aufgabe des Chemikers anstatt mit Atomen mit radioaktiven Korpuskeln aus- führen und die Moleküle anstatt durch stereochemische Struktur- formeln gleich durch Formeln aus den vorläufig allerletzten Urele- menten des Stoffes erklären würde? Nach meinem Urteil würde sich neben dieser neuen Zukunftswissenschaft des Stoffes die Chemie mit ihren Atomen und Molekülen, mit ihren bewährten Methoden der Analyse und Synthese nicht nur als gleichberechtigte Grund- wissenschaft behaupten, sondern überhaupt mit ihren Aufgaben und Leistungen durch das neue Feld der Forschung gar nicht ersetzt werden können. Der von mir schon früher vertretene und hier wieder neu begrün- dete Standpunkt beruht nicht, wie Verworn meint, auf der Vorstell- ung einer mystischen Organisation, sondern auf einer, wie ich glaube, sachgemäßen Abwägung der gegenwärtigen Aufgaben und Grenzen beider Wissenschaften. Und so halte ich denn, gewiß mit Fug und Recht, an der Ansicht fest, die ich in einer akademischen Rede kurz dahin zusammenfaßte: „Wenn es Aufgabe des Chemikers ist, die zahllosen Verbindungen der verschiedenartigen Atome zu Mo- lekülen zu erforschen, so kann er, streng genommen, überhaupt Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 39 nicht dem eigentlichen Lebensproblem näher treten. Denn dieses be- ginnt ja überhaupt erst da, wo seine Untersuchung aufhört. Über dem Bau des chemischen Moleküls erhebt sich der Bau der leben- den Substanz alseine weitere, höhere Art von Organisation, erhebt sich der Bau der Zelle, und über diesem erhebt sich wieder der Bau der Pflanzen und Tiere, die noch kompliziertere, kunstvolle Vereinigung von Millionen und Milliarden in der allerverschiedenartigsten Weise zusammengeordneter und differenzierter Zellen darstellen.“ „Was hat in aller Welt chemische Wissenschaft, wie sie jetzt ist, mit dieser ganz neuen Welt von Organisation des Stoffes zu tun, auf welcher erst die Lebenserscheinungen beruhen! Wollte sich der Chemiker die Aufgabe stellen, auch diese zu erforschen, dann müßte er selbst Biologe, vor allem Morphologe werden. Dann aber würden auch seine Arbeitsmethoden und Ziele durchaus andere und viel umfassen- dere sein, als es gegenwärtig der Fall ist.“ In einem entsprechenden Verhältnis wie Chemie und Morpho- logie stehen Physik und Physiologie als die Wissenschaften von der dem Stoffe innewohnenden Kraft zueinander. Da der Begriff „Kraft“ Schwierigkeiten in sich einschließt, wie schon das Wort „Lebens- kraft“ lehrt, und wie früher bereits hervorgehoben wurde (S. 19), werde ich in der folgenden Erörterung mich anstatt dessen des Ausdrucks „Wirkung und Wirkungsweise“ bedienen. Denn an ihr allein kann der Naturforscher das Vorhandensein und die besondere Art der Kraft erkennen. Nun kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß mit der verwickelter werdenden stofflichen Zusammensetzung der Körper auch ihre Wirkungen in irgendeiner Hinsicht verschieden ausfallen müssen, oder mit anderen Worten : jede Konfiguration des gege- benen materiellen Systems zeigt eine ihr entsprechende und parallel laufende, gesetzmäßige Wirkungsweise. In demselben Maße wie durch die Aneinanderfügung der Atome zu Molekülen, der Moleküle zu den höheren Substanzeinheiten der Zelle, der lebenden Zellen zu den Pflanzen und Tieren immer neue, zahlreichere und höhere Formen der Körper weit zustande kommen, werden auch dement- sprechend neue und immer kompliziertere, von ihnen ausgehende Wirkungsweisen produziert. Daher hat es auch der Forscher mit dem Auftreten der Pflanzen und Tiere mit einer ganz neuen Welt ungemein mannigf altiger Wir- kungen zu tun, wie sie in dieser Weise in der unbe- lebten Natur nicht Vorkommen und nicht Vorkommen können, weil hier die dafür erforderliche Organi- 4o Zweites Kapitel. sation ganz fehlt; ich nenne nur die Erhaltung der Art durch Wachstum und Zeugung, den Stoffwechsel, die verschiedenen Arten der Irritabilität (Phototaxis, Chemotaxis, Geotropismus usw.), Be- wußtsein, Sinnes- und Denkvermögen, und endlich alle die ver- schiedenen Wirkungen, welche die einzelnen Zellteile aufeinander, ferner Zelle auf Zelle, Organe auf Organe, Pflanzen und Tiere auf- einander ausüben. Sofern der Vitalismus nur diese Tatsache betonen will, so wird sich dagegen kaum ein ernstlicher Widerspruch erheben lassen, und es würde nur zu bemerken sein, daß das Wort „Lebenskraft“, weil es weder für die Forschung noch die Erklärung einen Nutzen dar- bietet und daher zwecklos und für die Forschung sogar schädlich gewesen ist, am besten ganz vermieden wird. Wie sich aus unserer Darlegung leicht ersehen läßt, ist die Zahl der überhaupt in der Natur zu beobachtenden Wirkungsweisen, die zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden können, eine unfaßbar große. Die physikalische Wissenschaft aber beschäftigt sich nur mit einem kleinen Bruchteil derselben, und zwar mit den einfacheren und allgemeiner verbreiteten Wirkungs- weisen, in denen die Naturkraft sich in einer mehr gleichartig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeit äußert: mit den Erscheinungen der Schwer- und Zentrifugalkraft, des Lichtes und der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizität, der chemischen Kräfte etc. Da- gegen überläßt sie der Physiologie das Studium der Wirkungs- weisen, die von den Lebewesen ausgehen. Dieselben lassen sich allerdings zum Teil direkt physikalisch erklären, aber natürlich nur insoweit, als sie mit den vom Physiker beobachteten und allge- meineren und elementareren Gesetzmäßigkeiten Übereinstimmung zeigen, also schon von vornherein physikalisch sind. In derselben Weise sind auch Stoffe, die von lebenden Körpern gebildet werden, rein chemischer Untersuchung zugänglich, und sogar durch S}m- these künstlich darstellbar, wie Kohlenhydrate, Fette, Spaltungs- produkte von Eiweißkörpern, wie Harnstoff und dergleichen mehr. Dagegen gibt es andere Wirkungsweisen, die in der spezifischen Organisation der lebenden Substanz, in den komplizierten System- bedingungen von Stoffverbindungen begründet sind, wie sie in der leblosen Natur nicht Vorkommen und nur in den Zellen und ihren Vereinigungen gegeben sind. Sie sind daher auch, so- lange es Physik gibt, überhaupt nie Gegenstand ihrer Unter- suchungsweise geworden und lassen sich infolgedessen selbstver- ständlicherweise auch nicht physikalisch erklären, wie Fortpflanzung, Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 41 Vererbung, Bewußtsein, Sinnes- und Denkvermögen. Auch hier bedingt die verschiedene Natur der zu erforschenden Gegenstände andere Untersuchungsmethoden und Betrachtungsweisen, als sie in der Physik für die Untersuchung der Wirkungsweisen der unbe- lebten Natur ausgebildet worden sind. An einem Beispiel, als welches ich das Sehvermögen wähle, wird, was ich meine, noch deutlicher hervortreten. Das Auge ist ein dioptrischer Apparat, nach den Gesetzen der Optik gebaut und in- soweit physikalisch greifbar. Der Strahlengang, die durchsichtigen Medien, ihre Brechung durch die Krümmungsverhältnisse der Linse, die Entstehung des Bildes auf der lichtempfindlichen Fläche, die Entfernung derselben von der Linse usw. sind nach den Metho- den der Physik zu ermitteln und lassen sich mathematisch be- rechnen. Insoweit ist die Physiologie des Auges auf seine Einrich- tung angewandte Physik, ist physiologische Optik. Aber damit ist das Sehvermögen nur zum Teil erklärt. In welcher Weise die Licht- eindrücke von der Retina als Bild wahrgenommen, das Bild in den Raum hinausprojiziert und die Einzelheiten des Bildes wieder in ihrer natürlichen Größe und körperlich vorgestellt, ins Bewußtsein aufgenommen und in Erinnerungsbilder umgewandelt werden etc., sind Fragen physiologischer und psychologischer Forschung und lassen sich physikalisch nicht erklären, da es analoge Vorgänge im Bereich der Physik nicht gibt. Noch mehr gilt dies aber von der Ent- wicklungsphysiologie des Auges, von der Erforschung der Wir- kungen, durch welche sowohl phylogenetisch wie ontogenetisch in der lebenden Substanz die Entstehung eines für Lichtperzeption ein- gerichteten Organs mit seinem wunderbaren Bau verursacht worden ist, die Bildung einer lichtbrechenden Linse aus Zellen, die Bildung einer den Lichteinfall regulierenden Irisblende, eines Akkommo- dationsapparates für Nah- und Fernsehen usw. In derselben Weise, wie es für das Auge als Beispiel durch- geführt wurde, gibt es wohl keine Funktion der Lebewesen, die sich als ein rein chemisch-physikalisches Problem behandeln ließe. Überall spielen Wirkungsweisen mithinein, die mit der eigentüm- lichen, spezifischen Organisation der lebenden Substanz Zusammen- hängen und sich daher von den Wirkungen, die durch die ein- facheren materiellen Systeme der unbelebten Natur hervorgerufen werden, mehr oder minder weit unterscheiden. In diesem Punkt ist übrigens kein prinzipieller Unterschied zwischen lebloser und belebter Körper- welt gegeben. Es brauchte dies eigentlich kaum hervorgehoben 42 Zweites Kapitel. / zu werden, wenn nicht von mancher Seite gleich das Gespenst des Vitalismus bei der Feststellung solcher Unterschiede er- blickt würde. Denn auch in der leblosen Natur ist, wie bei den lebenden Organismen, die Konfiguration des materiellen Systems für die von ihm ausgehenden Wirkungs- weisen mitbestimmend. Die Wirkungsweisen und Eigen- schaften eines zusammengesetzten Moleküls hängen ebensowohl von den Einzelwirkungen aller es zusammensetzenden Atome als von der Art ihrer Verbindungsweise im Molekül ab. In ihrer Trennung zeigen die Atome andere Wirkungen als in ihrer Ver- einigung zu einem bestimmten Molekül. Isomere Verbindungen bieten Unterschiede in ihren Eigenschaften voneinander dar, die nur auf ihrer verschiedenen Struktur beruhen können, da Art und Zahl der Atome bei ihnen ja sonst die gleichen sind. Welche große Bedeutnng Nernst dem Bau der Moleküle bei der Frage nach ihren physikalischen Eigenschaften in seiner theore- tischen Chemie beimißt, geht aus folgenden Anfangssätzen zu seinem sechsten Kapitel über „physikalische Eigenschaften und mole- kularen Bau“ hervor: „Nach der Auffassung der Strukturtheorie sind drei Umstände maßgebend für die Eigenschaften einer Verbindung: i) chemische Zusammensetzung, 2) Konstitution, d. h. Art der Ver- kettung der Atome, 3) Konfiguration, d. h. räumliche Anordnung der Atome. Eine Änderung eines dieser Faktoren bedingt notwendig eine mehr oder minder weitgehende Änderung der Eigenschaften der Verbindung.“ „Diese Erkenntnis“, fährt Nernst weiter fort, „legt die Aufgabe nahe, die Beziehungen zu ergründen, welche zwischen dem Bau des Moleküls (worunter wir den Inbegriff jener drei Faktoren verstehen wollen) und dem physikalischen und chemischen Verhalten der Sub- stanz bestehen ; die vollständige Lösung dieser Aufgabe würde uns in den Stand setzen, aus der Strukturformel heraus das Verhalten einer Substanz nach jeder Hinsicht anzugeben, die Existenzbedingungen und Eigenschaften noch nicht dargestellter Verbindungen vorherzusagen, und daher die Erreichung eines Ziels bedeuten, dem sich zu nähern einen Hauptzweck aller chemischen Forschung bildet.“ Ein in vieler Beziehung noch lehrreicheres Beispiel für die Ab- hängigkeit der Wirkungsweise eines materiellen Systems von seiner Struktur bietet der Vergleich der Lebewesen mit Maschinen. Der- selbe ist ja seit dem bekannten Ausspruch von La Mettrie „L’homme machine“ oft angestellt worden. In einer sehr zusammengesetzten Dampfmaschine ist der zu ihrem Bau verwandte Stoff in viele, sehr verschieden geformte Maschinenteile gebracht, welche je nach ihrer Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik, 43 Form verschiedene Wirkungsweisen hervorrufen können und wie die Organe eines Lebewesens untereinander nach einem bestimmten Plan verbunden sind. Der rohe Stoff ist durch diese Prozedur, wie man auch sagt, „veredelt“ worden. Infolge ihrer Konstruktion muß die Maschine, wenn in Betrieb gesetzt, eine im voraus bestimmte Wirkung ausüben oder eine ihrer Natur entsprechende Arbeit verrichten. Von drei ver- schiedenen Gesichtspunkten aus kann der Naturforscher sich mit der Maschine beschäftigen als Chemiker, als Physiker und als Maschinen- ingenieur. Als Chemiker kann er die chemische Natur der zum Bau der Maschine verwandten Substanzen (Eisen, Kupfer etc.) und die zu ihrem Betrieb erforderlichen Materialien (Steinkohle, Petroleum, Öl, Wasser etc.) untersuchen. Ebenso kann der Physiker sich mit den physi- kalischen V erhältnissen der Konstruktionsteile, mit der Zug- und Druck- festigkeit der Eisenstäbe, mit der Berechnung der Leistungsfähigkeit des Dampfkessels, mit der Spannung des überhitzten Wasserdampfes, mit dem Energiewert der verschiedenen Brennmaterialien etc. beschäf- tigen. Aber durch alle diese verschiedenartigen, physikalischen und chemischen Untersuchungen, die an den gleichen Substanzen, auch wenn sie keine Maschinenbestandteile sind, mit demselben Ergebnis vorgenommen werden könnten, gewinnen wir noch keinen Einblick in das Wesen einer bestimmten Maschine. Denselben ver- schafft uns erst der Maschineningenieur, wenn er uns erklärt, in welcher Weise die einzelnen Teile zur Erzielung eines bestimmten Arbeitszweckes verbunden sind, wie hieraus ihre Form, Größe und Festigkeit im Verhältnis zu anderen Konstruktionsteilen berechnet worden ist, und durch welche Vorkehrungen es ermöglicht worden ist, mit dem geringsten Aufwand von Kraft die bestmögliche, voraus- bestimmte Arbeitsleistung zu erzielen. Gewiß kommt in der Maschine nichts vor, was außerhalb der allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit fiele; die zum Bau der Maschine verwandten Stoffe mit den ihnen innewohnenden Kräften sind genau dieselben, wie sie sich auch sonst in der Natur finden und vom Chemiker und Physiker untersucht werden. Trotzdem bietet jede Maschine, wie eine jede Organismenart, ein neues, eigenes Problem dar, das in der konstruktiven Verwendung der Rohmaterialien und in der Zusammenordnung der Teile beruht, durch welche die Natur- kräfte in eine durch den Plan der Maschine vorausbestimmte Bahn zur Erzielung einer zweckentsprechenden Arbeitsleistung geleitet werden. Spezifische Konstruktion, resp. spezifische Organisation hat unfehlbar auch eine bestimmt gerichtete Wirkungsweise, resp. eine spezifische Funktion zur Folge. Ich wiederhole: Mit dem in der spezifischen Konstruktion ge- 44 Zweites Kapitel. gebenen Problem, das erst das Wesen der Maschine ausmacht, be- schäftigt sich weder der Chemiker noch der Physiker; vielmehr bildet es die wissenschaftliche Aufgabe des Ingenieurs und Technikers, der sich mit der Erfindung und dem Bau von Maschinen beschäftigt in der Absicht, mit ihrer Hilfe dem Menschen die Naturkräfte dienst- bar zu machen. In ähnlicher Weise wie der Maschineningenieur behandelt der Biologe (sowohl der Anatom wie der Physiologe) Probleme der Natur- wissenschaft, die sich mit denen der Chemie und Physik nicht decken, sondern durchaus neu und eigenartig sind. Nur sind seine Probleme in demselben Maße komplizierter und schwieriger, als auch der ein- fachste Organismus in seinem Bau und in der Mannigfaltigkeit und Zweckmäßigkeit seiner Wirkungsweisen, die sich den verschieden- artigsten Bedingungen anpassen können, die komplizierteste Maschine unendlich übertrifft. Der von mir hier entwickelte Standpunkt ist kein isolierter; in ähnlicher Weise haben sich schon manche Biologen und Philosophen ausgesprochen, auf deren Urteil ich besonderen Wert lege, wie Claude Bernard, Auguste Comte, C. E. v. Baer, Pfeffer, Ed. v. Hart- mann u. a. In seiner Vorlesung über die Phänomene des Lebens hat Claude Bernard, einst das Haupt der französischen Physiologen, auch seine Stellung zum Vitalismus und Mechanismus auseinander- gesetzt. „Si les doctrines vitalistes“, bemerkt er, „ont meconnu la vraie nature des phenomenes vitaux, les doctrines materialistes, d’un autre cöte, ne sont pas moins dans l’erreur, quoique d’une maniere opposee. En admettant que les phenomenes vitaux se rattachent a des manifestations physico-chimiques, ce qui est vrai, la question dans son essence n’est pas eclaircie pour cela; car ce n’est pas une rencontre fortuite de phenomenes physico-chimiques qui construit chaque etre sur un plan et suivant un dessin fixe et prevu d’avance, et suscite l’admirable Subordination et l’harmonieux concert des actes de la vie. II y a dans le corps anime un arrangement, une sorte d’ordonnance que l’on ne saurait laisser dans l’ombre, parce qu’elle est veritablement le trait le plus saillant des etres vivants.“ Noch einfacher drückt Comte den in der Frage entscheidenden Punkt durch den Satz aus : „De quelle maniere qu’on explique les differences de ces deux sortes d’etres, il est certain qu’on observe dans les corps vivants tous les phenomenes, soit mecaniques, soit chimiques, qui ont lieu dans les corps bruts, plus un ordre tout special de phenomenes, les phenomenes vitaux proprement dits.. ceux qui tiennent ä l’organ isation.“ Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 45 In seinem Aufsatz über Zielstrebigkeit in den organischen Körpern hat sich C. E. V. Baer zu unserem Thema in kurzen Sätzen so geäußert : „Zu glauben, daß die organischen Körper, weil sie selbst Zwecke sind, den Naturgesetzen nicht unterworfen seien, wäre grundfalsch. Die Vegetation der Pflanzen ist ja nichts als ein chemisch-physi- kalischer Prozeß nach eigener Entwicklungsnorm. Das tierische Leben verläuft nicht minder nach physikalisch-chemischen Gesetzen mit eigener Entwicklungsnorm.“ Mit den Worten „nach eigener Entwicklungsnorm“ bezeichnet v. Baer den Faktor, welcher nach unseren vorausgeschickten Er- läuterungen in nichts anderem besteht, als in der spezifischen Or- ganisation jeder lebenden Substanz und in den von ihr abhängigen Wirkungsweisen, durch welche alle chemisch-physikalischen Vor- gänge in bestimmte Bahnen geleitet werden. Mit den von mir entwickelten Gedankengängen stimmt Pfeffer überein, wenn er in seinem Handbuch der Pflanzenphysiologie (1897, p. 3 u. 52) sagt: „Wie eine Uhr mit dem Einstampfen aufhört eine Uhr zu sein, obgleich Qualität und Quantität des Metalls unverändert bleibt, so ist auch mit dem Zerreiben eines Schleimpilzes, eines jeden Protoplasten, das Leben und alles damit Verkettete unwiederbringlich vernichtet, obgleich in diesem Gemisch nach Qualität und Quantität dieselben Stoffe vereinigt sind, wie zuvor. Allein schon diese Über- legung sagt unzweideutig aus, daß selbst die beste chemische Kenntnis der im Protoplasma vorkommenden Körper für sich allein ebenso- wenig zur Erklärung und zum Verständnis der vitalen Vorgänge ausreichen kann, wie die vollendetste chemische Kenntnis von Kohlen und Eisen zum Verständnis der Dampfmaschine und der mit dieser betriebenen Buchdruckerpresse.“ „Eine jede physiologische Einheit Zelle) ist zweifellos nicht eine chemische Verbindung, sondern ein organischer Körper.“ Besonders aber will ich hier auch auf die trefflichen Bemerkungen von Eduard von Hartmann hin weisen. Noch kurz vor seinem Tod wendet sich derselbe in seinem Grundriß der Naturphilosophie 1907, p. 34, 35) gegen den bei den meisten Biologen noch fort- bestehenden „irrtümlichen Glauben, als ob die Molekularmechanik und die aus ihr entspringenden physikochemischen Gesetze im Prinzip ausreichend sein müßten, um die organische Natur er- schöpfend zu begreifen, wenn uns nur die nötigen Mittel zur Er- forschung des submikroskopisch Kleinen und die nötige Schärfe des mathematischen Verstandes zu Gebote ständen. Dieser Irrtum der mechanistischen Weltanschauung im Bereiche auch der orga- 46 Zweites Kapitel. nischen Natur hat sich dadurch eingenistet, daß man von der Physik und Chemie ausging, die schon einen höheren Grad wissenschaftlicher Durcharbeitung erlangt hatten, und die dort gewohnten und erprobten Methoden auf die Biologie übertrug, die sich noch auf der Über- gangsstufe von der Kunde zur Wissenschaft befand. Es ist aber grundsätzlich verkehrt, das Höhere aus dem Niederen erschöpfend verstehen zu wollen; die Biologie braucht ihre eigenen Methoden, und wenn sie auch diephysiko- chemischen Gesetze als die unerschütterliche Grund- lage ihrer Untersuchungen anerkennt, so besteht doch ihre eigentliche Aufgabe darin, diejenigen Gesetze zu erforschen, die in der unorganischen Natur nicht Vorkommen, die sich aber in der organischen Natur über die physikochemischen Gesetze überlagern.“ Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Die im zweiten Kapitel ausgesprochenen Gedanken, welche die philosophisch-methodologische Grundlage dieses Buches bilden, fasse ich noch einmal kurz in einige Sätze zusammen. Der Natur- forscher untersucht die ihn umgebende Körperwelt von zwei ver- schiedenen Gesichtspunkten aus, erstens ihre stoffliche Zusammen: Setzung und zweitens die in ihr tätigen Kräfte oder, richtiger ge- sagt, ihre Wirkungsweisen, da nur diese von uns wahrgenommen und wissenschaftlich analysiert werden können. Wir erhalten so zwei Reihen von Wissenschaften, die chemisch-morphologischen, welche sich mit dem stofflichen Aufbau der Körperwelt, und die physikalisch-physiologischen, welche sich mit ihren Wirkungsweisen beschäftigen. Die chemisch-morphologischen Wissenschaften haben zu der Erkenntnis geführt, daß alle Körper, mögen es tote oder lebende sein, sich in Stoffteile zerlegen und aus ihnen wieder direkt auf- bauen oder wenigstens aus ihnen entstanden vorstellen lassen, wie die Moleküle aus Atomen oder die Pflanzen und Tiere aus den sie aufbauenden Zellen. Die Zerlegbarkeit der Körper in Teile ist eben- so wie der entgegengesetzte Prozeß ein ungemein verwickelter. Man hat dabei zahlreiche Ordnungen einfacherer und zusammen- gesetzterer Stoffeinheiten kennen gelernt, die sich in einer natür- lichen Stufenfolge anordnen lassen, in der die höhere Stufe durch Vereinigung von Stoffeinheiten einer niederen Stufe entstanden ist, So bilden sich durch Vereinigung radioaktiver Teilchen, wenn wir Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 47 mit der Hypothese der neuesten Forschungen beginnen wollen, die Atome der chemischen Elemente; durch die verschiedenartigste Zusammengruppierung von Atomen wähl verwandter Elemete wer- den Moleküle; diese können sich wieder miteinander zu Doppel- molekülen und zu Molekülkomplexen vereinigen. Mit dem Studium dieser niederen Formen in der Stufenfolge stofflicher Zusammen- setzung, mit der Analyse und Synthese der schon hier vorhandenen und realisierbaren, unzähligen Verbindungen beschäftigt sich die un- organische und die organische Chemie; wir wollen sie daher kurz als die chemischen Stoffverbindungen bezeichnen. Auf diese aber folgen dann in der Stufenfolge der immer komplizierter werdenden Zu- sammensetzung des Stoffes die verschiedenen Ordnungen der in der belebten Körperwelt unterscheidbaren Strukturteile; man kann sie im Gegensatz zu den chemischen als biologische Verbin- dungen benennen. Diese sind zum Teil, weil sie Vereinigungen von zahlreichen Molekülen oder Molekülkomplexen (Micellen) dar- stellen, in das Bereich des mikroskopisch Sichtbaren gerückt und bilden daher den Gegenstand der biologisch-morphologischen Wissenschaft. Ich nenne als solche i) die in den Zellen unter- scheidbaren lebenden Teilkörperchen, die sich durch Eigenwachs- tum und durch ihre Vermehrungsfähigkeit auf dem Wege der Teilung auszeichnen (Granula, Trophopl asten, Kern, Chromosomen), 2) die auf einer noch viel v er wick eiteren Organisation beruhende Zelle, 3) die Vereinigung der Zellen zu vielzelligen Pflanzen und Tieren mit ihren verschiedenartigsten Geweben und Organen, endlich 4) die durch Vereinigung von Tieren gebildeten Tierstöcke und Tierstaaten. Nach dem bisher eingeschlagenen Entwicklungsgang der Wissenschaft beschäftigt sich die Chemie mit den niederen, dagegen die biologische Morphologie mit den höheren Formen stofflicher Verbindungen. Daher kann weder die eine die andere ersetzen, noch das von ihr behandelte Gebiet erklären. Denn die Chemie kann sich entsprechend der Natur ihrer Aufgaben mit den Lebe- wesen nur insoweit beschäftigen, als diese ihr chemische Stoff- verbindungen darbieten, was ja in reichlichstem Maße der Fall ist; doch ihre Aufgabe erlischt, wo es sich um die übergeordneten Formen biologischer Verbindungen handelt, auf welchen die Eigen- art der Lebewesen im Gegensatz zu den chemischen Substanzen beruht. Daher beginnt hier auch ein neues, eigenartiges For- schungsgebiet mit den ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten. Indem wir diese in den tatsächlichen Verhältnissen und in der 48 Zweites Kapitel. Geschichte der Wissenschaften selbst begründete Schranke zwischen Chemie und biologischer Morphologie ziehen, bleibt das Problem, ob die Lebewelt aus der unbelebten Natur entstanden ist, davon ganz unberührt. Denn an sich liegt kein logischer Grund vor, in der Stufenfolge stofflicher Organisationen an irgendeiner Stelle eine durchgehende Trennung vorzunehmen. Wie das Molekül durch Verbindung von Atomen, so ist durch Vereinigung von Molekülen aus der Gruppe der Eiweißkörper wahrscheinlich auch die lebende Zelle, vielleicht durch Vermittlung von uns noch unbekannten Zwischenstufen stofflicher Organisation entstanden, eine Annahme, welcher ich mit der Mehrzahl der Naturforscher huldige. In ähnlichem Verhältnis wie Chemie und Morphologie stehen Physik und Physiologie zueinander, indem die eine die allgemeinen, allen Körpern gemeinsamen Wirkungsweisen besonders aber die- jenigen, die von den einfacheren Stoff Verbindungen ausgehen, die letztere die zusammengesetzteren Wirkungsweisen der Lebewesen zum Gegenstand der Untersuchung nimmt. Die größten Erfolge durch Aufstellung allgemeiner Gesetze und Regeln hat die Physik auf solchen Gebieten aufzuweisen, auf denen es sich um allgemeinere, weit verbreitete Wirkungsweisen der Körperwelt aufeinander han- delt, um die Erscheinungen der Gravitation, des Magnetismus, der Elektrizität, des Lichtes, der Wärme usw. Hier bietet es auch einen Vorteil dar, wenn man, wie es in der Wissenschaft üblich ist, das gemeinsame Prinzip, das gleichen Wirkungen zugrunde liegt, als eine besondere Naturkraft, als Schwerkraft, Zentri- fugalkraft, magnetische, elektrische Kraft usw. bezeichnet. Da- gegen stößt die Physik auf ähnliche Schwierigkeiten wie die Physiologie überall dort, wo es sich um die Erklärung der be- sonderen Wirkungsweisen handelt, welche die Körper auf Grund ihrer spezifischen Zusammensetzung oder als chemische Stoffe aus- üben. Wie jede pflanzliche oder tierische Spezies, so bietet auch jeder chemische Körper sein besonderes Problem dar, wenn seine Wirkungsweise auf die Wirkungen der es zusammensetzenden Teile zurückgeführt oder, wie man auch zu sagen liebt, aus ihnen erklärt werden soll. Das Gleiche wie von den Wirkungen läßt sich auch von den Eigenschaften der Dinge sagen. Es lassen sich auch die Eigenschaften der Moleküle nicht einfach aus den Eigenschaften der sie zusammenstzenden Atome, die Eigenschaften der Zellen aus den sie aufbauenden Molekülverbindungen, die Eigenschaften der Tiere und Pflanzen aus den sie bildenden Zellen durch einfache Addition ableiten. Vielmehr werden Wirkungen und Eigenschaften Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 49 eines zusammengesetzteren Ganzen auch wesentlich mit von dem bestimmt, was der Techniker als die Konfiguration eines aus ein- facheren Teilen zusammengesetzten Systems oder als seine System- bedingungen zu bezeichnen pflegt; nicht minder stehen sie auch unter dem Einfluß und in Abhängigkeit von der auf sie einwir- kenden Umwelt Ein Gemenge von Sauerstoff- und Wasserstoff- atomen z. B. übt ganz andere physikalische Wirkungen aus, als die gleiche Anzahl von Atomen, nachdem sie sich durch einen chemischen Prozeß zu Wassermolekülen vereinigt haben. Ferner bieten isomere Moleküle, obwohl sie aus derselben Zahl gleicher Atomelemente zusammengesetzt sind, trotzdem verschiedene Eigen- schaften dar und unterscheiden sich auch in ihren Wirkungsweisen je nach ihrer verschiedenen, in einer Strukturformel darstellbaren Konfiguration. Auch in dieser Beziehung besteht zwischen Chemie und Physik auf der einen und der Biologie auf der anderen Seite kein Unter- schied. Die Schwierigkeiten beim Versuch, das Ganze aus der Natur seiner einzelnen Teile zu erklären, sind hier wie dort die gleichen. Als Vertreter der physikalischen Wissenschaften führe ich für mei- nen Standpunkt die allgemein anerkannte Autorität von Nernst an. Dieser spricht sich über die Bestrebungen, die Entstehung stoff- licher Verbindungen aus den in den Atomen wirkenden Kräften physikalisch zu erklären, in sehr vorsichtiger und resignierter Weise im dritten Buch seiner theoretischen Chemie, welches über die Um- wandlungen der Materie oder die Verwandtschaftslehre handelt, in folgenden Sätzen aus: „Als das letzte Ziel der Verwandtschaftslehre muß die Aufgabe bezeichnet werden, die bei den stofflichen Umwandlungen wirkenden Ursachen auf physikalisch wohlerforschte zurückzuführen. Die Frage nach der Natur der Kräfte, welche bei der chemischen Ver- einigung oder Umsetzung der Stoffe ins Spiel treten, wurde schon früher aufgeworfen, als es eine wissenschaftliche Chemie gab. Be- reits die griechischen Philosophen sprachen von der Liebe und dem Haß der Atome als Ursache der stofflichen Veränderungen, und was die Erkenntnis über das Wesen der chemischen Kräfte an- langt— viel weiter sind wir auch heute nicht gekommen. An der anthropomorphen Anschauungsweise der Alten haben wir im Grunde nur den Namen gewechselt, wenn wir die Ursache der chemi- schen Veränderungen in der wechselnden Affinität der Atome suchen.“ „An Versuchen zwar, zu bestimmten Vorstellungen zu gelangen, O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 4 50 Zweites Kapitel. hat es nie gefehlt; man sagt nicht zuviel mit der Behauptung. daß keine Wechselwirkungen der Körper untereinander von der Physik entdeckt ist, die nicht auch von einem spekulativen Kopfe zur Erklärung der chemischen Kräfte herangezogen wurde. Der Erfolg aber hat bis jetzt keineswegs dem aufgewendeten Scharfsinn entsprochen; es kann nicht offen genug bekannt werden, daß wir von dem Ziele, die chemischen Umsetzungen auf das Spiel physika- lisch wohldefinierter und untersuchter Kräfte zurückzuführen, heute noch weit entfernt sind.“ „Angesichts dieser unleugbaren Tatsache muß man sich doch fragen, ob denn dieses Problem ein glücklich gewähltes oder nicht etwa ein verfrüht aufgeworfenes darstellt. Nirgends mehr zeigt sich der Meister, als gerade in der weisen Beschränkung, die sich der Naturforscher bei der Wahl des zu erreichenden Zieles auferlegt und nirgends liegt die Gefahr näher, wertvolle Arbeitskraft beim Hinarbeiten auf ein Problem fast nutzlos zu vergeuden, welches heute unüberwindliche Schwierigkeiten bietet, die aber in kurzer Zeit vielleicht schon fast mühelos durch Ausnützung von auf schein- bar ganz anderen Gebieten errungenen Erfolgen überwunden werden können. — — Offenbar sind die Gesetze, welche die Wechselwirkung der Atome bei ihrer Verkettung, sei es in Ge- stalt chemischer Verbindung, sei es in Gestalt ihrer Kondensation zu einem Kristall, sei es schließlich auch nur bei einem vor- übergehenden Zusammenstoß, beherrschen, ganz absonderlicher Natur und gehorchen nicht einmal den Gesetzen der klassischen Mechanik.“ Wenn daher der Vitalismus aus den Schwierigkeiten, auf die er bei der Erklärung der Lebensvorgänge der Zelle aus den Wirkungen ihrer einfacheren stofflichen Komponenten stößt, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen belebter und unbelebter Natur herleiten will, so übersieht er, daß die gleichen Schwierigkeiten auch in der Chemie bestehen, wenn ein komplizierteres materielles System in seinen Wirkungen aus den es zusammensetzenden Elementen erklärt werden soll. Bestehen sie doch nach den Ausführungen von Nernst schon bei dem Versuch, die Entstehung des Moleküls aus seinen Elementen auf das Wirken physikalisch wohldefinierter Kräfte zurückzuführen. Die Gründe, die DU Bois-Reymond mit Recht gegen den Gebrauch des Wortes „Lebenskraft“ anführt, lassen sich mit demselben Recht auch gegen den Begriff „chemische Kraft“ oder „chemische Affi- nität“ geltend machen, wenn mit seinem Gebrauch der Glaube ver- bunden wird, dadurch eine ursächliche Erklärung für naturwissen- schaftliche Verhältnisse irgendwie gewonnen zu haben. Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 51 Zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung können wir nur die unserer Sinnenwelt zugänglichen Erscheinungen machen, in- dem wir ihre Beziehungen zueinander nach dem Verhältnis von Ur- sache und Wirkung erkennen und genau bestimmen. Dagegen bleibt uns die Kraft selbst, durch welche die Ursache die Wirkung her- vorbringt, nach wie vor ein Fremdes und Unbekanntes. „Die Kraft, vermöge welcher ein Stein zur Erde fällt, oder ein Körper den anderen fortstößt, ist ihrem inneren Wesen nach uns nicht minder geheimnisvoll als die, welche die Bewegungen und das Wachstum eines Tieres hervorbringt“ (SCHOPENHAUER). In diesem Sinne ist alle naturwissenschaftliche Erkenntnis eine beschränkte, da wir uns von dem Wesen der Kraft keine Vorstellung machen können; sie findet ebenso bei chemischen und physikalischen wie bei biologischen Problemen ihre Grenzen ; „sie bleibt“, wie NäGELI sehr treffend aus- führt, „in der Endlichkeit befangen“. „Daher läßt sich Umfang und Grenze unserer möglichen Naturerkenntnis kurz und genau so an- geben. Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche erkennen, das in den Bereich un- serer sinnlichen Wahrnehmung fällt“. „Der Natur- forscher muß sich daher streng auf das Endliche be- schränken“. Was darüber hinaus liegt, gehört der Metaphysik und der Erkenntniskritik an, deren Wert und Berechtigung von der vorausgegangenen Darlegung ganz unberührt bleibt. Aber auch bei dieser Beschränkung ist die Naturwissenschaft unerschöpflich. Denn die Analyse der Erseheinungswelt nach Ur- sache und Wirkung, die Zerlegung des Zusammengesetzteren in seine einfacheren Elemente, die fortschreitende Vermehrung des sinnlich Wahrnehmbaren, indem wir, was vorher unserer Sinnen- welt verborgen war, ihr durch Erfindung neuer Methoden und in- strumenteller Hilfsmittel (Mikroskop, Spektralanalyse, Photographie, Telephon etc. etc.) immer mehr zugänglich machen, ist ein Prozeß^ bei welchem sich eine Grenzfestsetzung zurzeit für den mensch- lichen Geist überhaupt nicht absehen läßt. Im festen Glauben an diese unerschöpfliche, auch in der Selbst- beschränkung noch fortbestehende Macht der Naturwissenschaften schließe ich das zweite theoretische Kapitel mit dem schönen Aus- spruch von C. E. VON Baer, den ich als Motto dem Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwicklungslehre (1906) vor- gesetzt habe: „Die Wissenschaft ist ewig in ihrem Quell, unermeßlich in ihrem Umfang, endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele“. 4' Drittes Kapitel. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. Einleitung. Pflanzen und Tiere haben eine Geschichte, die so alt ist wie das Leben auf unserem Planeten selbst; in ihrem Ursprung weisen sie auf unendlich weit entfernte, geologische Perioden zurück. Von diesem historischen Standpunkt aus läßt sich die ganze Größe der Aufgabe be- greifen, die in der Frage liegt: wie sind die uns umgebenden Lebewesen, und wie ist vor allen Dingen die ihnen eigentümliche Organisation ent- standen? Denn Objekte der Naturforschung können selbstverständ- licherweise in erster Linie nur die gegenwärtigen Organismen, in zwei- ter auch ihre Vorfahren sein, soweit wir überhaupt von ihnen nur irgend eine Kunde besitzen, das heißt soweit sie teilweise oder ganz nach ihrem Tode erhalten geblieben und in konserviertem Zustande in die Hände des Naturforschers gelangt sind. Aber wie kümmerlich sind diese Urkunden ! Meist sind es nur Skelettstücke, während die wichtigen Weichteile verwest sind. Und dann erhebt sich der Zweifel, ob es sich überhaupt um Reste von Vor- fahren von heute lebenden Organismenarten handelt. Denn wie läßt sich ein beweisbarer genealogischer Zusammenhang zwischen Orga- nismen, die vor Tausenden von Jahren gelebt haben, und der gegen- wärtigen Lebewelt hersteilen, wo es an wirklichen Beweismöglichkeiten fehlt? Wie könnte ein deutsches Herrscher- und Adelsgeschlecht von seinem ersten Urahn, mit welchem die sorgsam geführte Stammtafel beginnt, angeben, wer sein Vorfahr zur Zeit der Pharaonen oder des trojanischen Krieges gewesen ist? So entzieht sich die Frage nach der Entstehung der Organismen und ihrer Organisation, soweit sie sich in vorhistorischen Zeiten abgespielt hat, in dem Dunkel der Ver- gangenheit der Untersuchung des Naturforschers. Daher kann es sich für ihn in Wirklichkeit als mögliche Aufgabe nur darum handeln^ das in der Gegenwart Erreichbare zu erkennen und aus der Erkennt- nis der Gegenwart sich eventuell hypothetische Vorstellungen auch über vergangenes Geschehen zu bilden. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. ^ Aus dieser Überlegung ergibt sich ein einfacher, aber wichtiger Schluß. In ihrer Stellung zur Vergangenheit besteht ein Hauptunter- schied zwischen den Körpern der leblosen und der belebten Natur und ebenso auch zwischen den von ihnen handelnden Wissenschaften. Für das Verständnis chemischer Körper ist ihre Geschichte von so untergeordneter Bedeutung, daß die Wissenschaft sich kaum mit ihr beschäftigt. Chemische Körper lassen sich aus ihren Grundelementen durch Synthese aufbauen und wieder in sie zurückführen. Es ist ziemlich gleichgültig, ob sie auf natürlichem Wege oder in der Re- torte des Chemikers entstanden sind; denn im einen wie im anderen Fall sind sie in ihren Eigenschaften gleich. Der lebende Körper dagegen ist ein Kunstwerk, welches die schöpferische Natur im Laufe unendlicher Zeiträume her vor gebracht hat. Ein solches nachzuschaffen, und sei es auch nur ein lebendes Gebilde allereinfachster Art, wie es das kleinste Bakterium ist, liegt noch so weit außerhalb des Bereiches der gegenwärtigen Wissen- schaft, daß wohl kaum ein Forscher die Aufgabe, ein Bakterium durch chemische Synthese zu bilden, sich überhaupt in den Kopf setzen würde. Die Organismen können sich in ihrer Art einzig und allein auf dem Wege der Zeugung in der Reihenfolge der Generationen erhalten. Die jüngere Generation entsteht als Teilstück einer älteren, aber dieses Teilstück enthält schon alle wesentlichen Züge des ganzen Kunstwerks, zu welchem es sich durch Entwicklung nur wieder zu gestalten braucht. Hat eine Organismenart aufgehört, sich durch Fortpflanzung zu erhalten, so ist sie auch in aller Zukunft vernichtet ; sie ist auf die Dauer ausgestorben. Denn es darf wohl mit Recht bezweifelt werden, ob die gegenwärtige Natur noch über die ent- sprechenden Mittel (Konstellationen oder Systembedingungen), ver- fügt, mit denen sie einst im Laufe unendlicher Zeiten den jetzt aus- gestorbenen Organismus höherer Art hervorgebracht hat. Die im letzten Jahrhundert begonnene, außerordentlich rege bio- logische Forschung mit ihren sehr vervollkommneten Arbeits- methoden hat uns jetzt zu Auffassungen von der natürlichen Ent- stehung der Organismen und ihrer Organisation geführt, welche von denen älterer Naturforscher sehr wesentlich verschieden sind. Ich versuche es, in einem kurzen Abriß die wichtigsten Punkte von entscheidender Bedeutung zusammenzustellen. Pflanzen und Tiere sind hochorganisierte Körper, aufgebaut aus unzähligen Lebenseinheiten, die man aus historischen Gründen mit einem an sich recht wenig passenden Namen die „Zellen“ benennt. Als Lebenseinheiten aber müssen die Zellen aufgefaßt werden ; denn 54 Drittes Kapitel. sie sind bereits mit allen Attributen des Lebens ausgestattet, i) mit dem Vermögen, sich zu ernähren und zu wachsen, 2) mit dem Ver- mögen, sich durch Teilung zu vermehren und dadurch in ihrer Art sich weiter auszubreiten und zu erhalten, 3) endlich mit dem Ver- mögen in vielseitigster Weise auf die Einwirkungen der Außenwelt zu reagieren. Irritabilität, Kontraktilität, Photo- und Chemotaxis etc. sind Namen für einzelne dieser Äußerungen. Schon die Zelle ist ein unendlich komplizierter Organismus. Das von den gegenwärtig lebenden Pflanzen und Tieren am Anfang des dritten Kapitels Gesagte gilt in gleichem Maße auch von ihr. Auch die heute lebende Zelle ist ein im Laufe unendlicher Zeiträume allmählich historisch entstandenes Gebilde, das sich in seinen Eigen- schaften allein durch das ihm innewohnende Vermögen der Fort- pflanzung durch Teilung erhält. Für die Auffassung, daß die Zelle ein Elementorganismus ist, hat uns die Natur zwei untrügliche Beweise geliefert. Erstens gibt es in der Tat zahllose einzellige Arten von Pflanzen und Tieren. Sie zeichnen sich schon durch eine erstaunliche Mannigfaltigkeit der verschiedensten Formen und durch eine Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Lebenslagen im Haushalt der Natur aus. Zweitens aber muß auch jeder vielzellige Organismus — und gerade dieser Punkt ist von der all erwei tragendsten Bedeutung — ein einzelliges Stadium bei seiner Fortpflanzung durchmachen. Denn vielzellige Pflanzen und Tiere erhalten ihre Art in der Regel dadurch, daß sie zu bestimmten Zeiten aus ihrem Verbände weibliche und männliche Keimzellen, Eier, Samenfäden, Pollenkörner etc. abgeben und durch sie den Grund zum Entwicklungsprozeß eines neuen Repräsentanten derselben Art legen. Wenn man einen selbständigen Organismus als ein lebendes Indi- viduum bezeichnet, so muß man mehrere übereinander geordnete Stufen der Individualität im Organismen reich unterscheiden. Das Individuum niederster Ordnung ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, der bei fortschreitender Erkenntnis vielleicht noch eine weitere Vertiefung erfahren wird, die für sich lebende Zelle. Auf einer zweiten Stufe der Individualität befindet sich dann der viel- zellige Organismus, der sich gewissermaßen als eine Kolonie oder als ein Staat von Zellen betrachten läßt. In dem Individuum höherer Ordnung haben die elementaren Lebenseinheiten mehr oder minder ihre Selbständigkeit eingebüßt; sie haben Teile ihrer Autonomie an das Ganze abgetreten und werden infolgedessen von diesem in ihren Lebensäußerungen mitbedingt; sie sind, wie man sich auch aus- Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. ^ drücken kann, seine integrierten Teile geworden. Somit handelt es sich jedenfalls beim vielzelligen Organismus um nichts weniger als um ein Aggregat von Zellen (Bausteintheorie). Vielmehr sind jetzt die Zellen, wenn wir uns eines Vergleichs bedienen wollen, zu einer biologischen Verbindung vereint, wie in einem chemi- schen Körper die Elemente chemisch gebunden sind. Zwischen einem Aggregat und einer biologischen Verbindung von Zellen, die zu Teilen eines Organismus geworden sind, besteht ein ähnlich großer Unterschied, wie zwischen einem Gemisch von 2 Volumen Wasser- stoff und 1 Volumen Sauerstoff auf der einen Seite und ihrer chemi- schen Verbindung zu Wassermolekülen auf der anderen Seite. Wenn die Zelle die elementare Grundform des Lebens ist, zu welcher uns das Studium der Morphologie und Physiologie und der Entwicklung im gesamten Organismenreich immer wieder hinführt, so muß sie bei ihrer zentralen Bedeutung auch zum Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen bei der P'rage nach der Entstehung der Organismen und ihrer Organisation genommen werden. Hier könnte man nun allerdings der Ansicht sein, — und eine solche ist auch schon öfters von verschiedenen Seiten geäußert worden, — daß kein Grund vorliege in der Zerlegung der lebenden Substanz, bei der Zelle Halt zu machen. Denn auch ihr Körper baut sich wahrscheinlich wieder aus noch kleineren Teilen auf, die vielleicht für die Erklärung der Lebensprozesse in Zukunft von noch größerer Bedeutung sich erweisen werden, als die Zelle selbst. Hierauf aber läßt sich wohl erwidern, daß, wenn auch die Zu- kunft uns in der weiteren mikroskopischen Zerlegung der Zelle noch ungeahnte Fortschritte und ganz neue Grundlagen der Erkenntnis für die lebende Organisation bringen mag, dies zurzeit jedenfalls noch nicht der Fall ist. Noch befindet sich die ultramikroskopische Forschung in einem Zustand, wie ihn die Anatomie der 'Organe ein Jahrhundert vor Ausbildung der Zellenlehre darbot. Ohne Zweifel hat die mikroskopische Analyse der Zellen noch keinen einheitlichen Begriff schaffen können, der sich dem Zellbegriff an kausaler Be- deutung und Wichtigkeit für das Verständnis pflanzlicher und tierischer Organisation auch nur im entferntesten an die Seite stellen läßt. Daher steht gegenwärtig nach wie vor die Zelle im Mittelpunkt der biologischen Fragen, welche sich mit der Organisation und der Entstehung der Lebewesen beschäftigen. Vor allen Dingen aber steht die Zelle in dem Mittelpunkt der Zeugungslehre: denn sie bildet das Band, welches in der Reihe der einander folgenden Gene^ rationen die einzelnen Glieder miteinander verbindet. Sie geht als 56 Drittes Kapitel. einziger materieller Teil von der dem Tod entgegeneilenden Eltern- generation auf die zu neuem Leben aufblühende Kindergeneration über und überträgt so durch ihre Organisation Eigenschaften und Merkmale der einen auf die andere. Indem die alten Naturforscher, wie im ersten Aufsatz besprochen wurde, sich über dieses Geheimnis des Lebensprozesses keine auf Beobachtung begründete Vorstellung bilden konnten, verfielen sie in Spekulationen, welche uns Modernen so abenteuerlich anmuten (Präformation, Panspermie, Epigenesis). Erst mit der Erkenntnis, daß das Ei eine Zelle und als solche einer unbegrenzten Vermeh- rung durch Teilung fähig ist, fiel die aus philosophischen Erwägun- gen aufgestellte Hypothese von den präformierten Keimen, die im Eierstock von Eva eingeschaltet sein sollten, in sich zusammen. Mit der Teilbarkeit der lebenden Substanz war der Schlüssel für die Lösung des Rätsels gefunden, in welcher Weise sich die Organismen- welt durch Zeugung vermehrt und durch Hervorbringung immer neuer Generationen, während die alten sterben, in ihrem Bestand erhält. Zugleich mit der Einschachtelungslehre war jetzt auch auf Grund der neubeobachteten Tatsache die phantastische Annahme der Pan- spermie mit einem Schlage beseitigt. Die Bedeutung, die Buffon dem Modell mit seiner formgebenden Kraft zuschrieb, kommt jetzt der Zelle zu, welche für jede Organismenart spezifisch ist und durch ihre unbegrenzte Vermehrbarkeit die „matiere organique, toujours active“ von Buffon überflüssig macht. Beseitigt ist endlich Wolffs Vorstellung der Epigenesis aus einer unorganisierten Substanz, aus der sich unter der mystischen Wirkung von Bildungstrieben (Vis essentialis, Nisus formativus) die spezifischen Pflanzen- und Tierarten wie Kristalle in ihrer Mutter- lauge bilden sollen. Denn in der Keimzelle ist schon jede Orga- nismenart als Anlage spezifisch organisiert. Durch den Begriff „Anlage*4 ist der Nisus formativus ersetzt. Nach der Widerlegung der alten Lehren der Präformation, der Panspermie und der Epigenese ist an ihrer Stelle durch die über ein Jahrhundert sich erstreckende, unermüdliche Beobachtung der Natur die Kontinuität des Lebensprozesses endgültig festgestellt, aber jetzt in der Weise, daß die Organismen w'elt mit ihren un- zähligen Arten sich mit Hilfe des Zellen bildungsprozesses durch sich selbst erneuert, daß ihre heute lebenden Repräsentanten die letzten Glieder einer unendlichen Reihe von Generationen sind, die auf natürlichem Wege und in einer durch Naturforschung aufklär- baren Weise voneinander abstammen. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen, Ohne in Übertreibung zu verfallen, läßt sich daher wohl sagen: in der Geschichte der Biologie bedeutet die Entdeckung der Zelle den Wendepunkt, mit welchem eine neue Zeit mit klareren Einblicken in die Geheimnisse des Lebensprozesses, mit vollkomme- neren Methoden der Forschung und mit schärfer formulierten Zielen angebrochen ist Warum ist in früheren Zeiten von den vielen Forschern, die sich mit den Zeugungsfragen doch intensiv beschäftigt haben, ob- wohl sie durch den auf diesem Gebiet herrschenden Streit der Mei- nungen besonders zum Nachdenken angeregt worden waren, doch kein einziger auf spekulativem Wege auf die Möglichkeit der Er- haltung der Lebewesen durch Zellteilung geführt worden? Man kann hieraus die Lehre ziehen, wie sehr doch in den Naturwissen- schaften die Phantasie ohne das Leitseil der Erfahrung im Dunkel herumirrt und, dem Zufall preisgegeben, aus sich allein etwas Ver- nünftiges zu schaffen, kaum erwarten kann. Je verwickelter die Verhältnisse und Zusammenhänge werden, um so weniger vermag die der Erfahrung bare philosophische Urteilskraft aus sich das von der Natur befolgte Verfahren zu erfinden. Noch mehr aber muß es in unserem Fall uns mit Erstaunen erfüllen, daß die Entdeckung der Zelle und die ersten wirklich gemachten Beobachtungen von ihrer Vermehrung durch Teilung, die Beobachtungen von Molil und anderen Forschern, in ihrer großen Tragweite lange Zeit nur verhältnismäßig wenig gewürdigt wurden. Daran ist offenbar die in der damaligen Zeit herrschende Befangenheit in dem Vorstel- lungskreis der Epigenese schuld gewesen. Erst durch den denk- würdigen Ausspruch von VlRCHOW „Omnis cellula a cellula“ wurde die philosophische Bedeutung der sich immer mehr häufenden empirischen Beobachtungen über Zellteilung zum ersteh Male in ein besseres Licht gerückt; erschöpfend gewürdigt wurde sie aber doch erst in der jüngsten Zeit, und zwar in demselben Maße, als das Problem der Zeugung wieder das Nachdenken der Biologen in intensiver Weise auf sich zog und auf die Rolle der Zelle bei der Befruchtung und der Vererbung hinlenkte. Den naturgemäßen Ausgangspunkt für eine Untersuchung über „das Werden der Organismen“ müssen daher die Fragen bilden, welche sich auf das Wesen der Keimzelle beziehen. Wir haben hierbei unsere Aufgabe von den verschiedensten Gesichtspunkten aus in Angriff zu nehmen, mit allen Hilfsmitteln der mikrosko- pischen und physiologischen Zellforschung; wir gelangen so zur Gliederung unseres Themas in folgende 4 Abschnitte mit den Überschriften : 5« Drittes Kapitel. 1) Die Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 2) Die Organisation der Keimzellen auf Grund des ontogeneti- schen Kausalgesetzes. 3) Die Organisation der Keimzellen auf Grund der durch Men- del begonnenen Forschungsrichtung. 4) Die mikroskopische Erforschung des Befruchtungsprozesses, der Eireife und der Samenreife, und die auf diesen Grundlagen gewonnenen Vorstellungen von der Organisation der Keimzellen. I Die Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen 1). Im Pflanzen- und Tierreich dienen die Keimzellen entweder zur Vermehrung auf ungeschlechtlichem Wege und werden in diesem Fall gewöhnlich als Sporen, in manchen ' Tier abteilun gen auch als Jungferneier bezeichnet, oder sie treten im Dienst der geschlecht- lichen Zeugung in einer weiblichen und einer männlichen Form auf. Die einen heißen dann Eier, weibliche Gameten etc., die an- deren, je nach ihrer Form, Samenfäden, Pollenkörner, männliche Gameten. Erst durch ihre Vereinigung liefern beide beim Befruch- tungsakt die Anlage, aus welcher ein neues Geschöpf entsteht, die befruchtete Eizelle. Obwohl die völlig ausgebildeten Eier und Samenfäden, wie na- mentlich ihre Entstehungsgeschichte lehrt, den Formenwert von Zellen besitzen, unterscheiden sie sich doch sowohl von gewöhn- lichen Zellen als auch untereinander in sehr auffälliger Weise. Die Eier (Fig. 1) sind oft von Riesengröße und übertreffen durch sie, besonders im Tierreich, auch die größten Zellen des Körpers. Da- gegen sind die Samenfäden (Fig. 2) die allerkleinsten Eiern entarteile und bestehen aus einer Substanzmasse, die nicht selten um das Millionenfache geringer als diejenige des Eies ist. Nach einer Schätzung von Thuret z. B. beträgt das Ei von Fucus, einer See- tangspezies (Fig. 3) an Masse so viel wie 30000 — 60000 Spermato- zoen derselben Art. Zwischen den tierischen Geschlechtsprodukten aber sind die Unterschiede gewöhnlich noch unendlich viel größere, besonders in den Fällen, wo die Eizellen - — man denke nur an die Dotterkugel des Hühnereies — - mit Reservestoffen, wie Fettkügel- chen, Dotterplättchen etc., reichlich beladen sind. 1) Wegen der Literatur verweise ich auf meine „Allgemeine Biologie“ (5. Aufl.) 1920. Dort sind auch die in diesem Kapitel behandelten Gegenstände noch ausführlicher dar'gestellt. Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 59 Der auffällige Gegensatz findet seine einfache Erklärung in dem Umstand, daß weibliche und männliche Geschlechtszellen eine verschiedene Aufgabe bei der auf geschlechtlicher Zeugung beru- henden Entwicklung übernommen haben. Zwischen beiden ist wie man sich in der allgemeinen Biologie gewöhnlich ausdrückt, eine physiologische Arbeitsteilung eingetreten, für welche folgendes Fig. i. Ei aus einem 2 mm dicken Follikel des Kaninchens. Nach Waldeyer. Dasselbe ist von der Zona pellucida ( zp ) umgeben, welcher an einer Stelle Follikelzellen (fz) aufsitzen. Der Dotter enthält Körner von Deutoplasma ( d ). In das Keimbläschen ( kb ) ist das Kernnetz (kn) besonders eingezeichnet, welches einen großen Keimfleck (kf) einschließt. Fig. 2. Samenfäden vom Menschen. Nach G. Retzius. A Profilansicht; B Flächenansicht; Cp Kopf; Cd Schwanz; Pf Perforatorium ; Pc Verbindungsstück des Schwanzes ; P. pr. Hauptstück des Schwanzes ; L. P. pr. Grenze des Hauptstückes gegen das Endstück des Schwanzes (P. t.). zur Orientierung dienen mag. Bei der Vereinigung zweier Zellen zur Bildung eines entwicklungsfähigen Keimes kommen zwei Mo- mente in Betracht, die miteinander konkurrieren und in einem Ge- gensatz zueinander stehen. Erstens müssen die 2 Zellen, die sich zu einer gemischten Anlage vereinigen, imstande sein, sich aufzusuchen und zu verbinden. Zweitens aber ist es auch von Wichtigkeit, wenn sich ein vielzelliger, komplizierter Organismus in einem kurz be- messenen Zeitraum aus dem Verschmelzungsprodukt entwickeln soll, 6o Drittes Kapitel. daß gleich von Anfang an viel entwicklungsfähige Substanz vor- handen ist und nicht erst auf dem zeitraubenden Umweg der Er- nährung von den sich bildenden und differenzierenden Embryonal- zellen selbst herbeigeschafft zu werden braucht. So konkurrieren zwei Momente miteinander, von denen das eine die Zelle beweglich und aktiv, das andere dagegen unbeweglich und passiv zu machen sucht. Die Natur hat beide Aufgaben gelöst, indem sie Eigen- schaften, die wegen ihrer Gegensätzlichkeit in einem Körper nicht zu vereinigen sind, nach dem Prinzip der Arbeitsteilung auf die beiden sich im Befruchtungsakt verbindenden Zellen verteilt hat. Sie hat die eine Zelle aktiv, beweglich und befruchtend, d. h. männlich, Fig. 3. Spermatozoiden ( G ) von Fucus platycarpus, 540mal vergrößert. Ei (F) mit anhaftenden Spermatozoiden 240mal vergrößert. (Nach Strasburger.) die andere 'dagegen durch reichliche Ernährung passiv und empfan- gend, d. h. weiblich gemacht. Daher hat das Ei während seiner Ent- wicklung im Eierstock Dottermaterial auf gespeichert und ist riesengroß und unbeweglich geworden. Im Gegensatz hierzu hat sich die männ- liche Geschlechtszelle während ihrer Bildung in den Samenröhrchen, je vollkommener sie ihrer Aufgabe angepaßt ist, um so mehr aller Substanzen entledigt, welche, wie das Dotter material oder selbst das Protoplasma, diesem Hauptzweck hinderlich sind. Sie hat sich da- bei in einen kontraktilen Faden umgebildet (Fig. 2) und zugleich auch eine Form angenommen, welche für den Durchtritt durch die Hüllen, mit welchen sich das Ei zum Schutz umgibt, und für das Einbohren in den Dotter die zweckmäßigste ist. Mit einem Wort: Eier und Samenfäden sind durch Arbeitsteilung histologisch ver- schiedenartig differenzierte Elementarteile geworden. In der Lebensgeschichte der beiderlei Keimzellen findet sich indessen auch ein Stadium, auf welchem sie noch undifferenziert sind und sich von anderen jugendlichen, embryonalen und für an- Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 5 1 dere Aufgaben im Körper bestimmten Zellen kaum unterscheiden lassen; es sind die Ureier und die Ursamenzellen. Die Ureier im Eierstock des Embryo, von denen sich die Reifeier in kontinuier- licher Abstammungslinie herleiten lassen, sind kleine runde Proto- plasmaklümpchen mit Kernen, wie andere jugendliche tierische Zellen. Dasselbe gilt von den Ursamenzellen in den Samenröhrchen, aus deren Teilungen die Samenzellen abstammen, die sich dann in Spermatozoen umwandeln. Somit erweisen sich beim Studium ihrer Entwicklung sowohl Eier als Samenfäden — das wollen wir auch im folgenden im Auge behalten — als zwei Elementarteile des tierischen Körpers, die anfangs einander vollkommen gleich- artig und gleichwertig (äquivalent) sind. Erst später haben sie sich für besondere Zwecke der geschlechtlichen Zeugung in verschie- dener Richtung histologisch differenziert. Die Sporen, die der ungeschlechtlichen Vermehrung dienen, ebenso die zum befruchteten Ei vereinten Eier und Samenfäden besitzen, wie alle Zellen, das wunderbare Vermögen zu wachsen und sich durch Teilung in unbegrenzter Weise zu vermehren Fig. 4. Verschiedene Stadien des Furchungsprozesses. (Nach Gegenbaur.) (Fig. 4). Hierdurch steht die lebende Substanz in einem fundamen- talen Gegensatz zu den Stoffen der leblosen Welt und kann, solange sie sich unter geeigneten Lebensbedingungen befindet, in gewissem Sinne als unzerstörbar bezeichnet werden; stammen doch die jetzt lebenden Arten von Pflanzen durch Vermittlung des Zellenteilungs- prozesses von Vorfahren ab, die schon vor vielen Erdperioden gelebt haben. Wollten wir auch nur einen ungefähren Versuch machen, uns die Zahl der Zellengenerationen auszurechnen, deren Endglied die Keimzellen einer Pflanzen- oder Tierart der Gegen- wart darstellen, so würden wir bald zu so unermeßlich vielstelligen Zahlenreihen kommen, daß sie sich weder in Schriftzeichen wieder- geben noch mit unserem Verstände erfassen lassen. Man kann dieses Ergebnis der biologischen Forschung, das über jeden Zweifel sichergestellt ist, als das Gesetz der durch den Zelltei- 6 2 Drittes Kapitel. lungsprozeß vermittelten Kontinuität der lebenden Substanz bezeichnen, ein Gesetz, zu deren Erklärung die Evo- lutionisten ihrer Zeit die Hypothese der ineinander geschachtelten Keime erfunden hatten. In der Anfangsperiode der Zellentheorie nahmen die Forscher Wachstum und Teilbarkeit nur für den Protoplasmakörper der Zelle an. Es gehört zu den wichtigsten Errungenschaften der modernen Biologie, den Nachweis und die Erkenntnis gebracht zu haben, daß auch das im Protoplasma eingebettete Eundamentalorgan der Zelle, der Kern, wächst und durch periodisch wiederkehrende Teilung, die meist mit der Zellteilung Hand in Hand geht, sich gleichfalls in un- begrenzter Weise vermehren kann. Der Satz „Omnis cellula a cellula“ hat daher seine gleich wuchtige Ergänzung und Erweiterung in dem zweiten Fundamentalsatz der Zellenlehre „Omnis nucleus a nucleo“ gefunden. Neben der Kontinuität der Zellgenerationen besteht daher ein entsprechendes Gesetz der Kontinuität der Kerngenerationen, die sich gleichfalls über unermeßliche Zeiträume erstreckt. Zwischen dem Wachstum und der Vermehrungs weise des proto- plasmatischen Zellkörpers und des Kerns ergeben sich hierbei nicht unwichtige Unterschiede. Die Zelle als Ganzes bezieht das Material zu ihrem Wachstum von außen, teils wie die pflanzliche Zrlle .aus Stoffen der unorganischen Welt, die sie durch Synthese in Bestand- teile ihres eigenen Körpers umwandelt, teils bemächtigt sie sich, wie bei den Tieren, der organischen Substanz, die schon von anderen Lebewesen gebildet worden ist, und macht sie sich nach voraus- gegangener chemischer Umsetzung zu eigen. Ferner teilt sich der Protoplasmakörper vermöge des ihm innewohnenden Kontraktions- vermögens in relativ einfacher Weise gewöhnlich in zwei Stücke von gleicher oder in selteneren Fällen von ungleicher Größe (Fig. 4) Ganz anders verhält sich der Kern. Er bezieht, wenn wir von dem Sauerstoff absehen, der wohl für die chemischen Umsetzungen im Protoplasma und im Kern gleich notwendig ist und von außen aufgenommen wird, die zu seinem Wachstum erforderlichen Stoffe aus dem Protoplasma. Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn sich das befruchtete Ei zu entwickeln beginnt. Denn dann verändert sich in wenigen Tagen das Massen Verhältnis zwischen Kern und Protoplasma ganz außerordentlich. Während das Protoplasma nahe- zu unverändert bleibt oder sogar an Masse eine Zeitlang abnimmt, weil es in Kernsubstanz umgewandelt wird, vermehrt sich diese mit Beginn des Furchungsprozesses in geometrischer Progression Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen in demselben Verhältnis, als die Zahl der Zellen zunimmt; sie be- trägt also auf dem Stadium von 128 Embryonalzellen das 128-fache des nach der Befruchtung gebildeten Keimkerns, auf dem Stadium von 10000 Zellen das 10000-fache usw. So wird schließlich ein Verhältnis erreicht, daß die Kernsubstanz, die im befruchteten Ei dem Protoplasma gegenüber einen ganz verschwindenden Bruchteil ausmacht, schließlich ihm an Masse nahezu gleichkommt. Am sicht- barsten tritt dies an einer Substanz des Kerns hervor, die man als Chromatin bezeichnet, weil sie eine starke Affinität zu ver- schiedenen Arten von Farbstoffen besitzt, sich infolgedessen im mikroskopischen Präparat färben und dadurch von dem ungefärbt gebliebenen übrigen Inhalt der Zelle schärfer unterscheiden läßt. Die Vermehrung und Verteilung des Chromatins auf eine immer größer werdende Zahl von Kernen vollzieht sich hierbei in einer Weise, die ohne Frage sehr viel komplizierter als das Ver- halten des Protoplasma bei der Zellteilung ist; daher ist auch die Karyokinese oder Mitose, mit welchem Namen man den Prozeß der Kernteilung bezeichnet, ein Gegenstand sehr umfassender Unter- suchungen gewesen und wird noch immer zum besseren Verständnis dieses oder jenes Punktes viel studiert. Im wesentlichen aber er- fährt in ihrem Verlauf das Chromatin folgende charakteristische Veränderungen, welche bei Pflanzen und Tieren in ziemlich gleich- artiger Weise wiederkehren (Fig. 5). Es wandelt sich nämlich in den Vorphasen der Karyokinese in einen feinen, gleichmäßig aus- gezogenen Faden um (Fig. 5 A chf). Dann wird der Faden nach Schwund der Kernmembran (km) in eine gesetzmäßige konstante Zahl von nahezu gleich großen Segmenten, den Chromosomen, ab- geteilt (B ehr), die sich in der Mitte einer aus Lininfasern gebildeten Kernspindel (sp) zum Mutterstern anordnen. Bei verschiedenen Organismen beträgt die Zahl derselben 2, 4, 12, 16, 24 oder mehr. Wenn also bei einer Pflanzen- oder Tierart diese oder jene Gewebs- zelle sich teilt, dann bildet sich immer aus dem Inhalt des bläschen- förmigen Ruhekerns die für die betreffende Spezies typische Zahl der Chromosomen von neuem aus. Man kann daher mit Recht von einem Zahlengesetz der Chrom o som en sprechen. Auch sind viele Forscher hierdurch veranlaßt worden, den Chromosomen gleichsam eine besondere Individualität zuzuschreiben, d. h. sie halten sie für individualisierte Gebilde, die auch im ruhenden Kern, wo sie sich nicht voneinander abgrenzen und unterscheiden lassen, als solche gleichwohl vorhanden sind. Kommen doch aus jedem ruhenden Kern bei Beginn einer neuen Karyokinese so viel Chromosomen 64 Drittes Kapitel. wieder hervor, als beim Abschluß der vorausgegangenen Karyo- kinese in ihn eingetreten sind. Die größte Bedeutung aber kommt wohl einem Vorgang zu, der gleichsam den Höhepunkt in jeder Karyokinese, bildet und in einer Längsspaltung der einzelnen Chromosomen und Zerlegung in zwei Tochterchromosomen besteht (Fig. 5 C tchr). Es geschieht dies zu der Zeit, wo sich die Chromosomen (ehr) in der Mitte der Spindel (B sp) und rings um dieselbe herum zu einer Äquatorialplatte, dem Mutter- stern Flemmings, regelmäßig angeordnet haben. Nach der Spaltung a b Fig. 5. Schema der Kernteilung- von Zellen der Salamanderlarve. Nach C. Rabl aus Kollmann. A Kern in Vorbereitung zur Teilung, chf gewundener Chro- matinfaden, km Kernmembran, ks Kernsaft, pr Protoplasma. B Zelle mit Kernspindel und Mutterstern, st Protoplasmastrahlunjr, c Centrosom, sp Spindel, ehr Mutterchromosomen. C Zelle mit Kernspindel und den beiden Tochtersternen. Teilung der Mutterchromosomen durch Längsspaltung in je zwei Tochterchromosomen und Trennung der letzteren in zwei Gruppen, welche die beiden Tochtersterne bilden, sp Spindel, tchr die beiden Gruppen der Tochterchromosomen. D Teilung der Mutterzelle in zwei Tochterzellen, deren jede wieder einen bläschenförmigen Kern durch Umbildung der beiden Gruppen der Tochterchromosomen erhält, te Teilebene des Zellkörpers, tchr Tochterchromosomen. beginnen dann die Teilhälften eines jeden Chromosoms nach ent- gegengesetzten Enden der Spindel auseinanderzuweichen (C tchr ) und auf diese Weise die beiden Tochtersterne zu liefern. Von diesen wird je einer bei der Teilung der Mutterzelle in je eine Tochterzelle aufgenommen und wird in ihr wieder zur Grundlage für einen neuen, bläschenförmigen Tochterkern (Fig. 5 D). Organisation der Keimzelle auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. Wie wohl mit Recht hervorgehoben worden ist, läßt sich in dem eigentümlichen Verlauf der Karyokinese, in der Anordnung des Chromatins zu einem feinen Faden, in der Zerlegung desselben in eine konstante Zahl von Chromosomen und in ihrer anschließenden Längsspaltung ein relativ einfaches und doch sicher wirkendes Mittel erblicken, durch welches es ermöglicht wird, eine aus vielen quali- tativ verschiedenen Teilen zusammengesetzte Substanz durchaus gleichmäßig in zwei genau entsprechende Hälften zu zerlegen (Roux). Nehmen wir an, das auf dem Kernnetz ausgebreitete Chromatin bestände aus zahllosen Kügelchen verschiedener Eiweißverbindungen, so wäre auf dem Wege der Karyokinese eine gleichmäßige Ver- teilung auf die Tochterkerne leicht zu erreichen. Es brauchen näm- lich nur die Kügelchen in einfacher Weise sich in dem Kernfaden hintereinander aufzureihen und sich dann, ein jedes für sich, in der Richtung, wie sich der Längsspalt im Chromosom ausbildet, durch Einschnürung zu teilen. Dann würden sich in jedem Tochterfaden die Hälften der Chromatinkügelchen in genau entsprechender Reihen- folge finden und würden bei der Zellteilung in jede Tochterzelle aufgenommen werden. Wie ferner aus dem Gesamtverlauf der Karyokinese geschlossen werden muß, vermehrt sich nach jeder Zellteilung das halbierte Chromatin des Mutterkerns wieder durch Wachstum auf die doppelte Masse in den Tochterkernen, um dann durch eine neue Karyokinese abermals halbiert zu werden und so fort. Das Gesetz des „proportionalen Kernwachstums“ und der Zerlegung des Chromatins in zwei äquivalente Hälften tritt wohl am deutlichsten im Verlauf des Furchungsprozesses hervor. Daß jedenfalls dem Kern eine feinere Organisation zukommt, lehrt außer dem Studium der Karyokinese auch die mikrochemische Untersuchung der ihn zusammensetzenden Substanzen. Mit unseren Methoden, die in Anbetracht des zu analysierenden Gegenstandes ge- wiß als sehr grobe zu bezeichnen sind, können wir im Kern außer dem eben besprochenen Chromatin noch einige weitere Eiweißkörper, kenntlich an ihren verschiedenen mikrochemischen Reaktionen, unter- scheiden: i) das achromatische Kerngerüst aus Linin, 2) die Substanz der Nukleolen und endlich 3) die winzigen Centrosomen. Sie alle wirken bei der Karyokinese in gesetzmäßiger Weise zusammen und haben im Zellenleben wahrscheinlich verschiedene Aufgaben zu er- füllen. Gestützt auf viele Erscheinungen des Zellenlebens, kann man wohl mit Recht annehmen, daß der Kern in der Physiologie der Zelle eine doppelte Rolle spielt. Die eine äußert sich bei der Ver- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. c 66 Drittes Kapitel. > w, V. « ri*-'"- Wi mehrung der Zelle und findet im karyokinetischen Prozeß einen sinn- fälligen Ausdruck. Hierbei handelt es sich um die Verteilung des Chromatins in äquivalenten Mengen auf die Tochterzellen. Zweitens ist der Kern auch am Stoffwechselprozeß der Zelle auf das vielseitigste beteiligt. Hierbei nimmt er nicht nur Stoffe zu eigenem Wachstum aus dem Protoplasma auf, wie schon früher in betreff der Chromatinbildung im befruchteten Ei bemerkt wurde, sondern gibt wahrscheinlich auch seinerseits Stoffe an den Zell- körper ab. Allerdings sind über diesen Punkt die in der Literatur vorliegenden Angaben zum Teil noch weniger sichergestellt. Ferner übt der Kern wohl auf die for- mativen Prozesse in der Zelle, wie auf die Entstehung der ver- schiedenen Protoplasmaprodukte in irgendeiner Weise seinen Ein- fluß aus. Im Gegensatz zur gene- . rativen bezeichnet man diese Art seiner Funktion als die nutritive. Auf seine nutritive Funktion deuten mancherlei Erscheinungen des Zellenlebens hin: sowohl die Wanderung des Kerns nach den Stellen größerer formativer Tätig- keit als auch die Zunahme einzelner Substanzen in ihm Hand in Hand mit begleitenden Veränderungen im Zellkörper. Proportional zur *•’. 9 £ ® Vergrößerung der Zelle dehnt sich auch ihr Kern aus, wird reicher Fig. 6. Keimbläschen eines 0,8 mm 0 Ca t. . . großen Tritoneies. Vergr. 180. Nach an Saft, an Linin und vor allen Carnoy und Lfbrun. Von den sehr zahl- Dingen an Nukleolarsubstanz. reichen Keimflerken liefen die meisten noch ^ TT , , .. in der Nähe der Kernmembran. Einzelne RICHARD HERTWIG hat dieses beginnen nach dem Zentrum zu wandern. Die Verhältnis als „ die Kernplas- & ^ • e . h i ‘ 1 - •*/ ; # ■ <9/ chromatischen Fäden, von denen einer sehr stark vergrößert dargestellt ist, sind einer Flaschenbürste vergleichbar. marelation“ bezeichnet. Bei- spiele hierfür bieten die Ganglien- zellen, vereinzelte große Drüsen- zellen wirbelloser Tiere mit ihren multinukleolären Kernen, ganz be- sonders aber die Eier, welche durch Ansammlung von Nahrungsdotter so außergewöhnliche Dimensionen erreichen. In ihren Riesenkernen, den Keimbläschen, ist gewöhnlich die Nukleolarsubstanz ebenfalls in außergewöhnlicher Weise vermehrt. Während bei den kleineren Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. Eiern der Säugetiere sich gewöhnlich nur ein großer Keimfleck vorfindet (Fig. i), ist ihre Zahl in den großen dotterreichen Eiern der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel auf viele Hunderte gestiegen (Fig. 6). Das regelmäßige Zusammentreffen beider Er- scheinungen, die massenhafte Dotterbildung auf der einen und die Zunahme der Nukleolen (Keimflecke) auf der anderen Seite, scheint auf engere Beziehungen zwischen beiden Prozessen hinzuweisen. Auch nehmen die Nukleolen bei der Karyokinese eine eigenartige Stellung ein. Während das Chromatin auf die Spindel verteilt wird, beginnen sie in immer kleinere Partikelchen zu zerfallen, und wenn die Kernmembran sich aufgelöst hat, sich nebst dem Kernsaft im Protoplasma zu verteilen und sich der weiteren Nachforschung zu entziehen. In den Tochterkernen aber entstehen die Nukleolen all- mählich wieder von neuem. Ein entsprechender Vorgang findet in den Eiern zur Zeit der Bildung der Richtungsspindel bei der Auflösung des Keimbläschens statt Auch hier zerfällt der einfache Nucleolus, und ebenso zerfallen bei den Fischen, Amphibien und Reptilien die Hunderte von Keimflecken. Die Unterscheidung zweier Bestandteile im Kern, von denen der eine bei der Fortplanzung, der andere beim Stoffwechsel eine Rolle spielt, findet eine Stütze, man könnte sogar sagen, eine Art von Bestätigung in dem Kernapparat der Infusorien. Dieser besteht in der Tat aus zwei ganz getrennten, nebeneinander gelegenen Ab- schnitten, die schon seit langer Zeit bekannt sind und gewöhnlich als Haupt- und Nebenkern beschrieben werden. Bei der Kopulation der Infusorien verhalten sich die Nebenkerne der zwei gepaarten Individuen in jeder Beziehung wie Ei- und Samenkern im tierischen Ei. Sie machen einen Reduktionsprozeß durch; der reduzierte statio- näre Kern und der reduzierte Wanderkern verschmelzen unterein- ander, wie Ei- und Samenkern im Ei, vermehren sich durch Teilung und sondern sich dann zuletzt in Haupt- und Nebenkern. Während- dem aber ist der alte Hauptkern in immer zahlreicher werdende Partikelchen zerfallen, die sich schließlich wie die Keimflecke des Keimbläschens im Infusorienkörper auflösen und durch den eben erwähnten, neu angelegten Hauptkern ersetzt werden. Haupt- und Nebenkern der Infusorien werden von manchen Forschern daher auch geradezu als Stoffwechselkern und als Geschlechtskern unter- schieden. Wenn die angeführten und andere erst später zu erörternde Gründe dafür sprechen, daß dem Kern im allgemeinen wohl ein höherer Grad von Organisation als dem Protoplasma zukommt, so 5: 68 Drittes Kapitel. besitzt doch auch dieses, wie zahlreiche neue Beobachtungen lehren, einen komplizierteren Bau, als man früher annahm. Auch im Proto- plasma sind mit den stärksten mikroskopischen Objektivlinsen und durch geschickte Verwertung einer besser ausgebildeten Färbe- technik kleinste, chemisch differente Stoffgebilde nachgewiesen worden, die das Vermögen des eigenen Wachstums und die Fähig- keit haben, sich durch Teilung zu vermehren. Sie sind mit den ver- schiedensten Namen, wie Teilkörperchen, Granula, Mitochondrien, Plastosomen, Chondriosomen etc., belegt worden. Die meisten stehen wohl zur Erzeugung besonderer Stoff Wechsel produkte in enger Be- ziehung, wie zur Bildung von Pigment, von Fett, von Stärke, Chloro- phyll, von Drüsensekreten etc. Daher kann eine Gruppe von ihnen als Stoff wechselorgan eilen zusammen gefaßt werden. Zumal in den Pflanzenzellen erreichen diese eine erhebliche Größe, wie die Chloro- phyllkörner (Fig. 7). An ihnen ist die Vermehrungsfähigkeit durch Teilung am frühesten festgestellt worden. & lung. Vergr. 540. Strasburger. Nach Hervorgegangen aus Leukoplasten, dienen sie als besondere Zellorgane für Bildung von Chlorophyll und Stärke. Ihnen schließen sich die Stärkebildner (Amyloplasten) an, in denen Fig. 7. Chlorophyll- von kleinsten Anfängen an umfangreiche körner aus dem Blatt Stärkekörner als Reservestoffe entstehen und trica, ruhend und in Tei- spatere Verwendung vorübergehend ab- gelagert werden. Andere Stoffwechselorga- nellen wieder, wie die Chromopiasten, sind mit der Erzeugung besonderer Pigmente be- traut. Komplizierte Strukturen werden ferner auch im tierischen Körper durch die formative Tätigkeit des Protoplasmas für besondere Arbeitsleistungen geschaffen, wie namentlich die Muskel- und die Nervenfibrillen. Wenn man dies alles zusammenrechnet und zu einem Gesamt- bild zu vereinigen sucht, so wird man sich der Überzeugung nicht verschließen können, daß der Zellenleib einen sehr viel höheren Grad feinerer Organisation besitzt, als die Begründer der Zellen- lehre früher jemals geglaubt haben. Zwar ist es zurzeit noch un- möglich, die verschiedenartigen Teilkörperchen, die Organellen, welche sich in der lebenden Substanz der Zelle entwickeln können, auf ein gemeinsames, einheitliches Bildungsprinzip zurückzuführen. Wir befinden uns hier, wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe, etwa in derselben Lage, wie vor hundert Jahren bei der Frage nach dem elementaren Aufbau der Organismen vor der Ent- Organisation der Keimzelle auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes. deckung des Prinzips der Zellenbildung. Es ist auch nicht daran zu zweifeln, daß in der begonnenen Forschungsrichtung noch viele neue Entdeckungen von der Zukunft zu erwarten sind. Die fort- schreitende Verbesserung aller mikroskopischen Hilfsmittel und die Auffindung neuer, für besondere Zwecke geeigneter Untersuchungs- objekte, was von wesentlicher Bedeutung sein kann, berechtigen uns zu dieser Hoffnung. 2. Die Organisation der Keimzelle auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes 1). Noch mehr als durch die Ergebnisse mikroskopischer Unter- suchungen werden wir in unserer Auffassung von der ungemein komplizierten Organisation der Keimzellen durch logische Erwä- gungen mehr allgemeiner Art bestimmt, wie sie in dem von mir formulierten und näher begründeten ontogenetischen Kausalgesetz zusammengefaßt worden sind. Das ontogenetische Kausalgesetz geht von der Erfahrungs- tatsache aus, daß aus einer bestimmten Keimzelle sich immer nur eine bestimmte Organismenart mit unfehlbarer Sicherheit entwickelt. „Die Eizellen enthalten“ — wie schon NäGELI treffend bemerkt hat — „alle wesentlichen Merkmale der Art ebensogut, wie der ausgebildete Organismus, und als Eizellen unterscheiden sich die Organismen nicht minder voneinander als im entwickelten Zustande. In dem Hühnerei ist die Spezies ebenso vollständig enthalten, als im Huhn, und das Hühnerei ist von [dem Froschei ebensoweit verschieden als das Huhn vom Frosch.“ In gewissem Sinne hatten daher die alten Evolutionisten voll- kommen recht, wenn sie schon das unbefruchtete Froschei, wie es Spallanzani tat, als das Fröschchen im kleinen bezeichneten (vgl. auch S. 4). Sie irrten nur, indem sie hierbei den Bau des erwach- senen Tieres im unentwickelten Ei schon in Miniaturformat vor- aussetzten. Nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse würden wir zutreffender das unbefruchtete Froschei als die „Spezies Frosch im Eizellenstadium“ definieren. Was von den Eiern, gilt aber nicht minder auch von den männlichen Keimzellen. Der Beweis für diese Behauptung wird noch an späterer Stelle geführt werden. Es gilt endlich überhaupt von allen einzelnen Zellen und Zellenkomplexen, welche als Sporen 1) Oscar Hertwig, Elemente der Entwicklungslehre. 6. Auflage 1920. Schluß kapitel: Das ontogenetische Kausalgesetz. S. 475 — 487. 70 Drittes Kapitel. und Knospen, vom Mutterorganismus abgelöst, imstande sind, ihn wieder zu erzeugen. Zwar müssen noch viele andere Momente, die man als die Ent- wicklungsbedingungen zusammenfassen kann, erfüllt sein, damit eine bestimmte Keimzelle sich in einen bestimmten erwachsenen Organismus umwandeln kann. Es muß, um nur die wichtigsten zu nennen, für die jederzeit notwendige Zufuhr von Sauerstoff, für eine geeignete Temperatur und für einen geeigneten Feuchtigkeitsgehalt der Umgebung, endlich für die passenden Stoffe zur Ernährung während der Entwicklung gesorgt sein. Da ohne Erfüllung derartiger Bedingungen der Entwicklungsprozeß nicht zum normalen Abschluß gebracht werden kann, so sind sie an sich ebenso notwendig wie die Keim- zelle. Gleichwohl besteht zwischen ihr und den äußeren Bedin- gungen der wichtige und fundamentale Unterschied, daß die Ent- wicklung eines Organismus in ihrer spezifischen Art einzig und allein durch die spezifische Organisation der Keimzelle bestimmt wird. Daher hat sich für diese ja auch in der deutschen Sprache die tief philosophische Bezeichnung „Anlage“ eingebürgert. Ein jeder weiß aus eigenet Erfahrung und kann sich leicht durch ein Experiment davon überzeugen, daß wenn ein Hühner-, ein Gänse- und ein Entenei sich in demselben Brutofen gleichzeitig unter genau den gleichen Bedingungen entwickeln, unfehlbar nur ein Hühner-, ein Gänse- und ein Entenküchlein aus den betreffenden Eiern ausschlüpfen können. Dies rührt daher, daß durch die äußeren Bedingungen, so notwendig sie an sich sind, doch kein einziges spezifisches Artmerkmal sich beim gewöhnlichen Verlauf der Dinge in die ontogenetische Entwicklung unvermittelt neu ein- führen läßt. Zwar können alle Organismen unter außergewöhnlichen Ent- wicklungsbedingungen in ihren verschiedenen Teilen bald mehr bald minder variieren, sie können sogar durch intensivere Eingriffe charakteristische Mißbildungen liefern. In einem Widerspruch zu unserem oben formulierten Satz stehen indessen alle diese Tat- sachen nicht, wie in einem späteren Kapitel über die Variabilität der Organismen noch eingehender ausgeführt werden wird. Es steht somit fest: das Ei oder — allgemeiner gesagt — die Keim- zelle ist es einzig und allein, welche als Anlage die Eigenart eines Organismus bestimmt. Gleichwohl hat man vor wenigen Jahrzehnten nicht selten von der Zelle als von einem „Klümpchen einfachen Protoplasmas“ ge- sprochen, geleitet von der tendenziösen Absicht, zu zeigen, wie Organisation der Keimzelle auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes. sich die Entstehung der Lebewesen aus einfachsten Anfängen wissenschaftlich begründen läßt. Nichts ist geeigneter, als diese Aüsdrucksweise, eine Reihe der irrtümlichsten Vorstellungen über fundamentale biologische Verhältnisse wachzurufen. Genau das Gegenteil entspricht der Wahrheit. Es gibt in der Natur nichts Komplizierteres und nichts Wunderbareres, als die Keimzelle einer höheren Organismen art. Sie ist für sich schon ein Mikrokosmus, welcher für den Biologen eine unendliche Fülle von Problemen in sich birgt, die zu entscheiden zu den schwierigsten Aufgaben gegen- wärtiger und zukünftiger Naturforschung gehört. Wenn die Keimzellen, seien es Eier, Samenfäden oder Sporen, nach dem onotgenetischen Kausalgesetz schon die Anlage oder das Naturgesetz, nach welchem sich aus ihnen nur eine ganz bestimmte oder spezifische Organismenart entwickeln muß, fertig in sich tragen, so werden durch den Entwicklungsprozeß nur die Anlagen, die als solche für unser derzeitiges Erkenntnisvermögen nicht erforschbar sind, allmählich offenbar gemacht. Gesetzt daher den Fall, daß wir eine entsprechende Kenntnis vom feineren Bau der Keimzellen oder nach Nägelis Hypothese von der Konfiguration ihres Idioplasma (vgl. Kap. III, 4.) besitzen würden, so würden wir auch schon allein auf dieser Grundlage eine Klassifikation des Organismenreichs vor- nehmen können, wahrscheinlich in besserer Weise, als wir es heute auf Grund unserer Kenntnis der ausgebildeten Formen tun; wir würden imstande sein, nach diesem neuen Prinzip die Keimzellen der verschiedenen Organismen nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit in Stämme, Klassen, Ordnungen, Fa- milien, Arten, Unterarten etc. einzuteilen, wie es die Chemiker mit ihren Verbindungen auf Grund der molekularen Zusammensetzung derselben und den weiter hieraus abgeleiteten Strukturformeln tun. Aus solchen Erwägungen heraus habe ich den Begriff der „Artzelle“ in die Biologie neu eingeführt (vgl. mein Lehrbuch* Die Zelle und die Gewebe,'. Bd. I, 1893, p. 267; Bd. II, 1898, p. 8). Nicht ohne Interesse dürfte es sein, sich eine ungefähre Vorstellung von ihrer Anzahl zu machen. Nach dem ontogenetischen Kausal- gesetz gibt es in der Natur eine für unser Vorstellungsvermögen schier unfaßbare Fülle verschiedener Artzellen. Schätzen doch die Systematiker die Anzahl der bis ietzt beschriebenen Tierarten schon auf mehr als eine halbe Million; dazu kommen die verschiedenen Pflanzenspezies, von denen auch schon mehrere Hunderttausend durch Diagnose festgestellt sind; ferner die allerverschiedensten einzelligen Lebewesen, Algen, Pilze, Flagellaten, Bakterien, Infu- sorien, Foraminiferen etc., die im Haushalt der Natur oft eine sehr 72 Drittes Kapitel. wichtige Rolle spielen und deren Artenreichtum sich zurzeit noch kaum übersehen läßt. Somit ist es nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß gewiß eine Million von Artzellen, die nach Organi- sation und Anlage verschieden sind, unsere Erde bevölkert. Und doch ist hiermit der Reichtum von Organisationsverhältnissen, die schon im Rahmen der Zelle verwirklicht sind, bei weitem nicht er- schöpft. Man braucht sich bloß zu vergegenwärtigen, daß sehr viele Arten wieder in zahlreiche Unterarten, Varietäten, in MENDELsche Arten und reine Linien (siehe Kap. VII) zerfallen, die sich vonein- ander oft nur durch ein Merkmal unterscheiden, dieses aber mit Konstanz auf ihre Nachkommen vererben. Es sei nur kurz an die vielen Varietäten der Rose, der Birne und Stachelbeere oder der Taube und des Hundes erinnert. Im Hinblick auf alle diese Ver- hältnisse wächst die Zahl der Zellen, die in ihrer Organisation von- einander spezifisch verschieden sind, schon von einer auf viele Millionen in einer kaum noch abzuschätzenden Weise. So enthüllt sich bei kritischer Überlegung die „einfache Zelle“ vor dem Auge des Forschers als eine Form des Lebens, die eine unser Denkvermögen übersteigende Fülle von Verschiedenheiten höheren und niederen Grades in sich verbergen muß. Man würde wohl kaum zuviel sagen mit der Behauptung, daß die Zahl der überhaupt möglichen spezifisch unterscheidbaren Zellen eine fast unbegrenzte ist. Das Endergebniss dieses Abschnittes fasse ich daher in den allgemeinen Satz zusammen : Jede Artzelle, die zur Grundlage eines neuentstehenden Lebewesens dient, trägt kraft der ihr eigentüm- lichen, feineren und uns so gut wie unbekannten feineren Organi- sation ihr eigenes, fest geordnetes „Gesetz der Entwicklung“ nach einem schon spezifisch vorausbestimmten Endziel in sich. Sowohl durch Vergleich dieser einzelnen „Sondergesetze der Ent- wicklung“ untereinander, als auch durch experimentelle Eingriffe in ihren Verlauf und durch die so planmäßig hervorgerufenen Ab- änderungen werden wir dann auch in den Stand gesetzt, zur Auf- stellung noch allgemeinerer Entwicklungsgesetze zu gelangen. 3. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der durch Mendel l) begründeten experimentellen Forschungsrichtung. In den letzten 50 Jahren hat unsere Erkenntnis vom Wesen der Zelle und dadurch auch die Wissenschaft der allgemeinen Biologie 1) Mendel , Gregor, Versuche Über Pflanzen hybriden, 2. Abhdl. 1865 und 1869. Abgedruckt in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 121, 1901. — de Ergebnisse der Mendelforschung. 73 eine außerordentliche Bereicherung durch die Begründung und den planmäßig erfolgten Ausbau von zwei neuen wichtigen Forschungs- gebieten erfahren. Das eine handelt von den Erscheinungen, welche infolge der Befruchtung in der Eizelle auftreten und durch mikro- skopische Untersuchungen aufgeklärt worden sind, ferner von den Erscheinungen, welche sich bei der Ei- und Samenreife abspielen und eine wichtige Ergänzung für das tiefere Verständnis des Be- fruchtungsprozesses liefern. Das andere Forschungsgebiet ist durch scharfsinnig ausgeführte Experimente von dem Augustinermönch Gregor Mendel eröffnet worden. Beide Gebiete haben sich eine Zeitlang ganz selbständig nebeneinander entwickelt. Um so erfreu- licher ist es, daß die auf ihnen gewonnenen Ergebnisse sich ergänzen und in wichtiger Übereinstimmung befinden. Aus didaktischen Gründen scheint es mir empfehlenswert, mit der Mendelforschung zu beginnen. Es können aber nur ihre allgemeinsten Ergebnisse hier berücksichtigt werden. Gegenstand der Mendelforschung ist das physiologische Studium der Eigenschaften pflanzlicher und tierischer Bastarde (Hybride oder Mischlinge). Solche werden vom Experimentator erhalten, wenn er die Geschlechtsprodukte von 2 Spezies, die sich im System sehr nahe stehen, oder von 2 Varietäten und Rassen einer Art durch Kreuzbefruchtung untereinander verbindet. Die Kreuzung kann in zwei Richtungen vorgenommen werden, je nachdem die Eier von A mit dem Samen von B oder die Eier von B mit dem Samen von A befruchtet werden. Sie wird als doppelseitige oder reziproke be- zeichnet. Je nachdem sich ferner die beiden Elternformen vonein- ander durch 1, 2, 3 oder mehr Merkmale unterscheiden, heißen die aus ihrer Verbindung entstehenden Bastarde nach einer von DE Vries vorgeschlagenen Nomenklatur Mono-, Di-, Tri- und Poly- hybride. Ein paar Beispiele mögen uns zunächst einen Einblick in das interessante, augenblicklich im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stehende Forschungsgebiet geben; auf der so gewonnenen Grundlage exakter Forschung wollen wir dann aus den beobachteten Erscheinungen einige theoretische Vorstellungen zu gewinnen und in Regeln (S. 80) zu fassen suchen. Wie selbstverständlich ist, er- Vries, Hugo, Die Mutation stheorie. Bd. II: Elementare Bastardlehre. Leipzig 1908. — Correns, C.} Über Vererbungsgesetze. \ ortrag. Berlin 1905. — Bateson , Mendels principles of heredity. Cambridge 1909. — Bang, Arnold , Die experi- mentelle Vererbungslehre in der Zoologie seit 1909. Jena 1914. — Vergleiche auch die in Kapitel XII u. XIII erwähnten Schriften von Goldschmidt, Plate , Joliannsen , Baur mw. 74 Drittes Kapitel. gibt das Studium der Monohybriden die einfacheren und durch- sichtigeren Resultate. Aus einem Vortrag von Correns über Ver- erbungsgesetze wähle ich zwei Beispiele, die einen wichtigen Unter- schied zeigen, i) einen Bastard zwischen Mirabilis Jalapa alba und rosea, und 2) einen Bastard zwischen Urtica pilulifera und Urtica Dodartii. Die beiden Varietäten von Mirabilis Jalapa unterscheiden sich nur in der Farbe der Blüten (Fig. 8); bei der einen ist sie weiß, bei der anderen rot. Durch die Kreuzung entsteht ein Bastard, der zwischen beiden Eltern die Mitte einnimmt. Denn seine Blüten sind weder weiß noch rot, sondern hellrosa; die elterlichen Merkmale Fig. 8. Mirabilis Jalapa alba + rosea mit den Eltern. Zwei Generationen I und II. Schematisiert nach Correns. haben sich also in diesem Fall zu einem intermediären Merkmal kombiniert, gleichsam miteinander vermischt. Derartige Bastarde werden daher auch als intermediäre und ebenso wird die Art der Übertragung der elterlichen Eigenschaften als Vererbung mit intermediärem Merkmal bezeichnet. Im zweiten Beispiel weichen die Varietäten der Brennessel (Fig. 9) nur in der Form der Blätter voneinander ab: die eine Varie- tät, Urtica pilulifera, hat stark gezähnte Blätter, die andere Urtica Dodartii, dagegen fast glattrandige. Bei ihrer Kreuzung ist das Ergebnis ein anderes als im ersten Fall. Denn jetzt gleicht der Bastard stets vollkommen nur der einen Elternform, der Urtica pilu- lifera; er besitzt ebenfalls stark gezähnte Blätter. Hier hat also, Ergebnisse der Mendelforschung. 75 die Eigenschaft des einen Elters die korrespondierende des andern bei der Vererbung im Bastard ganz unterdrückt, sie hat gleichsam den Sieg über sie davongetragen. Zur Unterscheidung von dem zuerst erläuterten Fall spricht man daher hier von einer Vererbung mit dominierendem Merkmal. Die elterliche Eigenschaft aber, welche infolge der Kreuzung im Bastard nicht wieder zürn Vorschein kommt, nennt man eine latent oder rezessiv gewordene. Je größer die Zahl der Eigenschaften wird, durch welche die väterliche und die mütterliche Form bei der Kreuzung voneinander abweichen, um so komplizierter fällt natürlich das Mischungsprodukt aus, hauptsächlich wenn die dominierenden Eigenschaften teils von der Mutter, teils vom Vater herrühren, und daher das Kind in manchen Punkten dem einen, in anderen dem anderen Erzeuger gleicht. Hier erhebt sich nun die schwierige, zu den verschiedensten Zeiten erörterte Frage: Wie kann man sich die Übertragung der Eigenschaften der beiden Eltern auf das Zeugungsprodukt vorstellen ? Sicher ist zunächst nur die auf der Errungenschaft der Zellenlehre gegründete Erkenntnis, daß das einzige Band, welches die aufein- ander folgenden Generationen miteinander verbindet, die Keimzellen sind, welche sich von den Geschlechtsorganen der beiden Eltern ablösen. Durch ihre bei der Befruchtung erfolgende Vereinigung liefern sie die materielle Grundlage für den kindlichen Organismus. Also müssen die elterlichen Eigenschaften durch den mit Kräften begabten Stoff auf der einen Seite der Eizelle, auf der anderen der männlichen Keimzelle übertragen oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, vererbt werden. So sehr sich im Pflanzen- und Tier- reich weibliche und männliche Keimzellen, Eier, resp. Pollenkörner und Samehfäden, gewöhnlich durch Größe, Form und viele andere Merkmale auch voneinander unterscheiden, als Erbträger sind sie einander gleichwertig oder äquivalent. Vom Vater erbt das Kind durch den Samenfaden genau gleichviel Eigenschaften wie von der Mutter durch das Ei, obwohl dieses oft viel tausend- mal mehr Substanz enthält. In welcher Weise aber kann dies ge- schehen ? Von vornherein ist klar, daß die beiderlei Keimzellen, die Eier, die Pollenkörner und die Samenfäden die Merkmale der Eltern nicht als solche, wie die Evolutionisten annahmen, enthalten. Denn sie sind ja nur vereinzelte Zellen, die Pflanzen und Tiere dagegen, von denen sie sich abgelöst haben und zu deren Vermehrung sie im Zeugungsakt dienen sollen, bestehen gewöhnlich aus ungeheuer vielen. 76 Drittes Kapitel. Millionen von Zellen, und diese bringen wieder erst durch ihre Ver- einigung sowie durch morphologische und histologische Sonderung die Organe und Gewebe mit ihren zahlreichen Eigenschaften oder die sichtbaren Merkmale hervor, die das Wesen des betreffenden Organismus ausmachen und durch die Zeugung vererbt werden. Also können nur besondere stoff liehe Eigentümlichkeiten in der Organisation der Zelle, die unserer Wahrnehmung allerdings noch ganz verborgen sind, oder sagen wir kurz, besondereZellen- eigenschaften der Grund sein, daß der Entwicklungsprozeß einer Artzelle zu einer bis ins feinste Detail vorausbestimmten Endform mit ihren zahlreichen, sichtbaren Merkmalen und Eigenschaften unter den normalen Bedingungen hinführen muß. Die deutsche Natur- philosophie hat das befruchtete Ei wegen der ursächlichen Beziehung, in der es zum entwickelten Endprodukt steht, als seine Anlage bezeichnet. Das Wort „Anlage“ ist nach den schon früher von mir entwickelten Gesichtspunkten (S. 69) natürlich ebensogut für das befruchtete Ei, wie für das Pollenkorn oder den Samenfaden, über- haupt für jede Zelle, welche zum Ausgangspunkt eines mehrzelligen Organismus werden kann, zu gebrauchen. Genau genommen, ist das Wort „Anlage“ nur ein Ausdruck für das kausale Abhängigkeits- verhältnis, in welchem die Ausgangs- und die Endform eines Ent- wicklungsprozesses zueinander stehen und aus welchem ich das onto- genetische Kausalgesetz abgeleitet habe. Anlage bedeutet in der Vererbungslehre schließlich nicht mehr als die unbekannte, in der Beschaffenheit der Keimzelle gelegeneUrsache oder den unbekannten Grund für den eigenartigen Verlauf eines Entwicklungsprozesses, der zu einer bestimmten Organisation des Endproduktes mit Gesetz- mäßigkeit hinführt. Die moderne Wissenschaft hat in den letzten Jahrzehriten mehr- fach den Versuch gemacht, mit dem sehr allgemeinen und un- bestimmten Begriff „Anlage“ detailliertere Vorstellungen zu ver- binden. Man hat sich den Chemiker hierbei zum Vorbild genommen, der seine Wissenschaft von den chemischen Körpern auf der Hypo- these von den Atomen und von ihrer gesetzmäßigen Verbindung zu Atomkomplexen oder Molekülen aufbaut, also auch von Stoff- einheiten ausgeht, die außerhalb des Bereiches sinnlicher Wahr- nehmung liegen. In ähnlicher Weise sind auch 'die Erblichkeits- forscher bemüht, die in den ausgebildeten Organismen sichtbaren „Merkmale, Organe, Einrichtungen, Funktionen, die uns alle nur in sehr zusammengesetzter Form wahrnehmbar sind, in der Erbmasse# für welche NäGELI den Begriff Idioplasma ein geführt hat (vgl. Ergebnisse der Mendelforschung. 77 Kap. III, 4.), in ihre wirklichen Elemente, die stofflichen Träger der Erblichkeit, zu zerlegen“. Um nicht späteren Abschnitten (Kap. IV, Abschnitt 4, Kap. XII u. XIII) vorzugreifen, in denen die verschie- denen neuzeitlichen Hypothesen über das Problem der Vererbung im Zusammenhang kritisch besprochen werden sollen, will ich vor- läufig nur auf eine Vorstellungsweise eingehen, die für das Ver- ständnis des vorliegenden Abschnitts unentbehrlich ist. Bei den Biologen, die auf dem Feld der Mendelforschung tätig sind, hat sich zur gegenseitigen Verständigung eine bestimmte Sprechweise und Nomenklatur ausgebildet. Sie stellen sich vor, daß die in den Keimzellen gegebene Gesamtanlage eines Organis- mus aus vielen stofflichen Einzelanlagen, Faktoren oder Erbeinheiten aufgebaut ist, die einen gewissen Grad von Selbständigkeit be- sitzen und, wie wir- später beweisen werden, sich aus der Gesamt- anlage unter gewissen Umständen abtrennen oder abspalten lassen. Johannsen hat in seinen „Elementen der exakten Erblichkeitslehre“ für die Erbeinheiten die Bezeichnung „Gene“ eingeführt. Die Gene sind im Keim die uns unsichtbaren, mehr oder minder selbständigen Faktoren für die zahlreichen Eigenschaften, aus denen sich das Bild des entwickelten Organismus zusammensetzt. Das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Gene im Keime hat zur notwendigen Folge, daß die uns sichtbaren Eigenschaften und Merkmale einer Pflanze oder eines Tieres in bestimmter Weise verändert werden. Was nicht durch Erbeinheiten, Gene, in dem Keim angelegt ist, kann auch später im fertigen Geschöpf nicht realisiert werden. Nach dieser Vorbemerkung wende ich mich zur kurzen Dar- stellung einiger wichtigen allgemeinen Ergebnisse der Mendel- forschung. Bei Organismen mit geschlechtlicher Zeugung werden im Be- fruchtungsakt eine weibliche und eine männliche Keimzelle zu einer neuen Einheit, einer Zygote, verbunden. Aus zwei getrennten Anlagen (Idioplasmen) entsteht eine gemischte Anlage, ein Doppel- idioplasma, das mütterliche und väterliche Erbeinheiten in sich ver- einigt. In ihm sind nach der Vorstellung, die man sich in der Erb- lichkeitsforschung gebildet hat, korrespondierende Gene als „Merk- malspaare“ (Paarlinge, Allelomorphs [Bateson]) vereinigt. Hierbei sind zwei Fälle möglich: entweder sind die gepaarten Erbeinheiten absolut gleichartig, wenn sie von Eltern herrühren, die sich in allen Eigenschaften genau gleichen (z. B. bei der Verbindung einer männ- lichen und einer weiblichen Gamete von Urtica pilulifera); oder sie sind im zweiten Fall in geringerem oder höherem Grade verschieden, 7» Drittes Kapitel. wenn die Eltern in einem, in zwei oder in mehreren Merkmalen voneinander abweichen. Im ersten Fall bezeichnet man das Produkt der gepaarten Keimzellen als Homozygote, im anderen Fall als Heterozygote. So sind bei der schon oben erwähnten Bastard- kombination Mirabilis Jalapa alba + rosea die beiden heterogenen Erbeinheiten „rote und weiße Blütenfarbe“ zu einem Merkmalspaar (Allelomorph) vereint, desgleichen bilden bei der Kombination Urtica pilulifera und U. Dodartii die Anlagen „gezähnter und glatter Blatt- rand“ einen Paarling. Organismen, die sich aus Homozygoten entwickeln, sind absolut rassenrein. Denn sie gleichen nicht nur in jedem Punkte ihren Eltern, sondern sie bilden, wenn sie später geschlechtsreif werden, auch wieder Keimzellen, die aus genau den gleichen Erbeinheiten, wie bei ihren Eltern, zusammengesetzt sind und daher bei jeder neuen Befruchtung untereinander, also bei Inzucht, rassenreine Homo- zygoten liefern. Dagegen ist jeder aus einer Heterozygote ent- standene Organismus rassenunrein oder ein Bastard, und zwar um so mehr, je mehr neben identischen Merkmalspaaren auch ein, zwei oder mehrere sich finden, die aus nichtidentischen Erbeinheiten auf- gebaut sind. Ein so entstandenes Wesen läßt sich bei weiterer Fortpflanzung, auch wenn dieselbe durch Inzucht erfolgt, nicht rein fortzüchten, wie uns die gleich zu besprechenden wichtigen Ex- perimente Mendels und seiner Nachfolger gelehrt haben. Je mehr Merkmalspaare bei dem Bastard heterozygotisch waren, um so mehr fällt seine Nachkommenschaft in der zweiten und dritten Generation verschiedenartig aus. Zur rascheren Orientierung bedient man sich jetzt allgemein besonderer Erbformeln, mit deren Aufstellung schon Mendel begonnen hatte. Ich schließe mich hierbei dem von Johannsen befolgten Verfahren an. Die elterliche Generation wird mit dem Buchstaben P (Parentes) und je nachdem sie weiblich oder männ- lich ist, durch das in der Systematik gebräuchliche Zeichen P$ und Pd kenntlich gemacht. Die von ihr abstammende erste, zweite, dritte, — n Generation von Nachkommen werden als F1? F2, F3 — Fn unterschieden. Zur Bezeichnung der Erbeinheiten in den Keimzellen der Eltern bedient man sich der Buchstaben des Alpha- bets und zwar der großen Buchstaben, wenn die Erbeinheiten in beiden Geschlechtern der gleichen Art sind. Also setzen sich die weiblichen, resp. männlic hen Keimzellen aus A, B, C, D, E bis X Genen zusammen. Hieraus ergibt sich für die aus ihrer Vereini- gung gebildeten Homozygoten die Formel AA, BB, CC, DD, EE Ergebnisse der Mendelforschung. 79 bis XX, da ja die gleichartigen Gene sich zu einem Merkmalspaar (Allelomorph, Paarling) gleichsam verkoppeln. In solchen Fällen dagegen, in denen sich beide Eltern in einem oder in mehreren Merkmalen voneinander unterscheiden, gibt man diesem Verhältnis einen symbolischen Ausdruck dadurch, daß man die in der männ- lichen und weiblichen Keimzelle voneinander divergierenden Gene durch große und kleine Buchstaben unterscheidet und zwar drückt man den dominierenden Faktor durch den großen, den latenten oder rezessiven durch den entsprechenden kleinen Buchstaben aus. Die Formel für eine Heterozygote, mit zwei antagonistischen Merkmalspaaren lautet daher, wenn man für diese die beiden ersten Buchstaben des Alphabets benutzt : Aa, Bb, CC, DD, EE bis XX. Hierbei können sich Ver- schiedenheiten ergeben, je nachdem nur der eine oder beide rezessive Faktoren durch die männliche oder umgekehrt durch die weibliche Keimzelle in die Heterozygote hineingebracht worden sind. Gewöhnlich beschränkt man sich bei der graphischen Dar- stellung auf die Wiedergabe der heterozygotischen Merkmals- paare, indem man alle homozygotischen Eigenschaftspaare zur Vereinfachung der Formel wegläßt und sie sich nur in Gedanken . . . XX hinzudenkt. Die abgekürzten Formeln für die Hetero- zygoten eines Mono-, Di-, Tri- oder Poly hybriden lauten daher: für einen Monohybriden Aa, für einen Dihybriden Aa + Bb, für einen Trihybriden Aa -f- Bb + Cc, für einen Poly hybriden Ao ~F Bb -j- Bc -j- Dd etc. Schon früher wurde hervorgehoben, daß sich die aus Hetero- zygoten entstandenen Organismen auch bei fortgesetzter Inzucht in der zweiten, dritten und den weiteren Generationen nicht in ihrer Bastardnatur erhalten oder als reine Rasse fortzüchten lassen. Durch genaues Studium dieser bei Fortzucht sich ergebenden Verhält- nisse sind drei für die Vererbungslehre grundlegende Tatsachen von Mendel ermittelt, von seinen Nachfolgern bestätigt und noch weiter vervollständigt worden. Sie lassen sich in die folgenden Sätze kurz zusammenfassen: Erster Satz. In der Zygote und in dem aus ihr entstandenen Bastard bleibt das rezessive Merkmal neben dem dominierenden in latentem Zustand wirklich forterhalten. Zweiter Satz. Die in der Zygote durch die Befruchtung ge- paarten Erbeinheiten werden zur Zeit, wo der Bastard seine Ge- 8o Drittes Kapitel. schlechtszellen bildet, wieder voneinander getrennt oder, wie es gewöhnlich in der Erblichkeitslehre heißt, gespalten. Dritter Satz. Die Erbeinheiten sind in gewissem Grade mit- einander mischbar und daher befähigt, in den folgenden Genera- tionen neue Kombinationen einzugehen. Man bezeichnet diese drei Ermittlungen i) als die MENDELsche Prävalenz- und Latenzregel, 2) als die Spaltun gsregel und 3) als die Lehre von der Misch- barkeit der erblichen Anlagen. 1. Die Monohybriden. Zur Veranschaulichung und weiteren Erklärung der Mendel- schen Regeln beginnen wir mit dem einfachsten Fall, in der die miteinander kombinierten elterlichen Organismen sich nur in einem Merkmalspaar voneinander unterscheiden und daher bei ihrer Kreu- zung Monohybride liefern. Wir bedienen uns zu dem Zweck der zwei schon früher gebrauchten Beispiele von Mirabilis Jalapa und Urtica, indem wir die Nachkommen in zweiter und dritter Gene- ration F2, F3 etc. bei fortgesetzter Inzucht weiter verfolgen. Dann stellt sich das auf den ersten Blick überraschende Ergebnis heraus, daß sich die Bastarde F1 trotz streng durchgeführter Selbstbefruchtung nicht als reine Formen weiterzüchten lassen. Sie sind zum Teil in ihren Eigenschaften unbeständig und schlagen, wie man sich früher ausdrückte, in einem gewissen Prozentsatz auf ihre ursprünglichen Elternformen zurück. Die Jalapabastarde erster Generation Fx, die lauter äußerlich gleichartige Individuen mit hellrosa Blüten sind (Fig. 8), zerfallen bei Reinzucht in der zweiten Generation F2 in drei verschiedene Formenkreise. Die Hälfte von ihnen gleicht wieder den zum Ausgang des Experi- ments benutzten Elternformen, und zwar V4 der Jalapa alba, V4 der Jalapa rosea. Diese bleiben von jetzt ab bei getrennter Weiter- zucht und Selbstbefruchtung in allen folgenden Generationen kon- stant; weißblühende bringen weißblühende, rotblühende stets wieder rotblühende Nachkommen hervor, ein Beweis, daß sie bei der fortge- setzten Inzucht wieder rassenrein nach der Art der beiden Stammeltern P $ oder P d geworden sind. Die andere Hälfte der F2-Generation dagegen trägt wieder in ihren hellrosa Blüten den Bastardcharakter zur Schau und liefert bei fortgesetzter Zucht eine Nachkommen- schaft, die immer wieder nach dem Zahlenverhältnis 1:2:1 in die drei Formengruppen zerfällt; oder mit anderen Worten, es kommt neben zwei hybriden Exemplaren immer wieder je ein Exemplar Die Monohybriden. 8l der beiden ursprünglichen Stammformen zum Vorschein und bleibt dann auch bei weiterer Inzucht in seiner Nachkommenschaft rein oder konstant Die Formel für jede nächste Generation der Hybriden muß also lauten : i Stammform mit dominantem Merkmal, 2 Bastarde mit intermediärem Merkmal, i Stammform mit rezes- sivem Merkmal. Beim Brennesselbastard (Fig. 9) fallen die Resultate auf den ersten Blick anscheinend etwas verschieden aus, erweisen sich aber bei genauerer Prüfung als die gleichen. Scheinbar verschieden sind die Resultate insofern, als die F2-Generation, die der Bastard P'j bei Selbstbefruchtung hervorbringt, nur in zwei Formenkreise nach dem Zahlenverhältnis von 3 : i zerfällt. Drei Viertel der Nach- kommen zeigen stark gezähnte Blätter. Bei einem Viertel aber ist die latente oder rezessive Anlage wieder zur Geltung gekommen; ihre Blätter sind mehr oder minder ganzrandig wie bei der Stamm- form Urtica Dodartii. Dieses Viertel bleibt auch bei fortgesetzter Reinzucht in allen späteren Generationen konstant, wie bei dem entsprechenden Formenkreis von Jalapa. Dagegen sind in den übrigen drei Vierteln, wie weiter fortgesetzte Experimente lehren, streng genommen zwei Formengruppen enthalten, die sich zwar an ihren äußeren Merkmalen nicht erkennen lassen, die aber nach der Beschaffenheit ihrer Gene verschieden sind. Denn unter ihnen befindet sich ein Viertel, daß auch bei fortgesetzter Reinzucht in seiner Nachkommenschaft konstant bleibt. Es bringt stets wieder nur Exemplare mit gesägten Blatträndern hervor, welche der Stammform Urtica pilulifera gleichen. Dagegen verhalten sich die anderen zwei Viertel in bezug auf ihre erblichen Anlagen, wie die erste Bastardgenerationen Fx, ihre Nachkommen, welche die F3- Generation bilden, zerfallen wieder in zwei Formenkreise nach dem Verhältnis von 3:1 oder unter Berücksichtigung der oben er- mittelten Tatsachen richtiger in drei Formenkreise, wie bei Jalapa nach dem Verhältnis von 1:2:1. Es haben also, wie die Zu- sammenstellung in Fig. 9 lehrt, ein Viertel ganzrandige, drei Viertel der Exemplare gesägte Blätter, und letztere unterscheiden sich wieder nach ihren Genen idioplasmatisch voneinander, indem bei einem Viertel von ihnen das Merkmal „gesägter Blattrand“ in der dritten Generation und allen folgenden konstant geworden ist, während zwei Viertel wie die Hybriden Ft verschieden gestaltete Nach- kommen liefern, oder wie man sich auch kurz ausdrückt, mendeln. Bei tieferer Einsicht zerfallen daher die Bastarde von Urtica genau so wie von Mirabilis Jalapa, bei fortgesetzter Zucht in drei O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 6 82 Drittes Kapitel. Formenkreise nach der Formel: i Stammform A, 2 Hybride, 1 Stammform a. Nur dadurch entsteht zwischen beiden Fällen ein Unterschied, daß bei Urtica sich die hy- bride Pflanze, in deren Anlagepaar eine An- lage dominiert, von der Stammform A, welche die dominier- ende Anlage geliefert hat, äußerlich nicht unterscheiden läßt Denn sie weicht nur idioplasmatisch durch den Besitz der latenten Anlage von ihr ab. Für diese eigen- tümlichen und für viele Organismen ganz ge- setzmäßigen, von allen Forschern bestätigten Verhältnisse hat man durch Aufstellung der Spaltungsregel eine einfache und befriedi- gende Erklärung ge- geben. Man nimmt an, daß bei der Bastar- dierung zweier Varie- täten ihre Idioplasmen Fig. 9. Bastardierung* von Urtica pilulifera (oben im befruchteten Ei ZU Unkst mit U. Dodartii (redits). L Generation das heißt 2 Phänotypen mit der Individuenrelation 3:1. Bei Dihybriden mit 2 Differen?punkten (Aa und Bb) spaltet jede Eigenschaft für sich nach der Formel 3/4+74. Da sich durch Kombination der einzelnen Eigenschaften die Zahl der möglichen Phänotypen ergibt, erhalten wir für Dihybride die Formel: (% + V«) (»/* + V4) = (V4 + V4) 2 = 7,0 + 7,6 + 7,6 + 1,6- das heißt: 4 Phänotypen mit der Individuenrelation von 9:3:3:!. Der erste Phänotyp, 9/16, zeigt beide dominierende Eigenschaften Die Polyhybriden. 95 (A u. B), der zweite, 3/16, nur die eine dominierende Eigenschaft A, der dritte, 3/16, die andere dominierende Eigenschaft B, und der vierte Phänotyp, V16, hat keine der dominierenden, sondern nur beide rezessiven Eigenschaften. Bei Trihybriden mit 3 Differenzpunkten (Aa, Bb, Cc) lautet dementsprechend die Formel für die möglichen Phänotypen: (74 + 74) (74 + 74) (74 + 74) = (74 + 74) 3 = 27/64 + 764 + 764 + 764 + %. + 764 + %4 + 764 die Fg-Generation zerfällt mithin bei Trihybriden in 8 Phänotypen mit der Individuenrelation 27:9:9:9:3:3:3:1. Von ihnen besitzt der erste Phänotyp 27/64 (33) alle drei dominierenden Eigenschaften, der zweite bis vierte Phänot}7p 9/64 (32) nur zwei dominierende Eigen- schaften entweder in der Kombination A, B, cc oder A, bb, C oder aa, B, C; der fünfte bis siebente Phänotyp 3/64 (31) zeichnet sich durch eine einzige dominierende Eigenschaft in Verbindung mit 2 rezessiven aus, entweder mit der Formel A, bb, cc oder aa, B, cc oder aa, bb, C; der achte, aus einem einzigen Individuum bestehende Phänotyp 764 wird beim Mangel jeden dominanten Merkmals nur aus 3 rezessiven aufgebaut mit der Formel aa, bb, cc. Die Formel der möglichen Phänot)rpen bei Polyhybriden mit n Eigenschaften kann daher ausgedrückt werden mit (s/4 -f- y4)n . Zur kurzen Orientierung über die Zahlenverhältnisse, die sich je nach der Anzahl der zwischen den beiden Stammeltern bestehen- den differenten Merkmale ergeben, ist die kleine, in Anlehnung an Johannsen aufgestellte Tabelle (S. 96) geeignet: Als nähere Ausführung der in der letzten Fachseite der Tabelle gegebenen Formeln vergleiche man die Kombinationsschemata für Mono-, Di- und Trihybriden auf S. 84, 88 und 93 und die an sie geknüpften Erörterungen. Wie aus der Tabelle hervorgeht, wächst mit jedem Mehr an differierenden Merkmalen die Zahl der möglichen Kombinationen sehr rasch. „Bald werden“, wie CORRENS bemerkt, „die Verhält- nisse fast unübersehbar. Schon bei 10 differenten Merkmalspaarcn werden über tausenderlei (1024) verschiedene Keimzellen gebildet, die über eine Million Kombinationen zulassen und bei Dominanz des einen Merkmals über das andere als zweite Generation über tausenderlei (1024) schon äußerlich verschiedene und fast 60000 inner- lich verschiedene Nachkommen geben.“ Man ersieht hieraus, welche kolossalen, schon bald überhaupt nicht zu bewältigenden Dimensionen ein genau für die F2- und g6 Drittes Kapitel. F3 - Generation durchgeführter , vollständiger Mendelversuch mit der wachsenden Zahl der Merkmale, in denen sich die elterlichen, zur Bastardierung benutzten Ausgangsformen unterscheiden , an- nehmen muß. Anzahl der Differenzpunkte I der Stammeltern 2 3 4 5 n Anzahl der von der F-Gene- 21 2 2 2 3 2 4 2 5 ration gebildeten verschie- denen Keimzellen ■= 2 = 4 = 8 = 16 = 32 2n Anzahl der aus Verbindung — — der Keimzellen hervor- 2 1 2 2 2 2 4 2 5 gehenden homozygotischen, sich rein fortzüchtenden Kombinationen — 2 j = 4 = 8 = 16 = 32 1 2n Die durch Verbindung der 2 2 2 4 2 6 2* 2 10 2n+n Keimzellen überhaupt mög- lichen Kombinationen = 4 = 16 = 64 = 256 = 1024 oder 2 2n Phänotypenverteilung auf der (3+1)1 (3+02 (3+0 3 (3+04 (3+n 5 (3+1)" Grundlage von Dominanz 4. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der mikroskopischen Er- forschung des Befruchtungsprozesses sowie der Ovo- und Spermiogenese. a) Der Befruchtungsprozess. Wie schon in der Einleitung zum dritten Abschnitt bemerkt wurde, ist eine Hauptgrundlage unserer Theorien über das Wesen der Keimzellen und zugleich eine wichtige Ergänzung zu der Mendel- forschung die unabhängig von ihr gemachte Entdeckung der feineren Vorgänge beim Befruchtungsprozeß. Zum Studium derselben sind besonders Tiere geeignet, welche erstens sehr kleine und durch- sichtige Eier besitzen, in denen man bei Verwendung starker Ver- größerungslinsen im Dotter die kleinsten Körnchen wahrnehmen kann, und welche zweitens die Vornahme der künstlichen Befruchtung gestatten. Denn hierdurch gewinnt der Forscher die Möglichkeit, den Eintritt der Befruchtung zu einem von ihm willkürlich ge- wählten Termin zu bestimmen und alle Veränderungen von Anfang bis zu Ende kontinuierlich zu verfolgen. Ein derartig geeignetes Material liefern uns die Echinodermen, besonders die Seeigel. Ihre Eier sind denn auch das klassische Objekt geworden, an dem im Jahre 1875 die mikroskopische Grundlage für die jetzt gültige „bio- Der Befruchtungsprozeß. 97 logische Theorie des Befruchtungsprozesses “ gewonnen wurde. Um die künstliche Befruchtung auszuführen, entleert man von einem laichreifen Weibchen reife Eier aus dem Eierstock in ein kleines, mit Seewasser gefülltes Uhrschälchen, entnimmt dann in derselben Weise einem männlichen Tiere frischen Samen und ver- dünnt ihn in einem zweiten Uhrschälchen reichlich mit Meerwasser. Auf einen Objektträger bringt man je einen Tropfen eierhaltiger und samenhaltiger Flüssigkeit mit einer feinen Glaspipette zusammen, vermischt sie und deckt sofort das Präparat unter geeigneten Kau- telen, damit die Eier nicht gepreßt und zerdrückt werden können, vorsichtig mit einem Deckgläschen zu; dann beginnt man unver- züglich die Beobachtung bei starker Vergrößerung. Man kann jetzt am lebenden Objekt leicht verfolgen, wie von den zahlreichen, im Wasser lebhaft herumschwimmenden Samen- fäden sich immer mehr auf der Oberfläche der Eier festsetzen, wobei sie fortfahren, mit ihrer Geißel peitschende Bewegungen auszuführen. Stets aber wird unter normalen Verhältnissen die Be- fruchtung nur von einem einzigen Samenfaden, und zwar von demjenigen ausgeführt, der sich am frühesten dem membran- losen Ei genähert hat. An der Stelle, wo sein Kopf, der die Ge- stalt einer kleinen Spitzkugel hat, mit seiner scharfen Spitze die Oberfläche des Dotters berührt, reagiert diese auf den Reiz durch Bildung eines kleinen Höckers von homogenem Protoplasma, des Empfängnishügels (Fig. io, i e), wie ich ihn zu nennen vor geschlagen habe. Durch sein Auftreten wird der Beobachter gewöhnlich zu- erst auf den Beginn des Befruchtungsprozesses aufmerksam gemacht. Denn am Empfängnishügel bohrt sich der Samenfaden rasch mit seinem Kopf (i k) in das Ei ein, so daß nur der kontraktile, faden- förmige Anhang noch eine Weile nach außen hervorsieht. Fast gleichzeitig wird eine feine Membran (Figur io, 2 dh) vom befruch- teten Ei auf der ganzen Oberfläche ausgeschieden; sie beginnt zu- erst in der Umgebung des Empfängnishügels und breitet sich von hier rasch um das ganze Ei aus. Im Moment ihrer Ausscheidung liegt sie der Dotterrinde unmittelbar auf; doch nur eine verschwindend kurze Zeit. Denn bald beginnt sie sich von ihr abzuheben und durch einen immer breiter werdenden, von klarer Flüssigkeit (Liquor perivitellinus) erfüllten Zwischenraum getrennt zu werden. Die Ab- hebung wird dadurch hervorgerufen, daß der protoplasmatische Ei- inhalt sich infolge des Reizes beim Eindringen des Samenfadens, der O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 7 98 Drittes Kapitel. auch die Membranbildung kurz vorher schon ausgelöst hat, etwas zusammenzieht und dabei Flüssigkeit aus seinem Innern auspreßt. Die Bildung einer Dotterhaut (Membrana vitellina) hat außer dem Schutz, den sie später dem sich in ihrem Innern entwickelnden Embryo bietet, auch noch die hohe physiologische Bedeutung, daß sie für alle die übrigen Samenfäden, die sich in reicher Menge auf ihrer Oberfläche ansetzen, ganz undurchdringlich ist und dadurch eine Befruchtung durch mehr als einen Samenfaden unmöglich macht. Fig. io. Schema über den Befruchtungfsprozeß des Eies von Toxo- pneustes. Nach Oskar Hertwig. i. Das reife Ei im Moment der Befruchtung mit Eikern (eile) und Empfängnishügel ( e ). Am eingedrungenen Samenfaden ist der Kopf (k), das Milteistück ( m ) und der Endfaden zu unterscheiden. 2—4. 3 Stadien in der An- näherung von Samen- und Eikern bis zur gegenseitigen Anlagerung, sk Samenkern. eik Eikern, c Centrosom, dh Dotterhaut, e Empfängmshügel. An diese verschiedenen Vorgänge, die sich teils nach- teils nebeneinander in ein paar Minuten abspielen, schließen sich un- mittelbar weitere Veränderungen an, die man als den inneren Be- fruchtungsakt zusammenfassen kann. Der in die Eirinde einge- drungene Kopf beginnt sich alsbald in der Weise zu drehen, daß der auf ihn folgende Hals mit dem Centrosom (Fig. 10, 2 c) nach einwärts zu liegen kommt. Dabei wird das Centrosom zum Mittel- punkt einer Strahlungsfigur. Denn das Protoplasma in seiner un- Der Befruchtungsprozeß. 99 mittelbaren Umgebung beginnt sich zu einem strahligen Gefüge, wie Eisenfeilspäne um den Pol eines Magneten, anzuordnen. Auch vergrößert sich der Kopf zusehends, indem sein Chromatin sich mit Flüssigkeit, die er aus dem Dotter bezieht, vollsaugt und die Form einer Spitzkugel verliert. Er wandelt sich auf diesem Wege allmählich wieder in einen bläschenförmigen Samenkern (Fig. io, 3 sk ) um. Und jetzt beginnt — etwa 5 Minuten nach Vornahme der Be- fruchtung — ein interessantes, am lebenden Objekt gut sichtbares Phänomen das Auge des Beobachters zu fesseln. Die beiden im Ei vorhandenen Kerne setzen sich in Bewegung und wandern lang- sam, doch mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit, aufeinander zu, als ob sie sich gegenseitig anzögen (Fig. 10, 1 — 4, sk u. eik). Der durch das Spermatozoon neu ein geführte Samenkern verändert rascher seinen Ort; hierbei schreitet ihm die schon oben erwähnte Proto- plasmastrahlung mit dem in ihr eingeschlossenen Centrosom voran und breitet sich dabei immer weiter in der Umgebung aus. Lang- samer bewegt sich der etwas größere Eikern, der keine eigene Strahlung besitzt. Beide Kerne treffen sich etwa eine Viertelstunde nach Beginn der Befruchtung nahe der Mitte des Eies, legen sich immer fester zusammen und platten sich an der Berührungsfläche gegenseitig so ab, daß der Samenkern dem etwas größeren Eikern wie eine kleine Kalotte aufsitzt (Fig 10, 4 eik u. sk); schließlich verschmelzen sie vollständig untereinander zu einem Gebilde, das halb aus väterlicher, halb aus mütterlicher Substanz zusammengesetzt ist. Das Ver- schmelzungsprodukt muß daher wieder mit einem besonderen Namen als „Keim kern“ oder „Furchungskern“ unterschieden werden. Es liegt inmitten einer Strahlungsfigur, welche in der Umgebung des Centrosoms (Fig. 10, 3 c) entsteht, den Samenkern auf seiner Wande- rung begleitet und sich allmählich durch die ganze Dottermasse bis an die Oberfläche ausbreitet (Fig. 10, 4). Mit der Verschmelzung der beiden Kerne ist der Befruchtungsprozeß beendet; durch ihn hat das Ei die Fähigkeit zu seiner Entwicklung erworben, welche ge- wöhnlich sofort mit einer neuen Reihe von Erscheinungen, dem Teilungs- oder Furchungsprozeß, beginnt. Die Befruchtungsvorgänge, die wir auf den vorausgegangenen Seiten vom Seeigel kennen gelernt haben, sind in den seit ihrer Entdeckung verflossenen Jahrzehnten nicht nur von vielen Beob- achtern an dem gleichen Objekt bestätigt, sondern auch an den Ver- tretern zahlreicher anderer Tierformen, bei Cölenteraten, bei vielen 7* lOO Drittes Kapitel. Würmern und Mollusken, bei verschiedenen Arthropoden, bei Tuni- caten und Wirbeltieren, wie bei Amphioxus, bei der Forelle, dem Frosch, dem Triton, der Maus usw. in prinzipiell der gleichen Weise nachgewiesen worden. Dabei verdient noch ausdrücklich hervor- gehoben zu werden, daß mit wenigen Ausnahmen Ei und Samen- kern vor ihrer Verschmelzung von genau der gleichen Größe sind und dieselbe Masse von Kernsubstanz besitzen. Wenn der Samen- kern zuweilen etwas kleiner ist, so besteht er aus einer entsprechend kompakteren Substanz, da er sich noch nicht in demselben Grade wie der Eikern mit Saft durchtränkt hat. Es handelt sich daher um allgemeingültige oder gesetzmäßige Erscheinungen für das ge- samte Tierreich. So ist denn auch der deduktive Schluß natur- wissenschaftlich voll berechtigt, daß der Befruchtungsprozeß in allen den Fällen, in denen er, wie im Ei des Menschen, der Beobachtung unzugänglich ist, sich ebenfalls in derselben Weise abspielen wird. In prinzipiell der gleichen Weise wie im Tierreich verlaufen die Befruchtungsvorgänge auch im Pflanzenreich. Hier entspricht bei den Phanerogamen das Pollenkorn dem tierischen Samenfaden. Endlich werden Befruchtungsvorgänge auch bei niederen, einzelligen Lebewesen, z. B. bei Infusorien, Flagellaten, Rhizopoden, Algen, Pilzen, etc. beobachtet; und auch hier konnte ein Austausch und eine Verschmelzung der Kerne der beiden kopulierenden Zellen nach- gewiesen werden. Wenn wir das Gesamtergebnis aus den zahlreichen, die ganze Organismen weit umfassenden Untersuchungen ziehen, so können wir sagen: Die Befruchtung hat zur Aufgabe, die Ver- einigung zweier Zellen herbeizuführen, die von einem weiblichen und einem männlichen Individuum der gleichen Art abstammen; sie liefert durch ihre Ver- bindung die Anlage für ein neues Geschöpf, welches Eigenschaften von beiden Erzeugern darbietet. Der wichtigste Vorgang bei der Zell ve rschm elzun g ist aber offenbar die Vereinigung (Am phimixis) von Ei und Samenkern. Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind im Tier- reich die beiderlei Geschlechtszellen während ihrer Entstehung in den weiblichen und männlichen Keimdrüsen in verschiedener Weise gleichsam vorbereitet und nach dem Gesetz der Arbeitsteilung in entgegengesetzter Richtung differenziert worden, in der Weise, wie es schon auf S. 59 beschrieben worden ist. Durch die „biologische Theorie der Befruchtung“, wie ich die oben gegebene Fassung bezeichnet habe, ist jetzt auch Der Befruchtungsprozeß. IOI ein befriedigender Abschluß für eine alte Streitfrage gewonnen worden, welche einst während mehrerer Jahrhunderte zwischen der Schule der Ovisten und der Animalkulisten bestanden und eine große Rolle in der Geschichte der Wissenschaften (vgl. S. 8) gespielt hat. Denn wenn wir jetzt von dem Standpunkt unserer neu gewonnenen Er- kenntnis des Befruchtungsprozesses aus die sich widersprechenden Lehren der Ovisten und der Animalkulisten beurteilen und sie zu verstehen uns bemühen, so sehen wir Wahrheit und Irrtum auf beiden Seiten in eigenartiger Mischung verteilt. Wir begreifen zu- gleich, daß die alten Naturforscher in das Wesen der Befruchtung zu ihrer Zeit nicht tiefer einzudringen vermochten, nicht nur weil ihnen die Vorstellung vom elementaren Aufbau der Organismen, vor allem auch der Begriff der Zelle als einer niederen Lebenseinheit noch ganz fehlte, sondern auch weil sie in dem Dogma der Präfor- mation in einer die vorurteilslose Beobachtung hemmenden Weise befangen waren. Wie ich in einem in St. Louis gehaltenen Vortrag über die Probleme der Zeugungs- und Vererbungslehre schon be- merkt habe, „der Gedanke der Verschmelzung zweier Organismen zu einer neuen Einheit, durch welchen der Hauptstreitpunkt der beiden sich bekämpfenden Schulen in einfacher und der Wirklich- keit entsprechenden Weise wTürde beseitigt worden sein, konnte den Anhängern der Präformationstheorie nicht in den Sinn kommen. Denn wenn die Keime schon die Miniaturgeschöpfe sind, zusammen- gesetzt aus vielen Organen, wie sollte es möglich sein, daß sie sich paarweise zu einem einheitlichen Organismus verbinden und gleichsam mit ihren Organen und Geweben in eins zusammenfließen?“ Unter der Herrschaft der Präformationstheorie konnte es nur heißen : Entweder das Ei oder der Samenfaden ist das präformierte Geschöpf. Das eine schloß das andere aus. Für uns dagegen, die wir wissen, daß die Keime abgelöste Zellen der Eltern, also Elementar- organismen sind, trägt die Vorstellung einer stofflichen Vermischung (Amphimixis) keine derartigen Schwierigkeiten in sich. Und im übrigen handelt es sich ja für uns auch um feste Tatsachen. Können wir doch die Vereinigung einer weiblichen und einer männlichen Zelle und sogar die Vereinigung ihrer einzelnen Bestandteile, be- sonders ihrer Kerne und der in ihnen eingeschlossenen Substanzen direkt unter dem Mikroskop verfolgen. • Mit der Erkenntnis der Möglichkeit einer Amphimixis wird zu- gleich die Erscheinung, daß die Kinder ihren beiden Erzeugern gleichen, eine Tatsache, für welche die Naturforscher bis ins 19. Jahr- hundert hinein keine rechte Erklärung zu geben wußten, unserem 102 Drittes Kapitel. Verständnis näher gerückt Die Kinder gleichen beiden, weil sie aus der Substanz von Vater und von Mutter oder, mit and eren Worten , aus der Vereinigung einer väterlichen und einer mütterli chen Anlage hervorge- gangen sind. An die Stelle der Miniaturgeschöpfe in der alten Lehre der Präformation sind jetzt in der biologischen Wissenschaft die Begriffe der Art zelle und der Anlage getreten, welche in der stofflichen Zusammensetzung und Organisation von Ei und Samenfaden gegeben ist. b) Die Kernidioplasmatheorie. Wer sich mit dem Studium der Vererbungserscheinungen inten- siver beschäftigt, wird zur Einsicht kommen, daß die beiderlei Keim- zellen in bezug auf die Vererbung elterlicher Eigenschaften einander durchaus gleichwertig sind. Wie in dem vorausgegangenen Kapitel schon besprochen wurde, setzt sich nach Ablauf der Befruchtung die im .Ei gegebene Anlage eines Organismus nach der Auffassung der Erblichkeitsforscher, welche den von Mendel betretenen Bahnen folgen, aus vielen Erbeinheiten zusammen, die je nach ihrer väter- lichen und mütterlichen Herkunft zu Anlagepaaren miteinander verbunden sind. Mit dieser Vorstellung scheint nun aber die Tatsache, daß das Ei mit tausend- und millionen- mal mehr Substanz als der Samenfaden an dem Ent- wicklungsprozeß des kindlichen Organismus beteiligt ist, in einem offenbaren Widerspruch zu stehen. Hier liegt daher ein Verhältnis vor, das der Erklärung bedarf. Der berühmte Botaniker NäGELI hat das Problem zuerst auf- geworfen und in seinem gedankenreichen Werk: „Die mechanisch- physiologische Theorie der Abstammungslehre“ den Versuch einer Erklärung durch Aufstellung seiner vielumstrittenen Idioplasma - theorie gemacht. In ihr unterscheidet er an den weiblichen und den männlichen Keimzellen zwei verschiedene Substanzen, ein Idio- plasma, das im Ei- und Samenfaden in gleicher Menge vorkommt, und ein Ernährungsplasma, welches im Ei in .sehr viel größerer Masse angehäuft ist. Das Idioplasma bezeichnet er als die Substanz, durch welche die erblichen Eigenschaften von Vater und Mutter als An- lagen auf das Kind übertragen werden. Er sucht seine Ansicht in folgender Weise zu begründen : „Idioplasma und gewöhnliches Plasma“ — so heißt es in seinem Buch — „habe ich als verschieden angegeben, weil mir dies der einfachste und natürlichste Weg scheint, um die ungleichen Beziehungen der Plasmasubstanzen zu den erb- lichen Anlagen zu begreifen, wie sie bei der geschlechtlichen Fort- Beweise für die Kernidioplasmatheorie. l03 pflanzung deutlich werden. An die befruchtete und entwicklungs- fähige Eizelle hat die Mutter hundert- oder tausendmal mehr Plasma- substanzen, in denselben aber keinen größeren Anteil an erblichen Eigenschaften geliefert als der Vater. Wenn das unbefruchtete Ei ganz aus Idioplasma bestände, so würde man nicht begreifen, warum es nicht entsprechend seiner Masse in dem Kinde wirksam wäre, warum dieses nicht immer in ganz überwiegendem Grade der Mutter ähnlich würde. Besteht die spezifische Eigentümlichkeit des Idio- plasma in der Anordnung und Beschaffenheit der Micelle, so läßt sich eine gleich große Erbschaftsübertragung nur denken, wenn in den bei der Befruchtung sich vereinigenden Substanzen gleich viel Idioplasma enthalten ist.“ So wenig gegen den logischen Gedankengang von NäGELI einzuwenden ist, so liegt doch eine große Schwäche der Theorie darin, daß von ihrem Urheber nicht der geringste Versuch gemacht worden ist, zu entscheiden, was in den Keimzellen Idioplasma und was Ernährungsplasma ist. Auch hier bleibt NÄGELI vollständig auf dem Boden der Hypothese stehen. Ausgehend von seiner Micellartheorie, läßt er das Idioplasma aus Micellen zusammen- gesetzt sein, die in gesetzmäßiger fester Verbindung zu Fäden aneinandergereiht und ein mikroskopisch unsichtbares Netzwerk bilden, das sich durch den ganzen Zellkörper ausbreitet. Dagegen nimmt er für das dazwischen gelegene Ernährungsplasma einen großen Wasserreichtum und einen mehr lockeren Zusammenhang zwischen den Micellen an. Auf einen festen Grund und Boden ist die Idioplasmatheorie erst durch die mikroskopische Untersuchung des Befruchtungs- prozesses und durch den hier geführten Nachweis gestellt worden, daß in der Tat eine Substanz, welche eine hervorragend wichtige Rolle im Entwicklungsprozeß spielt und allen von der Hypothese gestellten Anforderungen entspricht, in den Kernen von Ei und Samenfaden enthalten ist. So konnte denn die Idioplasma- theorie auf das Kernplasma übertragen und zu einer Kernidioplasmatheorie umgebildet werden; sie wurde hierdurch ihres hypothetischen Charakters mehr und mehr ent- kleidet, an der Hand von Beobachtungstatsachen auf ihren Wert geprüft und für die Wissenschaft erst eigentlich nutzbar gemacht. Beweise für die Kernidioplasmatheorie. Da die Aufgabe, welche der Kern im Leben der Zelle erfüllt, zum Gegenstand mikroskopischer Studien gemacht werden kann, läßt sich die Lehre daß dem Idioplasma von NÄGELI die Kern- 04 Drittes Kapitel. Substanz, besonders das Chromatin, entspricht, durch zahlreiche Er- fahrungstatsachen näher begründen. Schon seit vielen Jahren habe ich in meinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte und in meiner allgemeinen Biologie eine Anzahl Beweise zusammengestellt. Von ihnen sind die drei wichtigsten: 1) die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Erbmasse; 2) die gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erb- masse auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen; 3) die Verhütung der Summierung der Erbmasse durch den Reduktionsprozeß bei der Ei- und Samenreife. Hierzu gesellen sich noch einige weitere Beweise von weniger allgemeiner, aber gleichfalls entscheidender Bedeutung. Sie ver-, dienen um so mehr eine kurze Besprechung, als die Berechtigung der Kernidioplasmatheorie noch immer von einigen Seiten bestritten wird. 1. Erster Beweis durch die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Erbmasse. Der leitende Gedankengang läßt sich in wenigen Sätzen dahin zusammenfassen : Auf Grund der Erfahrungen, die man beim Stu- dium der Bastardzeugung, namentlich auf dem Gebiet der Mendel- forschung gewonnen hat, sind Ei- und Samenzelle zwei einander gleichwertige Einheiten, von denen eine jede mit allen erblichen Eigen- schaften der Art ausgestattet ist. Die Vererbung von Eigenschaften kann nur durch spezifisch organisierte Substanzen oder Erbmassen geschehen, welche den eigentümlichen Lebensprozeß der Eltern auf die Kinder übertragen. Da nun aber Ei- und Samenfäden sich bei gleicher Vererbungspotenz in der Masse ihrer Substanzen ganz kolossal unterscheiden, diese Substanzen aber zugleich aus sehr heterogenen Bestandteilen aufgebaut sind, müssen wir mit NäGELI zwei verschiedene Arten von Substanzen (idioplasmatische und nicht-idioplasmatische), unterscheiden, solche, die für die Vererbung vorzugsweise und solche, die weniger für sie in Frage kommen. Erstere müssen im Zellenleben eine führende, determinierende, letztere eine mehr untergeordnete Rolle spielen ; jene müssen daher in den beiderlei Geschlechtszellen als Träger der erblichen Eigen- schaften in nahezu gleich großer Masse enthalten sein, während die Quantität der nicht-idioplasmatischen Stoffe in weitem Umfang variieren kann. Es kann nun nach dem Studium des Befruchtungsprozesses nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß Ei- und Samenkern bei der Vereinigung der Keimzellen die einzigen Gebilde sind, Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 105 -welche äquivalente Stoffmengen enthalten und sie zur Bildung des Keimkerns vereinigen. Noch mehr als ihre gleiche Grcße, auf die schon oben (S. 99) hingewiesen wurde, spricht hierfür die durch mühselige Untersuchungen festgestellte Tatsache, daß Eikern und Samenkern gleich viel Chromosomen zum Aufbau der ersten Furchungsspindel liefern, mithin zu ihrer Zusammensetzung den genau gleichen Anteil beitragen. Das klassische Beispiel, an wel- chem sich der Beweis hierfür am besten führen last, ist das Ei Fig. 11. Schema zur Kernidioplasmatheorie. A Befruchtetes Ei- mit Ei- und Samenkern ( eik u. s&). Jeder von ihnen enthält zwei Chromosomen, die zur Unter- scheidung ihrer mütterlichen (weh) oder ihrer väterlichen ( mch ) Abstammung als helle oder schwarze Kreise dargestellt sind. pzl, pz2 Polzellen; c Centrosom. B Be- fruchtetes Ei mit erster Teilspindel, deren vier Chromosomen zur Hälfte (weh) vom Eikern, zur anderen Hälfte (mch) vom Samenkern abstammen. C Die weiblichen (weh) und die männlichen Chromosomen (mch) vom Schema B haben sich der Länge nach gespalten und sind in zwei Gruppen von Tochtei Chromosomen auseinandergewichen. sp Spindel; c Centrosom. D Die beiden Teilhälften des Eies besitzen Tochterkerne, deren vier Chromosomen zur Hälfte vom Eikern (weh), zur anderen Hälfte vom Samen- kern (mch) abstammen. (Nach O. Hertwig.) vom Pferdespulwurm. An ihm ist denn auch diese wichtige Tatsache von Eduard yan Beneden zuerst ermittelt worden. Da bei Ascaris megalocephala die Chromosomen von ganz auffallender Größe und zugleich an Zahl sehr gering sind, so konnte es ihm nicht entgehen, daß die vier Chromosomen der ersten Furckungs- k 106 Drittes Kapitel. spindel (Fig. 1 1 B) zur Hälfte (w.ch) vom Eikern, und zur an- deren Hälfte (- m.ch ) vom Samenkern (Fig. 1 1 A eik u. sk) ab- stammen, daß die einen (Fig. n A u. B. w.ch) weiblicher, die anderen (?n.ch) männlicher Herkunft sind. (Man vergleiche hierbei und im folgenden auch die Erklärung von Fig. 1 1 A — D.) Wir ziehen somit aus den Tatsachen der Befruchtungslehre den wich- tigen Schluß: Bei der Befruchtung sind die Kernsubstanzen (Chromatin) die einzigen an Masse äquivalenten Stoffe, die sich zu einer neuen Anlage, dem Keimkern, vereinigen. Sie entsprechen daher wie keine andere Substanz der Keimzellen dem von Nägeli aufgestellten Begriff des Idioplasma und müssen in erster Reihe als die von den Eltern auf das Kind übertragenen Erbmassen an- gesehen werden. 2 Zweiter Beweis aus der gleichwertigen Verteilung der sich vermehrenden Erbmasse auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen. Eine gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erb- massen auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen muß stattfinden, da jeder Körperteil, der im Laufe der Entwicklung entsteht, ja schließlich jede Zelle, ein Mischprodukt von Eigen- schaften beider Eltern darstellt. Nach den Erfahrungen, die man beim Studium der ungeschlechtlichen oder vegetativen Vermehrung, der Regeneration usw., namentlich bei niederen pflanzlichen und tierischen Organismen, gesammelt hat, läßt sich diese Ansicht näher begründen und aus ihr folgern, daß die durch den Samen- faden eingeführte Anlagesubstanz des männlichen Erzeugers beim Furchungsprozeß jeder Embryonalzelle mitgeteilt werden muß. Auch in dieser Beziehung kennen wir aus Erfahrungen, die im mikroskopischen Studien fest begründet sind, nur einen einzigen Prozeß, in dem wirklich die von der Theorie geforderte Verteilungs- weise in der Tat vollständig* verwirklicht wird, nämlich die Ver- mehrungs- und Verteilungsweise der Kernsubstanzen durch die Karyokinese. (Man vergleiche hierüber S. 63 — 65 und Fig. 5 A— D.) Beim Ei .des Pferdespulwurms läßt sich dies bei der ersten Teilung des Eies mit aller nur wünschenswerten Sicherheit fest- stellen. Wenn Ei- und Samenkern, deren Beschaffenheit wir schon früher kennen gelernt haben, zusammen die erste Teilspindel bilden (Fig. 1 1 B), so wissen wir, daß von ihren vier Chromosomen zwei vom Eikern (w.ch), zwei vom Samenkern (m.ch) abstammen. Da nun wie bei jeder Karyokinese die Chromosomen sich im Stadium Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 107 des Muttersterns ihrer Länge nach spalten, da hierauf ihre Spalt- produkte, die Tochterchromosomen, sich in der schon besprochenen Weise voneinander trennen (Fig. 1 1 C w.ch u. m.ch). die Tochter- sterne bilden und schließlich in den Aufbau der Tochterkerne der beiden neuen Zellen (Fig. 1 1 D {w.ch u. m.ch) übergehen, so ist in diesem Fall der unumstößliche und wichtige Beweis geführt, daß beim ersten Teilakt des befruchteten Eies dem Tochterkern in jeder Teilhälfte genau die gleiche Menge Chromatin vom Eikern wie vom Samenkern zugeführt wird. Derselbe Vorgang wiederholt sich wahrscheinlich auch bei jedem späteren Teilungsschritt, so daß schließlich der Kern jeder Gewebszelle aus äquivalenten Men- gen des durch Wachstum sich vermehrenden Chromatins mütter- licher und väterlicher Abkunft zusammengesetzt ist. Zwar läßt sich die Abstammung der Chromosomen später nicht mehr wie beim ersten Teilungsakt durch die Beobachtung wirklich feststellen, aber nach dem, was wir von dem Wesen der Kernteilung (s. S. 65) wissen, läßt sich unsere Annahme als im höchsten Grade wahr- scheinlich bezeichnen. 3. Dritter Beweis: die Verhütung der Summierung der Erbmassen in der Reihe der Generationen durch den Re- duktionsprozeß bei der Ei- und Samenreife. Wie es in der Mendelliteratur üblich ist (vgl. S. 78), wollen wir die Elterngeneration, die wir zum Ausgang unserer Betrachtung wählen, als P (Parentes) und jede in zweiter, dritter, vierter Linie usw. von ihr abstammende Generation als Flt F2, F3 . . . Fn be- zeichnen. Nun erhält jede Zelle der Fi-Generation, die von der be- fruchteten Eizelle des Eltern paares (P) abstammt, dieselbe Zahl von Chromosomen wie diese. Wenn daher durch Zeugung aus der Fi- eine F2-Generation entsteht, müßte man erwarten, daß in dem befruchteten Ei der F2-Generation die doppelte Zahl von Chromo- somen und die doppelte Chromatinmasse als im befruchteten Ei der vorausgegangenen P-Generation würde Zusammenkommen müssen. Würde dann wieder eine Befruchtung bei der geschlechtlichen Zeugung der F2-Generation erfolgen, so müßte das Verschmelzungs- produkt ihrer Ei- und Samenzellen abermals die doppelte Chroma- tinmasse von Ft oder die vierfache von P besitzen. So würde bei jeder neuen Zeugung durch den Befruchtungsprozeß die Chroma- tinmasse und ebenso die Zahl der sie auf bauenden Chromosomen in geometrischer Progression mit dem Quotienten 2, also 2, 4, 8, 16, 32 usw. anwachsen. Eine solche Summierung durch fortgesetzte Addition muß daher in der Natur durch irgendeinen Vorgang in o8 Drittes Kapitel. besonderer Weise verhindert werden, da sich sonst bald ein kolos- sales Mißverhältnis zwischen Kernsubstanz und Protoplasma er- geben, ja überhaupt der Raum einer gewöhnlichen Zelle schon sehr bald gar keinen Platz mehr für das Chrcmatin darbieten würde. Dieselbe Betrachtung ist auf das Idioplasma anwendbar, wenn es auf jede Zelle durch Teilung vererbt und durch die von Gene- ration zu Generation erneut eintretenden Befruchtungsakte jedes- mal verdoppelt werden würde. An und für sich würde zwar da- durch seine Erbqualität nicht verändert werden. Denn anstatt zweimal würden alle einzelnen Anlagen viermal, achtmal und noch mehr vertreten sein. Aber es liegt auf der Hand, daß eine derartig progressive Massenzunahme nicht eine unbegrenzte sein kann. Auch Nägeli und besonders Weismann haben diese Schwierig- keit hervorgehoben und nach einer Erklärung gesucht. „Wenn bei der Fortpflanzung durch Befruchtung“, bemerkt Nägeli, „das Volumen des irgendwie beschaffenen Idioplasma sich verdoppelte, so würden nach nicht sehr zahlreichen Generationen die Idioplasmakörper so sehr anwachsen, daß sie selbst einzeln nicht mehr in einem Spermatozoid Platz finden. Es ist also durch- aus notwendig, daß bei der digenen Fortpflanzung die Vereinigung der elterlichen Idioplasmakörper erfolge, ohne eine den vereinigten Massen entsprechende, dauernde Vergrößerung dieser materiellen Systeme zu verursachen.“ Namentlich aber hat sich WEISMANN mit dem hier aufgewor- fenen Problem eingehend beschäftigt und darzutun versucht, daß eine Summierung der Erbmasse durch einen Reduktionsprozeß verhütet wird, durch welchen die Erbmasse sich jedesmal vor der Befruchtung auf die Hälfte verkleinert. Er hält die theoretische Forderung einer bei jeder Generation sich wiederholenden Reduk- tion für so sicher begründet, „daß die Vorgänge, durch welche dieselbe bewirkt wird, gefunden werden müßten, wenn sie in den von ihm so gedeuteten Tatsachen noch nicht enthalten sein sollten“. In der Tat vollzieht sich ein Vorgang, der als Reduktion des Chromatins und als eine Art Vorbereitung für den Be- fruchtungsprozeß bezeichnet werden kann, während einer sehr inter- essanten Entwicklungsperiode der Keimzellen, welche ich als Ei- und Samenreife unterschieden habe. Ein vorzügliches Unter- suchungsobjekt auch hierfür geben die Geschlechtsprodukte von Ascaris megalocephala ab. Durch einen genau durchgeführten Ver- gleich der Ei- und Samenbildung konnte ich an diesem Objekt zum erstenmal den Nachweis führen, daß die beim Ei schon längere Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 09 Zeit bekannte Bildung- der Richtungskörper der Polzellen und die durch sie bewirkte Reduktion des Chromatins ihr vollständiges Gegenstück in der Samenreife findet. Um mit diesem fundamen- talen, für das Verständnis der Befruchtung und der Vererbungs- lehre wichtigen Tatsachen den Leser bekannt zu machen, will ich einen kurzen Überblick über die Oo- und Spermiogenese von As- caris megalocephala geben. Strittige Fragen, die auf dem so viel bearbeiteten Forschungsgebiet noch über dieses und jenes oft sehr subtile Detail bestehen, sollen hierbei unberücksichtigt bleiben. Das Wesentliche bei der Ei- und Samenreife (Fig. 12) be- steht in sehr auffälligen Veränderungen, welche das Chromatin in den Kernen der Samenmutterzelle (Spermatocyte) (S]) und der ihr entsprechenden Eimutterzelle (Oocyte) (01) in einer Reihe aufein- anderfolgender Stadien erfährt. Wie bei einer gewöhnlichen Zell- teilung beginnt das Chromatin, das während des Ruhestadiums des Kerns in Körnchen und Strängen im Saftraum ausgebreitet war, fadenförmige Chromosomen zu bilden. Ihre Zahl beträgt bei As- caris megalocephala bivalens vier, wie in den Embryonalzellen des befruchteten Eies. Sie ordnen sich in einer Weise, die noch nicht über allen Einwand festgestellt ist, im wichtigen, schwer zu unter- suchenden Stadium der „Synapsis“ zu zwei Paaren an und beginnen sich zugleich ähnlich wie im Verlauf einer Karyokinese ihrer Länge nach in zwei Tochterchromosomen zu spalten. Infolgedessen sind zwei Verhältnisse geschaffen, wie sie bei gewöhnlichen Gewebs- zellen nicht beobachtet werden: erstens bilden die Chromosomen zwei Vierergruppen oder Tetraden, in denen sie durch eine proto- plasmatische Substanz (Linin) verbunden sind, eine Anordnung, die nur diesem bestimmten Stadium in der Oo- und Spermiogenese (Fig. 12 O1 u. Sl t) eigentümlich ist, und zweitens ist ihre Zahl in- folge der Längsspaltung auf das Doppelte, also von 4 auf 8 ver- mehrt, wie es bei Gewebszellen erst auf dem Spindelstadium kurz vor der Teilung, bei der Umwandlung des Muttersterns in die beiden Tochtersterne, geschieht. (Man vergleiche hierüber den Abschnitt über die Karyokinese.) Die so bemerkenswerte Anord- nung der chromatischen Substanz in Vierergruppen findet dann später dadurch ihre Erklärung, daß zwei Teilungen anstatt einer, gleichsam als Schlußakt der Spermiogenese und Oogenese, rasch aufeinander folgen und daß zwischen ihnen das Ruhestadium des Kerns ausfällt, während sich sonst ein solches immer wieder bei einer gewöhnlichen Karyokinese ausbildet. Man kann daher wohl sagen, daß die chromatische Substanz im Kern der Ei- und Samen- I IO Drittes Kapitel. Beweise für die Kemidioplasmatheorie. I I L Fig. 12. Schema zum Vergleich der Ei- und Samenhildung bei Nema- toden. (Nach O Hertwig.) 01 — 0H sind sechs aufeinanderfolgende Stadien aus dem Reifeprozeß des Eies. Unter jedem derselben ist das entsprechende Stadium aus der Spermiogenese S 1 — dargestellt. O1 Ovocyte erster Ordnung mit Keimbläschen, in welchem das Chromatin auf acht zu zwei Vierergruppen (Tetraden) verbundenen Chro- mosomen verteilt ist; S1 Spermatocyte erster Ordnung mit entsprechender Anordnung der acht Chromosomen; O2 Ovocyte mit der aus dem Keimbläschen entstandenen Kern- spindel (Polspindel) mit 2 X 4 Chromosomen ; S 2 Spermatocyte mit Kernspindel mit 2X4 Chromosomen: O3 Ovocyte zweiter Ordnung mit der ersten Polzelle. Bei der Kernteilung hat jede Tochterzelle 2X2 Chromosomen erhalten, die paarweise (Dyaden) verbunden sind ; $3 Teilung der Spermatocyte in zwei Präspermatiden mit 2 X 2 Chro- mosomen; O4 Ovocyte zweiter Ordnung in Vorbereitung zu einer zweiten Teilung (zweite Polspindel); &4 Vorbereitung der Piäspermatiden zu einer zweiten Teilung; O5 Reifei mit zweiter Polzelle Q022); erste Polzelle in zwei Tochterzellen geteilt ( pz'A u. pz*) ; jede der vier Zellen enthält nur zwei einzelne Chromosomen ; S5 die zwei Präspermatiden sind in vier Spermatiden geteilt, von denen jede ebenfalls nur zwei einzelne Chromo- somen enthält; O6 Reifei mit Eikern und drei Polzellen; SG die vier Spermatiden haben sich voneinander getrennt; S7 aus der Spermatide entstandener Samenkörper mit Kern und Glanzkörper; t Tetrade, Vierergruppe der Chromosomen; sp 1 erste Teilspindel der Ovocyte und Spermatocyte; d Dyade, Zweiergruppe der Chromosomen; sp2 zweite Teil- spindel der Ovocyte und Spermatocyte zweiter Ordnung (Präspermatide) ; pz1 erste Pol- zelle; pz 2 zweite Polzelle; pzs und pz 4 aus Polzelle 1 entstandene zwei Tochterzellen; eik Eikern; sk Samenkern; g Glanzkörper der Spermatosomen. mutterzelle durch die Anordnung in Tetraden frühzeitig im voraus auf eine doppelte Teilung vorbereitet worden ist. Im einzelnen betrachtet, bietet der Vorgang der Samen- und Eireife, durch den sich die für uns so wichtige Reduktion der Kernsubstanzen vollzieht, interessante Verschiedenheiten dar, die im ganzen Tierreich mit auffallender Konstanz wiederkehren. Sie verdienen daher an der Hand des Schemas (Fig. 12) noch kurz be- sprochen zu werden. In den Samenmutterzellen, Spermatocyten ($’), die erheblich kleiner als die dotterreichen Eier (01) sind, liegt der bläschenför- mige Kern mit den beiden Vierergruppen (t) in der Mitte und be- hält diese Lage auch bei, wenn er sich bei Beginn der Karyo- kinese in eine Spindel um wandelt ( S 2 sp'). Auf dem Spindelstadium trennen sich alsdann die zu den zwei Vierergruppen verbundenen Chromosomen in zwei Hälften und bilden so Paare oder Dyaden. Während die Paare nach den Enden der Spindel auseinander- weichen, wird die Mutterzelle durch eine zur Spindelachse senk- recht gestellte und sie in der Mitte schneidende Teilebene in zwei gleich große Tochterzellen ( Ss ) zerlegt, deren jede vier zu Paaren (d) verbundene Chromosomen erhält. Diese ordnen sich sofort ohne Zwischenschaltung eines Ruhestadiums auf einer zweiten neuent- standenen Spindel an (&4); wieder weichen die Chromosomen in den Zweiergruppen in entgegengesetzten Richtungen auseinander und werden, indem abermals eine Teilebene zwischen ihnen die i 12 Drittes Kapitel. Tochterzelle halbiert, auf je zwei Enkelzellen (S'°) verteilt, die dann nur noch zwei Chromosomen, eins von jeder Zweiergruppe, besitzt. Auf diese Weise sind aus der Samenmutterzeile (Spermatocyte) ( Sl ) durch doppelte Teilung vier gleich große Enkelzellen (Sper- matiden) (S3 u. S 3) hervorgegangen. Diese haben sich in die ur- sprünglichen acht Chromosomen, die in Vierergruppen angeordnet waren, genau geteilt und daher je zwei erhalten, von jeder Vierer- gruppe ein Element. Zuletzt wird die Samenbildung dadurch voll- endet. daß die vier Samenzellen (Spermatiden) sich allmählich zu den reifen Samenkörperchen (Spermatosomen) ( S 7) umwandeln Ihnen fehlt bei Ascaris die charakteristische Fadenform, die den meisten Tieren eigen ist; denn ihre Gestalt ist mehr die eines Kegels oder einer Spitzkugel. Bei der Umwandlung verschmelzen die beiden Chromosomen der Spermatide zu einem kleinen, kom- pakten, kugeligen Kern, in dem wahrscheinlich auch das Centro- som der letzten Teilungsfigur, die Grundlage für das bei der Be- fruchtung wieder auftauchende Centrosom, miteingeschlossen ist. Bei der Eireife (Fig. 12 O1 — O6) spielen sich im Kern genau dieselben Vorgänge, wie sie oben beschrieben wurden, ab, aber die vier Zellen, die hierbei entstehen, fallen in ihrer Größe außerordent- lich verschieden aus. Infolgedessen bieten hier die Reifeteilungen äußerlich ein ganz anderes Aussehen dar. Wenn in der großen dotterreichen Eimutterzelle, Ovocyte (0l) der Kern oder, wie er hier gewöhnlich heißt, das Keimbläschen sich in die Spindel um- wandelt, so bleibt diese nicht in der Mitte des Eies liegen, sondern wandert bis an der Oberfläche empor und nimmt hier eine Stellung in der Richtung des Eiradius ein (O2 spl). An der Stelle, wo sie mit ihrem einen Ende die Eirinde berührt, wölbt sich hierauf der Dotter zu einem kleinen Hügel empor, in welchen gleichzeitig die Spindel zur Hälfte hineinrückt (03 pzl). Der Hügel wird alsdann an seiner Basis eingeschnürt und mit der in ihm eingeschlossenen Hälfte der Spindel vom übrigen Eiinhalt als ein winziges Kügel- chen abgetrennt. Dasselbe führt von der Zeit her wo es zuerst beobachtet, aber in seiner Bedeutung vollständig verkannt wurde, den Namen Richtungskörperchen oder Polzelle, Namen, die auch jetzt noch gebraucht werden. Den ersten gab man, durch die Wahrnehmung veranlaßt daß von dem Orte aus, wo sich das Richtungskörperchen befindet, die erste Teilebene gebildet wird. Der zweite Name aber wurde gewählt, weil der Ort seiner Ent- stehung kein willkürlicher ist, sondern bei Eiern, die nach ihrer inneren Organisation polar differenziert sind, dem animalen Pol Beweise für die Kernidioplasmatheorie. I 13 entspricht, der bei der Ruhelage des Eies nach oben gerichtet ist. Der animale Pol läßt sich daher aus der Lage der Polzellen sofort bestimmen. In früheren Zeiten war die Ansicht weit verbreitet, daß in den kleinen Kügelchen irgendein unbrauchbar gewordener Bestandteil aus dem Ei ausgestoßen werde, wobei man an das dem Untergang kurz zuvor verfallene Keimbläschen dachte. Sprach doch ein Forscher zur drastischen Bezeichnung dieses Standpunktes vom Richtungs- körperchen als von dem Kot des Eies. Jetzt wissen wir auf Grund der eben beschriebenen Vorgänge, daß es sich um eine wirkliche, durch Karyokinese gebildete, kleine Zelle handelt. Denn das Richtungskörperchen besitzt nicht nur alle Merkmale einer Zelle, Protoplasma und Kern, sondern ist auch durch einen wirklichen Teilungsprozeß aus einer Mutterzelle entstanden. Allerdings sind in diesem Fall die Teilprodukte von sehr un- gleicher Größe; aber dies ist nur ein nebensächlicher Unterschied, der sich weder gegen die Zellnatur der Kügelchen, noch gegen ihre Entstehung durch Zellteilung geltend machen läßt. Ungleiche {inäquale) Zellteilungen werden ja, wenn wir das ganze Tierreich überblicken, hier und da in allen möglichen Abstufungen beobachtet; sie werden als Knospung bezeichnet, wenn es sich um so erheb- liche Größenunterschiede zwischen den Teilprodukten wie in dem vorliegenden Fall handelt. Die Polzelle ist daher eine Knospe, ent- standen aus einer oft riesig großen Mutterzelle, dem Ei. Sofort nach der Abschnürung der ersten Knospe wiederholt sich derselbe Vorgang noch einmal. Die an der Oberfläche des Dotters zurück- gebliebene halbe Spindel mit ihren beiden Chromosomenpaaren (03) ergänzt sich, ohne in das bläschenförmige Ruhestadium des Kerns zuvor wieder eingetreten zu sein, rasch wieder zu einer vollen Spindel (04 sp 2); wieder wölbt sich unter der ersten Polzelle ein kleiner protoplasmatischer Hügel empor, der die zweite Spindel wieder zur Hälfte in sich aufnimmt, nachdem die beiden Elemente jeder Zweier- gruppe sich in entgegengesetzter Richtung voneinander getrennt haben. Hierauf schnürt sich der Hügel als Kügelchen ab (05 pz2). Im Ei bleiben mithin jetzt von den acht Chromosomen der beiden Vierergruppen (0l u. 02 t) nur zwei zurück (05), ein Element von jeder Gruppe; sie bilden die Grundlage für den Eikern (06 eik), der sich von dem Keimbläschen des unreifen Eies so wesentlich unterscheidet und bei dem Befruchtungsprozeß in der früher be- schriebenen Weise eine wichtige Rolle spielt. Da nun gleichzeitig auch die erste Polzelle oft noch einmal geteilt wird, liegen im O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 8 Drittes Kapitel. 114 ganzen drei Kügelchen dem reifen Ei auf (Fig. 12 Ö5 u. 0 6 pz2, pz3 u. pz 4). Die Vergleichspunkte zwischen Ei- und Samenbildung liegen jetzt klar zutage. Wie die Samenmutterzelle, hat sich auch die Ei- mutterzelle rasch hintereinander zweimal geteilt so daß hier wie dort vier Zellen gebildet worden sind (05 und Sb, 06 und S6). Da- bei ist ebenfalls zwischen beiden Kernteilungen das Ruhestadium des Kerns, was bei gewöhnlichen Zellteilungen niemals geschieht, ganz ausgefallen. Hier wie dort ( 0 1 u. Sl) sind die acht Chromo- somen des Kerns, welche zu Vierergruppen (t) miteinander ver- bunden waren, in gleicher Weise auf die vier Enkelzellen verteilt worden , so daß jede ein Element jeder Vierergruppe erhalten hat (06 und S6). Nur in einem Punkt besteht zwischen Ei- und Samen- bildung ein Unterschied. Es sind nämlich die vier Teilprodukte der Samenmutterzelle, die Spermatiden, von genau derselben Größe (iS6) und wandeln sich ohne Unterschied in befruchtungsfähige Samenkörper (iS7) um; aus der Eimutterzelle dagegen sind vier sehr ungleich große Zellen entstanden (06): das Reif- ei, welches zur Befruchtung und zur Grundlage für einen neuen Organismus allein geeignet ist, und die drei kleinen Polzellen (pz2, pz3 und pz4), welche für die weitere Entwicklung ohne jede Bedeutung sind und all- mählich zugrunde gehen. Diese können mit Recht als Abortiv- eier gedeutet werden, da sie, wie der Vergleich gelehrt hat, in derselben Weise wie die vier Samenkörper von einer entsprechenden Mutterzelle (Ovocyte, Spermatocyte) abstammen. Das Rudimentärwerden der drei Polzellen läßt sich biologisch leicht verstehen, wenn wir uns der früheren Betrachtung erinnern, daß Ei- und Samenzelle für den Befruchtungs- und Entwicklungs- prozeß mit verschiedenen Aufgaben betraut und dementsprechend auch verschieden differenziert worden sind (S. 59). Da es beim Ei darauf ankommt, eine große Masse Nährmaterial während seines Wachstums im Eierstock anzusammeln, so würde dieser Aufgabe im letzten Moment entgegengewirkt werden, wenn bei der Reife schließlich das Ei durch zwei Teilungen in vier gleich große Stücke zerlegt werden würde. Um diesen Verlust zu verhüten, dient der Kunstgriff der Natur, drei Zellen leer ausgehen zu lassen, damit von den vieren die eine für den Entwicklungsprozeß besser aus- gerüstet ist, ähnlich wie bei Fideikommissen ein Haupterbe auf Kosten aller übrigen bevorzugt wird. Man könnte hier den Ein- wurf machen, daß sich dieser Zweck in einfacherer Weise hätte erreichen lassen, wenn überhaupt die letzten Teilungen ganz unter- Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 115 blieben wären. Hierbei wird aber vergessen, daß diese Teilungen in anderer Richtung unentbehrlich sind, da durch sie ja erst das Mengenverhältnis der chromatischen Substanz in ganz bestimmter Weise reguliert wird. Würden sie bei der Eibildung ausbleiben, so würde der Kern des Eies (Fig. 12, 0l t) bei der Befruchtung ja vier- mal soviel Chromatin als der vom Samenfaden abstammende Samen- kern ( S 6) besitzen und dadurch von ihm wesentlich verschieden sein. Die große theoretische Bedeutung der Ei- und Samenreife wird uns im Hinblick auf das schon früher (S. 63) besprochene Zahlen - gesetz der Chromosomen noch besser begreiflich werden. Das Gesetz lehrt, daß die Zahl der Chromosomen in allen Zellen einer Pflanzen- oder Tierart beim Auftreten einer Kernteilung immer genau die gleiche ist, mag es sich um eine Epidermis, eine Knorpel-, eine Muskel-, Drüsenzelle usw. handeln. Dagegen zeigt bei ver- schiedenen Tierarten die Zahl der sich bildenden Chromosomen oft große Unterschiede; denn sie kann 2, 4, 6, 16, 24 usw. betragen. Von dem Zahlengesetz der Chromosomen weichen nun aber — und damit kommen wir zu dem für unsere Betrachtung wichtigsten Punkt — die reifen Ei- und Samenzellen bei Pflanzen und Tieren in gleicher Weise ausnahmslos ab. Denn im Ei- und Samen- kern werden immer nur halb so viel Chromosom en als in den Kernen aller übrigen Zellen der betreffenden Tierart aufgefunden. Die einen sind daher Vollkerne, die anderen nur Halbkerne in bezug auf ihren Chro- matingehalt und die Zahl ihrer Chromosomen. Auch hierin handelt es sich um eine gesetzmäßige Erscheinung, die durch zahlreiche Untersuchungen an den Vertretern der verschiedenartigsten Tierabteilungen nachgewiesen worden ist. Bei Berücksichtigung dieser Verhältnisse wird es uns jetzt so- fort klar, warum bei der Reifung der Eizelle die Bildung der Pol- zellen, trotzdem sie nur abortive oder rudimentäre Eier sind, nicht ganz unterdrückt werden konnte. Denn die bei ihrer Bildung stattfindenden Kernteilungen sind notwendig, um die für die reifen Geschlechtsprodukte gesetzmäßige Regulierung der Chromosomenzahl herbeizuführen. Unsere ganze Betrachtung über die Ei- und Samenreife können wir daher in das allgemeine Ergebnis zusammenfassen: Durch die außer- ordentlich früh eintretende Anordnung der chro- matischen Substanz in Vi er er gru ppen , durch die Ver- teilung der vier Chromosomen einer Gruppe auf vier Zellen durch zwei sich ohne Pause aneinander an- 8* Drittes Kapitel. 1 16 schließende Teilungen — nämlich bei der Sam enreif e (Fig. 12, Sl — S 6) auf vier Spermatiden ( S 6), bei der Eireife (Fig. 12, Ol — O6), auf das Reif-ei (O6 eile) und auf drei Polzellen (O6 pz2, pz 3 und pz4) wird die Masse des Chromatins so- wie die Zahl der Chromosomen auf die Hälfte dessen 'herabgesetzt, was andere Zellen nach einer Teilung erhalten. Mithin sind Ei- und Samenkern in bezug auf die Masse des Chromatins und adf die Chromosomenzahl nur Halbkerne. Dem gesamten Vorgang hat man in der embryologischen Literatur den passenden Namen „Reduktionsprozeß“ gegeben. Ge- wöhnlich verbindet man mit ihm die Vorstellung, daß gleichzeitig mit der Halbierung des Chromatins nach Masse und Zahl seiner geformten Elemente eine qualitativ ungleiche Verteilung seiner Bestandteile verbunden ist. Auf diese legen viele Forscher sogar das Hauptgewicht. Es ist aber wohl klar, daß durch die mikro- skopische Untersuchung nur die quantitative Reduktion nachgewiesen und sichergestellt ist. Eine „qualitative Sonderung“ dagegen kann ja bei der Chromatin Verteilung nicht mikroskopisch gesehen, sie könnte nur auf Grund physiologischer Erwägungen, auf die später noch einzugehen sein wird, angenommen werden ; daher trägt sie auch im Verhältnis zu jener einen mehr hypothetischen Charakter. Aus den kurz zusammengefaßten Tatsachen läßt sich schon klar ersehen, warum wir in ihnen einen dritten Beweis zugunsten der Kernidioplasmatheorie zu erblicken haben. Ei- und Samenreife stehen, indem Halbkerne durch den Reduktionsprozeß gebildet werden, in einem Gegensatz zum Befruchtungsprozeß, der in einem der Reduktion entgegengesetzten Sinne wirkt. Dadurch, daß bei der Befruchtung ein Samenkern in das Ei eingeführt wird, der mit dem Eikern verschmilzt und seine Chromatinmasse verdoppelt, wird aus zwei Halbkernen erst wieder ein Vollkern hergestellt, von dem dann alle Kerngenerationen des neuen Geschöpfes abstammen. Wenn in einer Zelle eine Reduktion der Kernsubstanz stattgefunden hat, dann muß, wenn anders der für eine Tierart typische Chro- matinbestand in den aus ihr entstehenden Zellgenerationen gewahrt werden soll, eine Befruchtung oder ein ihr gleichartiger Prozeß hin- zutreten. Eine reduzierte Zelle kann daher als eine be- fr uchtungsbedürftige angesehen werden. Und umge- kehrtmuß aus denselben Gesichtspunkten, wenn eine Verschmelzung zweier Zellen durch Befruchtung erfolgt ist, der aus dem Ver- schmelzungsprodukt (der Zygote) hervorgehende Organismus vor Be- ginn einer neuen Befruchtungsperiode eine Reduktion seiner Keim- Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 1 17 zellen erfahren, damit einer Summation der Kernmasse durch Be- fruchtung entgegengewirkt wird. Durch die mikroskopischen Ent- deckungen beim Studium des Zeugungsprozesses ist daher tatsäch- lich ein Verhältnis nachgewiesen worden, auf welches NäGELI in seiner spekulativen Idioplasmatheorie vermutungsweise hingewiesen hat, gewiß ein schöner Beweis für die Richtigkeit der Ansicht, daß die Kerne die Träger des Idioplasmas sind. 4. Weitere Beweise. Zu den drei eben besprochenen Hauptbeweisen für die Kernidio- plasmatheorie gesellen sich noch einige Nebenbeweise hinzu : Einer von ihnen läßt sich aus den Vererbungsexperimenten von Mendel herleiten, besonders aus seiner schon früher auf S. 82 erörterten. Spaltungsregel. Ihr zufolge sollen die im Bastardidioplasma ent- haltenen Anlagepaare sowohl bei der Ei- wie bei der Samenbildung wieder voneinander getrennt und in gleichem Zahlenverhältnis auf die weiblichen und die männlichen reifen Keimzellen verteilt werden. Schon von vielen Forschern ist hervor gehoben worden, daß der Reduktionsprozeß ein Vorgang sei, der in jeder Beziehung die Be- dingungen zur Trennung und verschiedenartigen Verteilung der Anlagen gewährleiste. In diesem Sinne hat sich jetzt auch einer unserer verdientesten Erblichkeitsforscher, E. Baur, in der dritten Auflage seines Lehr- buches: „Einführung in die experimentelle Vererbungslehre“ aus- gesprochen mit den Worten : „Wenn man sich rein theoretisch irgend- eine Vorstellung machen wollte von den cytologischen Grundlagen der Spaltungsregeln, so könnte man immer einen ähnlichen Prozeß ausdenken, wie wir ihn an den Chromosomen der Kerne bei der Reduktioristeilung tatsächlich beobachten. Ein Prozeß, welcher der Reduktionsteilung entspricht, wird in jeder Theorie über die stoff- lichen Grundlagen der Spaltungsgesetze immer angenommen werden müssen. Daß wir bei der cytologischen Untersuchung in dem Zell- kern und speziell in den Chromosomen nun gerade Gebilde finden, die in ihrem ganzen Verhalten dieser theoretischen Postulation ent- sprechen, das macht es sehr wahrscheinlich, daß in diesen Organen die mendelnden, idioplasmatischen Grund unterschiede liegen .“ Ist nicht eine derartige Übereinstimmung zwischen morphologischen und physiologischen Beobachtungsreihen, die vollständig unabhängig voneinander gewonnen worden sind, als Argument zugunsten der Kernidioplasmatheorie sehr hoch einzuschätzen? Außerdem aber gestattet uns die Mendelforschung noch einige viel weitergehende Rückschlüsse auf die Konstitution des Idioplasma Drittes Kapitel. I 1-8 zu machen. Die Erbeinheiten müssen, wenn man ihre Neuverteilung nach der Spaltung in der F2- und F3-Generation erklären will (vgl. S. 87 bis 94), eine gewisse Selbständigkeit in der Weise besitzen, daß sie neue Kombinationen untereinander einzugehen vermögen ; sie können sich daher untereinander nicht in einem starren Ver- band befinden, der keine Veränderung zuläßt. Wenn also beim Reduktionsprozeß, wie man bei Übertragung der Spaltungsregel auf ihn annehmen muß, wieder eine Trennung des Idioplasma in zwei Hälften stattfindet, so sind diese Hälften, streng genommen, nicht mehr die rein elterlichen Idioplasmen, die durch den Be- fruchtungsprozeß zum kindlichen Idioplasma und bei Bastardierungen zum Bastardidioplasma verbunden und durch Karyokinese von Zelle zu Zelle verteilt worden sind; es sind vielmehr zwei Idioplasmen, die sich durch einen vorausgegangenen Austausch von Erbeinheiten und durch ihre neue Kombination, ferner durch gegenseitige Be- einflussung der Anlagepaare und noch in anderer Weise verändert haben. Es entsprechen also die bei der Befruchtung miteinander ver- bundenen elterlichen Idioplasmen, um uns eines von DE Vries ge- brauchten Bildes zu bedienen, nicht zwei Personen, die vereint eine Strecke Weges in gemeinsamer Wanderschaft zurücklegen, nach einiger Zeit aber voneinander Abschied nehmen und sich eine jede einen neuen Begleiter für die nächste Wegstrecke suchen; vielmehr lassen sich in einer mehr zutreffenden Weise, wie mir scheint, die zwei Idioplasmen zwei Heerscharen vergleichen, die sich zu gemein- samer Aktion verbunden haben und während derselben einen Aus- tausch in ihrem Personenbestand vornehmen und auch neue Forma- tionen bilden, bei ihrer späteren Trennung aber diese Veränderungen nicht wieder rückgängig machen. Da die Chromosomen schon wegen ihrer geringen Zahl, abgesehen von anderen Gründen, als ganze Gebilde nicht Träger der mendelnden Eigenschaften sein können, müssen sie als taktische Verbände viel kleinerer Einheiten aufgefaßt werden, die sich in ihrer Zusammengruppierung verändern und sich als Erbanlagen (Gene) untereinander austauschen können. Als Träger der Gene könnte man hier an die Chrom omeren, die man durch geeignete Färbemethoden als eine Reihe aneinander schließender Körner im Chromosom unterschieden hat (S. 35) oder an noch kleinere, unbekannte Stoffeinheiten denken. Auf die viel- versprechenden erbanalytischen Experimente an Drosophila, durch welche MORGAN aus der bald mehr lockeren, bald mehr festeren Koppelung der mendelnden Erbfaktoren einen Einblick in ihre Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 1 19 topographische Anordnung im Chromosom, also gleichsam in die Architektur derselben zu gewinnen sucht, wurde bereits auf Seite 35 kurz hingewiesen. Zugunsten der Kernidioplasmatheorie ist ferner auch eine Art von apagogischem Beweis, d. h. ‘ein Beweis e contrario, mit auf- zuführen. Er betrifft den von gegnerischer Seite oft erhobenen Einwand, daß kein Grund vorliege, dem Kern vor dem Plasma einen Vorzug einzuräumen; denn die im Mittelstück und kontrak- tilen Faden des Spermatozoon enthaltene protoplasmatische Substanz mische sich bei der Befruchtung doch auch dem Eiplasma bei, sie könne sich vermehren und auf alle Tochterzellen verteilen, wenn sich dies auch nicht direkt habe beobachten lassen. Auch dieser Ein wand ist nach dem gegenwärtigen Stand der exakten Forschung hinfällig geworden. Denn es ist jetzt durch Beobachtungen fest- gestellt, daß Mittelstück und Faden bei der Vererbung keine der- artige Rolle spielen können. In einer wichtigen, mit zuverlässigen Methoden ausgeführten Untersuchung der Befruchtung der Seeigeleier hat Meves nach- gewiesen, daß der aus Chondriosomen bestehende Teil vom Mittel- stück des Samenfadens sich nach seinem Eindringen unverändert im Ei erhält und während der ersten Teilung nur in eine der beiden Tochterzellen gerät. Dasselbe wiederholt sich auch noch in einer ganzen Reihe der nächstfolgenden Teilungen. Das Mittelstück nimmt auch jetzt noch am Vermehrungsprozeß der Zellen nicht teil und wird als Ganzes immer nur in eine der Tochterzellen auf- genommen. Während also die Kernsubstanz äquivalent auf alle Tochterzellen verteilt wird, ist dies ganz sicher bei den übrigen Bestandteilen des Samenfadens nicht der Fall. Wenn das Ei z. B. in 32 Zellen zerfallen ist, findet sich nur in einer von ihnen das Mittelstück. An der Richtigkeit dieser Untersuchungen ist um so weniger zu zweifeln, als Meves sie unternommen hatte in der Er- wartung, das Gegenteil durch sie beweisen zu können. Was ferner das Schicksal der kontraktilen Geißel des Samen- fadens im Ei betrifft, so liegen hierüber zwei Angaben von VAN der Stricht und von Lams vor. Der eine hat am Ei der Fleder- maus, der andere am Ei des Meerschweinchens nachgewiesen, daß der Schwanz des Samenfadens noch längere Zeit nach der Be- fruchtung bestehen bleibt und bei der ersten Teilung gleichfalls nur einer der beiden ersten Tochterzellen zugeteilt wird. In meinen Augen sind derartige Beobachtungen, denen sich jetzt, wo die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gerichtet ist, wohl bald ähn- 1 20 Drittes Kapitel. liehe anreihen werden, ein wichtiger indirekter Beweis dafür, daß die Bedeutung eines Idioplasma nur der Kernsubstanz zukemmen kann. Denn alle übrigen Substanzen, die noch im Samenfaden Vor- kommen, wenn wir von dem in mancher Hinsicht noch rätselhaften Centrosom absehen, erfüllen schon von vornherein nicht die Grund- bedingungen, die man an eine Vererbungssubstanz stellen muß, nämlich die Bedingung, daß sie bei der Zellteilung auf die Embryonal- zellen gleichmäßig verteilt wird. c) Zusammenfassung. Wenn wir zum Schluß noch das Ergebnis aus allen morpho- logischen und physiologischen Erörterungen des dritten Kapitels ziehen, so haben wir in der „Artzelle” einen Organismus zu er- blicken, der uns im kleinsten Raum, wie in der Substanzmasse des winzigen Samenfadens, eine solche Fülle von stofflichen Verschieden- heiten und Leistungsmöglichkeiten oder Potenzen birgt, daß sein Studium für die Biologie als unerschöpflich, aber auch für unsere Forschungsmittel als kaum angreifbar zu betrachten ist. Da der Organismus der Zelle auf Verbindungen des Stoffes beruht, die aller Voraussicht nach komplizierter als die Moleküle der orga- nischen Chemie sind und mit den gewöhnlichen chemischen Metho- den nicht analysiert und noch viel weniger synthetisch dargestellt werden können, so habe ich sie von den chemischen als biologische unterschieden (siehe S. 47). Eine solche Unterscheidung ist auch aus logischen Gründen notwendig im Hinblick auf die Leistungen, welche die Artzelle als Anlage eines noch zusammengesetzteren Organismus uns im Entwicklungsprozeß offenbart. Denn in diesem lassen die biologischen Verbindungen in der Hervorbringung der allerverschiedenartigsten und kompliziertesten Gestaltungen, wie eines Auges oder Hirns, Potenzen erkennen, denen der Chemiker in den Eigenschaften seiner chemischen Verbindungen auch nicht im entferntesten etwas Ähnliches an die Seite- stellen kann. Die biologischen Verbindungen mußten wir nach den Aufgaben, die sie im Zellenleben darbieten, in drei Gruppen sondern. Die eine Gruppe von ihnen ist das Zellplasma. Es vermittelt die gröberen Vorgänge des Stoffwechsels, die Umwandlung der von außen bezogenen, chemischen Stoffe in biologische Verbindungen, welche dem Wachstum und den Arbeitsleistungen der Zelle dienen. Auch noch in anderer Beziehung unterhält es durch seine Reizbar- keit und verschiedenartigen Reaktionen denVerkehr mit der Außen- Zusammenfassung. 12 I weit. Wegen seiner erstgenannten Hauptaufgabe ist es als Er- nährungsplasma von NäGELI benannt worden. Eine zweite Gruppe der biologischen Verbindungen ist das Kern- idioplasma. Eingehüllt in ein besonderes, von einer Membran um- schlossenes Bläschen und in der Mitte des Ernährungsplasma ge- borgen, ist es den gröberen Vorgängen des Stoffwechsels und dem unmittelbaren Verkehr mit der Außenwelt entzogen. Wie die Chemiker in einem sehr zusammengesetzten organischen Molekül einen besonderen Kern unterscheiden, dem minder wichtige Atom- gruppen mehr locker angelagert und durch andere ersetzbar sind, so läßt sich auch die zweite Gruppe im wahren Sinne des Wortes als der Kern der biologischen Verbindungen bezeichnen, welcher das eigentliche Wesen der Artzelle ausmacht und bei allen Fragen der Vererbung die Hauptrolle spielt. Sie ist der Träger der Erb- einheiten, an welche die prospektiven Potenzen bei der Entwicklung der Artzelle geknüpft sind. Sie entspricht dem in Nägelxs Hypo- these auf gestellten Begriff des Idioplasma. Eine dritte Gruppe endlich besteht aus den Verbindungen, die durch das Zusammenwirken von Protoplasma und Kern oder durch die formative Tätigkeit der Zellen, wie es Max Schultze aus- gedrückt hat, für besondere Einzelaufgaben im Leben der Zelle gebildet werden, wie Chlorophyll, Pigment und Stärkekörner oder Sekret- und Dotterkörner, wie Zellmembranen und Grundsubstanzen, ferner wie Bindegewebs-, Muskel- und Nervenfibrillen. Schon der englische Histologe Beale hat in der ersten Epoche der Zellen- lehre den hier zutage tretenden Unterschied, der für die Wertung der die Gewebe aufbauenden Substanzen so wichtig ist, klar erkannt und ihn durch die Worte „forming matter und formed matter“ scharf gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt und die Grundlage für den Lebensprozeß bilden Zellplasma und Kernplasma oder Beales forming matter; alle anderen Substanzen entstehen erst im Lebens- prozeß der Zelle als ihre Bildungsprodukte, sind also formed matter. Viertes Kapitel. Die allgemeinen Prinzipien, nach denen aus den Artzellen die vielzelligen Organismen entstehen. Nachdem wir uns im dritten Kapitel mit dem Begriff der Art- zelle und ihrer Organisation von den verschiedensten Gesichts- punkten aus beschäftigt haben, lautet unsere nächste Aufgabe: nach welchen Prinzipien entwickeln sich aus den Artzellen die in ihnen schon der Anlage nach vorausbestimmten, komplizierter ge- bauten, vielzelligen Organismen? Wir betreten damit ein Gebiet, das in hohem Maße einer direkten naturwissenschaftlichen Unter- suchung zugänglich ist. Dank der Vervollkommnung der Mikroskope und der mikroskopischen Technik hat das Studium der Ontogenie der Pflanzen und der Tiere seit ioo Jahren uns über Dinge auf- geklärt, die früher den größten Naturforschern unübersteigbare Schwierigkeiten bereiteten. Ein imposantes Lehrgebäude von Kenntnissen ist entstanden, welche die Zukunft noch nach vielen Richtungen weiter vermehren und ausbauen wird. Indem wir nach dem Plan dieses Werkes von allen Detailfragen absehen, beschränken wir uns im vierten Kapitel auf die Besprechung von fünf all- gemeinen, wichtigen Entwicklungsprinzipien. Dieselben sind: i) das Prinzip der Zellenvermehrung und der durch Potenzierung bewirkten Mannigfaltigkeit, 2) das Prinzip der Arbeitsteilung und Differen- zierung, 3) das Prinzip der Integration, 4) das Prinzip der Korre- lation oder Koadaptation in der Entwicklung, 5) die Mittel und Wege, durch die eine gegenseitige Beeinflussung der Zellen und der durch sie gebildeten Teile im vielzelligen Organismus statt- finden kann. I. Das Prinzip der Zellenvermehrung und der durch Potenzierung bewirkten Mannigfaltigkeit. Das Vermögen der Zelle, sich auf dem Wege der Teilung ins Unbegrenzte zu vermehren, dient zwei verschiedenen Aufgaben. Einmal sichert es den Fortbestand des Organismenreichs, das in Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere. 123 der Aufeinanderfolge der Generationen aus Keimzellen, die von anderen Zellen abstammen (omnis cellula a cellula), immer wieder neu erzeugt wird. Zweitens aber bildet das Teilungsvermögen da- durch, daß die von einer gemeinsamen Artzelle entsprungenen Nach- kommen zu einem Verbände vereint bleiben und einen Entwick- lungsprozeß durchmachen, die Grundlage für die ungeheure Formen- mannigfaltigkeit der vielzelligen Pflanzen und Tiere. Die zu einem Verband vereinten Zellen wollen wir im folgenden, um einen kurzen Ausdruck der Verständigung zu haben, zuweilen auch mit dem von Weismann eingeführten Wort „somatische Zellen“ bezeichnen. In dem einen Fall beruht auf dem Teilungsver mögen die Er- haltung, im zweiten Fall die Ausgestaltung der Art zu einem höher differenzierten Organismus mit gesteigerter Leistungsfähigkeit. In der richtigen Beurteilung des Prinzips der Zellenbildung liegt zu- gleich der Schlüssel zur Entscheidung der alten und jetzt wieder neu aufgeworfenen Streitfrage, ob man die Ontogenese als einen präformistischen oder als einen epigenetischen Prozeß oder auch als keinen von beiden aufzufassen hat. Logische Erwägungen, unzählige Beobachtungen und beweis- kräftige Experimente drängen zum Schluß, daß jede Teilung ein er A rtzelle nur wieder Tochterzellen der gleichen Art liefern kann, mögen sie zum Zweck der Fort- pflanzu ng oder zum Aufbau eines vielzelligen Re- präsentanten der Art verwandt werden. Eine solche Tei lun g soll als eine erbgleiche bezeichnet werden; denn sie betrifft vor allen Dingen die Substanz, welche nach dem im dritten Kapitel gelieferten Beweis das Wesen der Art repräsen- tiert und als Erbmasse oder Idioplasma von einer zur anderen Generation überliefert wird. Im Hinblick auf die Meinungsverschiedenheiten, die über die erbgleiche Natur der Zellteilung zurzeit noch bestehen, scheint es mir notwendig, einige Beweise für sie zusammenzustellen. a) Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere. Daß Art nur wieder gleiche Art erzeugt, kann auf Grund un- zähliger Erfahrungen als ein unbestrittenes Gesetz der Biologie betrachtet werden. Eine heterogene Zeugung, an welche in früheren Zeiten zuweilen geglaubt wurde, hat sich in allen Fällen, die hier- für angeführt wurden, als ein Irrtum herausgestellt. So wurden 124 Viertes Kapitel. die beweglichen Schwärmsporen bei niederen Pflanzen, deren Ent- deckung den Botaniker Unger zu dem Ausspruch: „die Pflanze im Momente der Tierwerdung“ veranlaßte, bald als Fortpflanzungs- zellen erkannt, aus denen sich wieder die gleichen Pflanzen ent- wickelten. Nicht minder hat der Generationswechsel der Hydrö- medusen, der Trematoden und Cestoden, in dem zwei Lebensformen von durchaus verschiedenem Aussehen alternierend auseinander her- vorgehen und als Beispiele einer heterogenen Zeugung gedeutet werden konnten, seine befriedigende, allgemein anerkannte Er- klärung in der Weise gefunden, daß es sich auch hierbei nicht um zwei verschiedene Arten von Lebewesen, sondern nur um zwei ver- schiedene Formzustände ein und derselben Art, also um eine Meta- morphose aufeinander folgender Individuen ein und desselben Zeugungskreises handelt. Wir könnten somit das Thema, daß alle zur Erhaltung der Art bestimmten Zellen durch erbgleiche Teilung aus vorausgegangenen Mutterzellen entstanden sein müssen, schon verlassen, wenn nicht ein auch für die folgende Erörterung wich- tiges Verhältnis noch unsere besondere Beachtung verdiente. Das- selbe läßt sich in den Satz zusammenfassen: Zellen, die nach- gewiesen erm aßen durch er bgleiche Teilun g voneiner gemeinsamen Artzelle abstammen und daher durch den Besitz des vollen Idioplasma einander entsprechen, können in ihrer äußeren Form trotzdem ein sehr ver- schiedenes Aussehen darbieten. Dies gilt sowohl für viele Einzelligen als für die Fortpflanzungszellen bei Pflanzen und Tieren. Für die Einzelligen führe ich zur Erläuterung zwei Beispiele an, die Acinete Podophrya gemmipara und die Gregarinen. Die zur Klasse der Infusorien gehörige Podophrya sitzt im ausgebildeten Zustand mit einem langen Stiel an anderen Körpern fest und ist am entgegengesetzten Mundpol mit Saugröhren aus- gestattet. Sie pflanzt sich durch Bildung kleiner Knospen fort, die auf ihrer Oberfläche nach Art freischwimmender, hypotricher Infusorien (Fig. 13 Aa) bewimpert sind. Diese sind dem Mutter- organismus durchaus unähnlich, bewegen sich eine Zeitlang als Schwärmer im Wasser fort (Fig. 13 b), setzen sich später irgendwo fest und entwickeln nun einen Stiel, Tentakeln und Saugröhren, wodurch sie erst allmählich wieder die Form des Muttertieres ge- winnen. Die Gregarinen (Fig. 14) sind große, in zwei Stücke, Proto- merit und Deutomerit, gegliederte Zellen mit einer oberflächlichen Cuticula und einer Lage Muskelfibrillen unter ihr. Sie encystieren Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere. 25 sich nach vorausgegangener Konjugation und zerfallen dann unter Teilung des Kerns in zahlreiche, charakteristisch geformte Pseudo- navicellen (III A), die sich hierauf noch in die sichelförmigen Keime teilen (III B). Aus den sehr kleinen Keimzellen entwickeln sich all- mählich wieder die so ganz anders gestalteten Gregarinenzellen. Es lassen sich noch viele derartige Metamorphosen von ein- zelligen Organismen anführen, wobei die Arteigenschaften durch erbgleiche Teilung auf äußerlich sehr verschiedene Zellenformen Fig. 13- Af Fig. 13 A und B. A Poclophrya gem- mipara mit vielen. Knospen a Knospen, die sich ablösen und zum Schwärmer werden. N Kern, b Schwärmer von Podophrya g-emmipara. (Nach R. Hertwig, Zoologie.) Fig. 14. G-regarinenentwicklung-. I Clepsidrinablattarum in Konjugation, cfc Ekto- sark. en Endosark. cu Cuticula, pm Pro- tonjerit. dm Deutomerit. n Kern. II A— C Cysten in Umwandlung zu Pseudonavicellen. pn Pseudonavicellen. rk Restkörper. III A Eine Pseudonavicelle stärker vergrößert. B Dieselbe geteilt in die sichelförmigen Keime sk. (Nach R. Hertwig, Zoologie.) Fig. 14. I. H. einfach übertragen werden. Derartige Verhältnisse bei den Ein- zelligen sind ein schlagender Beweis, wie unrichtig es wäre, wenn wir aus dem Umstand, daß eine Zelle eine besondere Differenzierung erfahren und dadurch gewissermaßen ein neues Kleid erhalten hat, also aus dem verschiedenen Aussehen zweier Zellen die Folgerung ziehen wollten, daß dann notwendigerweise auch eine Veränderung der Arteigenschaften eingetreten sein müsse. Denn wenn diese überhaupt an eine Substanz gebunden sind, die als Erbmasse von dem Mutter- auf den Tochterorganismus übertragen wird, so müssen die infusorienartigen Schwärmer der Acineten und die sichelförmigen 2 6 Viertes Kapitel. Keime der Gregarinen sie besitzen, obwohl sie vom Mutterorganismus äußerlich nach Form und Größe eine Zeitlang total verschieden sind; sie wandeln sich ja wieder in eine Acinete oder Gregarine oder in die Form um, von der sie selbst als Keime abstammen. Ebenso wie in den zwei Beispielen aus dem Protistenreich, können bekanntlich auch bei Pflanzen und Tieren die Fortpflan- zungszellen einer Art, obwohl sie durch erbgleiche Teilung das gleiche Idioplasma besitzen, doch in ihrer äußeren Form die auf- fälligsten Unterschiede darbieten. Ich erinnere nur an die riesen- großen, kugeligen Eier der Tiere (Fig. i), verglichen mit den faden- förmigen, unendlich kleinen Spermien (Fig. 2) oder an die Eizellen der Phanerogamen verglichen mit den kleinen Pollenkörnern, die sich in eine dicke doppelte und mit Stacheln oder anderen Skulp- turen versehene Cellulosehaut ein gehüllt haben. Auch diese Erwägungen sprechen somit zugunsten der Theorie, deren Richtigkeit im dritten Kapitel zu beweisen versucht wurde, daß in den Artzellen idioplasmatische und nicht-idioplasmatische Sub- stanzen unterschieden werden müssen, und daß letztere ein sehr verschiedenartiges Aussehen auch den idioplastisch gleichen Zellen aufprägen können, wie den Gregarinen und ihren Pseudonavicellen oder wie den Eiern und den Samenfäden derselben Spezies. In- folgedessen kann es sich auch ereignen, daß nach ihrer Anlage gleiche Zellen sich zwar erbgleich teilen, aber trotzdem äußerlich ungleichwertige Tochterzellen liefern, wie die Knospen, die sich von der Acinete Podophrya abtrennen und zu Schwärmsporen werden. Ihre Ungleichheit beruht hier nur auf dem differentiellen Verhalten aller nicht-idioplasmatischen Substanzen. Eine besondere Besprechung und Erklärung verlangt noch b) Die Teilung der Artzelle, die zur Entstehung eines vielzelligen Repräsentanten der Art dient. Bei Prüfung aller Verhältnisse scheint es mir arch in diesem Fall nicht zweifelhaft zu sein, daß die Teilung der Zellen nur eine erbgleiche sein kann. Denn es handelt sich doch hierbei schließlich auch nur um einen Fortpflanzungsakt des elementaren Zellen- organismus, für den der oben angeführte Satz, daß Art nur wieder gleiche Art erzeugt, ebenfalls gelten muß. Andernfalls müßte seine Ungültigkeit erst noch bewiesen werdtn. Daß die Tochterzellen bei ihrer Verwendung zum Aufbau eines vielzelligen Organismus in verschiedene Gewebe differenziert wer- Die Teilung der Artzelle etc. 27 den, kann ebenfalls nicht als triftiger Gegenbeweis angesehen wer- den. Denn ihre Verschiedenheit beruht auf den nicht-idioplasma- tischen Substanzen, und von diesen haben wir ja eben gesehen, daß sie auch bei aufeinanderfolgenden Zellgenerationen im Lebens- zyklus der Einzelligen und ebenso bei männlichen und weiblichen Keimzellen trotz ihrer bereits nachgewiesenen idioplasmatischen Gleichheit sehr ungleich ausfallen können. So hängt auch der in- äquale Furchungsprozeß und die Sonderung der Zellen dotter- reicher Eier in kleine animale und große vegetative Zellen einzig und allein mit der ungleichen Verteilung der Dotterbestandteile im Protoplasma zusammen. Ebensowenig ist der Einwand stichhaltig, daß, weil mit Aus- nahme der Eier und Samenfäden alle anderen Zellen, wenigstens bei den höheren Organismen, nicht mehr zur Erhaltung der Art befähigt sind, sie nicht durch erbgleiche Teilung aus der Artzelle entstanden sein könnten. Denn es kann ja auch dies Unvermögen auf einer Hemmung beruhen; es kann. teils mit dem Fehlen von anderen notwendigen Entwicklungsbedingungen, teils mit den Folgen der Vereinigung der Zellen zu Teilen eines zusammen- gesetzten Organismus in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Mit Recht läßt sich hier darauf hinweisen, daß selbst die Samenfäden, obwohl sie eigens zur Erhaltung der Art bestimmt sind, doch vollkommen unfähig sind, sich zu teilen, und unfehlbar zugrunde gehen müssen, wenn sie nicht einen geeigneten Boden für ihre weitere Entwicklung im Protoplasma einer Eizelle der gleichen Art gefunden haben. Wie berechtigt derartige Erwägungen sind, geht aus unzähligen Beobachtungen der Naturerscheinungen und aus Experimenten hervor, die für die erbgleiche Teilung auch der somatischen Zell- generationen beweisend sind. Ich stelle nur die wichtigsten von ihnen kurz zusammen: Erstens ist bei sehr zahlreichen vielzelligen Pflanzen und Tieren die Erhaltung der Art keineswegs auf die in besonderen Geschlechts- organen eingebetteten Eier und Samenfäden beschränkt. Denn sehr weit verbreitet ist auch die Vermehrung auf vegetativem Wege. Bei hochgradiger Ausbildung derselben ist fast jeder kleinste Zellenkorrplex des Körpers imstande, das Ganze aus sich zu reproduzieren. Wird das Moospflänzchen Eunaria hygrometrica zu einem feinen Brei zerhackt, so läßt sich aus jedem kleinsten Fragment wieder ein ganzes Moospflänzchen züchten. Bei vielen Sträuchern und Bäumen können sich fast an allen Stellen von ober- 128 Viertes Kapitel. und unterirdischen Teilen, indem ihre vegetativen, kleinen Zellen zu wuchern beginnen, Knospen bilden, die in einen Sproß auswachsen. Vom Ganzen getrennt und in die Erde verpflanzt, wird der Sproß wieder zu einem Repräsentanten seiner Art, indem er auch Blüten und Früchte hervorbringt. Entsprechendes lehrt das Tierreich. Die Süßwasserhydra läßt sich ebenfalls in kleinere Stückchen zerschneiden, die, wenn ihre Substanzmasse nicht unter ein gewisses Minimum herabgegangen ist, sich wieder ein jedes zu einer ganzen Hydra mit allen ihren Eigenschaften umbilden. Bei Cölenteraten, manchen Würmern und Tunicaten ist die ungeschlechtliche Vermehrung auf vegetativem Wege fast eine ebenso große wie bei vielen Pflanzen, da fast an jeder Stelle des Körpers eine Knospe entstehen und zu einem neuen Individuum werden kann. Bei Bougainvillia ramosa z. B. (Fig. 37) entwickeln sich neue Individuen nicht nur als Seitenzweige des Hydroidenstöckchens, sondern auch aus Stolonen (hr), die wurzel- artig sich auf irgendeiner Unterlage ausbreiten und zur Befestigung des Stöckchens dienen. Auf Grund derartiger Beobachtungen zog schon der Begründer der Panspermie, Buffon, den wichtigen Schluß, in welchem man eine auf theoretischem Wege erfaßte Konzeption der Zellentheorie erblicken kann, daß eine Pflanze und ein Tier als eine Vereinigung zahlloser kleiner Individuen derselben Art aufgefaßt werden muß; und so läßt er die Ulme aus vielen Ulmen, die Hydra aus vielen Hydren zusammengesetzt sein (vgl. Kap. I, S. 9). Zweitens lehren die im ganzen Organismenreich weit verbrei- teten Vorgänge der Regeneration oder der Wiedererzeugung ver- loren gegangener Teile, daß in den somatischen Zellen außer den Eigenschaften, die bei der Gewebsbildung offenbar werden, auch noch viele andere latente Arteigenschaften schlummern, die unter günstigen Bedingungen gelegentlich wieder zur Entfaltung ge- bracht werden können. Ein abgeschnittener und ins Wasser ge- stellter Weidenzweig entwickelt wurzelbildende Zellen an seinem unteren Ende; und so wird hier von Zellen, die im Plane des ur- sprünglichen Ganzen eine sehr abweichende Funktion zu erfüllen hatten, eine ganz andere, den neuen Bedingungen entsprechende Aufgabe übernommen, ein Beweis, daß die Anlage dazu in ihnen gegeben war. Und so können sich umgekehrt auch Laubsprosse aus abgeschnittenen Wurzeln bilden und dann zu ihrer Zeit selbst männliche und weibliche Geschlechtsprodukte hervorbringen. In diesem Fall stammen also direkt aus Wurzelzellen nach einer großen. Die Teilung der Artzelle etc. 2 9 gar nicht zu berechnenden Anzahl von Teilungen Geschlechtszellen ab, die als solche wieder zur Reproduktion des Ganzen dienen. Das gleiche gilt auch für die Tiere. Viele Würmer, denen das ganze Kopfende durch einen Schnitt weggenommen worden ist, er- setzen es nach einiger Zeit von der Schnittfläche aus durch Bildung eines Höckers embryonaler Zellen. Hierbei werden komplizierte Gebilde, wie oberes Schlundganglion mit seinen Nerven, Sinnes- organe, wie z. B. Augen mit Retinazellen und Linse, Drüsen und Muskeln aus der indifferenten, vom Soma gelieferten Zellmasse in ähnlichen Zusammenhängen wieder differenziert, wie sie im verloren gegangenen Teil bestanden. In entsprechender Weise sehen wir selbst bei einzelnen Repräsentanten der Wirbeltiere, wie den ge- schwänzten Amphibien, daß das verlorene Schwanzende oder ganze Extremitäten mit ihren charakteristisch geformten Skeletteilen und Muskelgruppen vom Amputationsstumpf aus wieder ersetzt werden. Nach unserer Ansicht lassen sowohl die Erscheinungen der Zeugung als auch diejenigen der Regeneration bei Pflanzen und Tieren keine andere Deutung zu, als daß alle vom Ei abstammenden Zellen auf das Doppelte vermehrt und dann in qualitativ und quan- titativ gleichen Beträgen durch erbgleiche Teilung auf die Tochter- zellen übertragen werden. Einen dritten überraschenden Beweis für unsere Ansicht hat auch noch die experimentelle Untersuchung des Furchungsprozesses von geeigneten Objekten gebracht. Man kann nämlich auf dem Stadium der ersten, zweiten oder dritten Teilung die zwei, vier oder acht Embryonalzellen durch geeignete Eingriffe voneinander trennen und isoliert für sich weiter züchten. Auf diesem Wege wurde das wichtige Ergebnis ermittelt, daß die Teilstücke des ganzen Eies zu vollständig normalen Embryonen der betreffenden Tierart, nur von entsprechend geringerer Größe, werden. Aus einem einzigen Ei lassen sich daher anstatt eines Embryos deren zwei, vier oder acht gewinnen, je nach dem Furchungsstadium, auf dem der Ein- griff geschieht. Selbst der Stamm der Wirbeltiere hat uns für diese Tatsache experimentelles Beweismaterial geliefert. Sehr geeignet ist das Ei des Amphioxus, mit welchem der er- wähnte Versuch zuerst durch WlLSON ausgeführt wurde. Durch vorsichtiges Schütteln in einem mit Meerwasser gefüllten Reagenz- glas gelingt es leicht, die Embryonalzellen vollständig oder teilweise auf einem der ersten Furchungsstadien voneinander zu trennen. Die isolierten Stücke kann dann der Experimentator mit einer feinen Pipette auffangen und in einem Uhrschälchen für sich isoliert weiter O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 9 130 Viertes Kapitel. züchten, um festzustellen, was aus ihnen wird. Hierbei zeigt sich nun, daß jedes Teilstück, nachdem es Kugelform angenommen hat, sich genau so weiter entwickelt, wie sich das ganze Ei entwickelt haben würde. Mag es sich um eine isolierte Halbkugel der ersten Teilung oder um ein Viertel- oder ein Achtelstück des zweiten und dritten Furchungsstadiums handeln, in jedem Fall entwickelt sich aus ihnen eine normale Maulbeerkugel, dann eine Keimblase, später eine Gastrula etc., nur von entsprechend kleinerem, zwerghaftem Format. Zum Belege habe ich aus einer Arbeit von Wilson genaue Kopien von vier Becherlarven zusammengestellt. Schon an ihrer Größe sieht man es ihnen sofort an, ob sie von einem ganzen Ei Fig. 15 A) oder von einem halben Teilstück (Fig. 15 B) oder von Fig. r5- Fig. 16. Fig. 15 A— D. Normale Gastrula und Teilgastrulae von Amphioxus. (Nach Wil- son.) A aus dem ganzen Ei, B aus einer einzigen, künstlich isolierten Zejle des zwei- geteilten, C des viergeteilten, D des achtgeteilten Eies gezüchtete Gastrula. Fig. 16. Ein Ei von Triton cristatus, bei welchem auf dem Zweiteilungsstadium, die zwei Zellen durch Umschnürung mit einem Seidenfaden getrennt wurden und sich infolgedessen zu zwei selbständigen Embryonen entwickelten. Kurze Zeit vor dem Aus- schlüpfen der zwei aus einem Ei entstandenen Embryonen. (Nach Herlitzka.) g Gal- lerte, sf Seidenfaden. einem Viertelstück (Fig. 15 C) oder gar von einem Achtelstück (Fig. 15 D) abstammen. Unter günstigen Verhältnissen lassen sich die Zwerggastrulae von halber und von viertel Größe auch noch weiter zu kleinen Amphioxuslarven züchten, die Chorda, Nerven- rohr, Muskelsegmente, Darm etc. in normaler Weise, nur alles in entsprechend verkleinertem Maßstab besitzen. Selbst bei Amphibien ist es geglückt, aus einem Ei auf experi- mentellem Wege zwei Larven hervorzubringen. Allerdings muß hier zur Trennung der beiden ersten Teilhälften ein anderes Ver- fahren eingeschlagen werden; denn die „Schüttelmethode‘‘ führt hier nicht zum Ziel, teils weil der Dotter von einer dicken, nicht leicht zu zerreißenden Membran umschlossen wird, teils weil die durch die erste Teilung entstandenen Halbkugeln des hirsekor n großen Eies in weiter Ausdehnung zu fest aneinanderhaften. Hier hilft man sich in der Weise, daß man das noch mitten in seiner Teilung Die Teilung der Artzelle usw. 13 begriffene Ei mit einem feinen Kokonfaden (, sf ) entsprechend der Teilebene umschnürt und die Schlinge langsam zuzieht. Wenn auch nicht in allen, gelingt es doch in einigen Fällen, die beiden Teilhälften mit diesem Verfahren voneinander zu isolieren. Und siehe da: aus beiden Hälften eines Tritoneies, das für solche Ver- suche sich wegen seiner ovalen Form am meisten empfiehlt (Fig. 16), entwickeln sich kleine Molchlarven, die als Zeichen ihrer gemein- samen Abstammung aus einem Ei noch von einer gemeinsamen Dotterhaut und Gallerthülle (g) umgeben sind. Von einem nor- malen Tier unterscheiden sie sich ebenfalls wie die Amphioxus- zwerge nur durch ihre halbe Größe ; sie führen, wenn sie alt genug geworden sind, zuckende Bewegungen in ihren Hüllen aus. Vom a ? Fig. 17 A — D. Vier Doppelgastrulae von Amphioxus (A, B, C, D), entstanden durch Schütteln des Eies auf dem Stadium der Zweiteilung, 7 Stunden nach der Be- fruchtung. (Nach Wilson.) ux u 2 Nach verschiedenen Richtungen orientierter Urmund der zwei aus je einer Eihälfte entstandenen Gastrulae; u gemeinsamer Urmund zweier Gastrulae. normalen Tier nur durch ihre halbe Größe unterschieden, besitzen sie, wie dieses, alle Organe. Ein jedes von ihnen hat ein Gehirn und Rückenmark, zwei Augen, zwei Hörbläschen, zwei Riech- grübchen etc. Nicht immer gelingt die vollständige Trennung der beiden Teil- stücke eines Eies, weder beim Schütteln noch beim Durchschnüren. Im ersten Fall können sich die beiden Hälften in der erhalten geblie- benen Hülle nur etwas verschieben und ihre Stellung zueinander verändern, im zweiten Fall bleiben sie durch einen mehr oder minder dicken Stiel innerhalb des Schnürrings noch verbunden. Das Ergebnis gibt uns eine ebenso interessante wie wichtige Er- 9* 132 Viertes Kapitel. gänzung zu dem vorigen. Denn unter solchen Verhältnissen kommt es zur Entstehung von Doppelmißbildungen der verschie- densten Art. So zeigt uns Fig. 17 vier etwas verschiedenartige Beispiele von Doppel gastrulae von Amphioxus. Schon die Verän- derung in der Stellung der beiden ersten Teilhälften, die durch das Schütteln hervorgerufen wurde, hat genügt, jede zu getrennter Ent- wicklung zu veranlassen. Indem jetzt zwei Zellenhaufen, die nur eine Strecke weit verbunden sind, aus dem Furchungsprozeß her- vorgehen, entwickelt sich in jedem Haufen eine eigene Keimblasenhöhle; hierauf entsteht an jeder Hälfte der Zwillingskeimblase eine Einstülpung für sich. Und auch hier kann man durch Vergleich verschiedener Fälle sich weiter noch davon überzeugen, wie geringfügige und zufällige Abweichungen in der Stellung der beiden Zellen zueinander die spätere Form der Zwillinge sehr wesentlich verändern können. So ist in Fig. 17 A ein Urmund nach vorn, der andere nach hinten, in Fig. 17 B sind sie nach entgegengesetzten Seiten ge- richtet, in C und D sind sie in der gleichen Richtung orientiert, aber ver- schieden weit voneinander getrennt. Schon auf Grund dieser Befunde kann man Voraussagen, daß auch die weiter X lg. IO. -L.UIVC VLm X 1 11U11 0 taeniatus mit weitgehender Ver- entwickelten Doppellarven verschieden doppelung des Vorderendes (Dupli- ausfallen und daß Amphioxuszwillinge citas anterior). (Nach Spemann.) ’ ^ ° entstehen werden, deren. Kopfenden entweder in entgegengesetzter oder in gleicher Richtung orientiert sein werden und deren Bauch-, Seiten- oder Rückenflächen ver- schieden weit untereinander verwachsen sind. Ein Produkt unvollkommener Durchschnürung eines zwei- geteilten Tritoneies ist in Fig. 18 abgebildet, eine Mißbildung mit vollständig voneinander getrennten Köpfen und verdoppelten vor- deren Rumpfabschnitten, die nach hinten untereinander verwachsen sind und allmählich in einen gemeinsamen einfachen Rumpf und in ein einfaches Schwanzende übergehen. Die Duplicitas anterior, wie das abgebildete Monstrum in der Lehre der Mißbildungen (Teratologie) heißt, war schon so weit entwickelt, daß es aus den Die Teilung der Artzelle etc. 133 Eihüllen ausgeschlüpft war, im Zuchtglas hurtig herumzuschwamm und auch Nahrung aufnahm. Es wird hier gewiß von mancher Seite die Frage aufgeworfen werden, wie weit sich die Zerlegung des Eies in entwicklungsfähige Teilstücke wird ausführen lassen. Wie das Experiment gelehrt hat, ist die Grenze gewöhnlich bei Achtelstücken erreicht. Wenn eine isolierte Embryonalzelle des 16-teiligen Stadiums sich auch noch teilt und einen Zellenhaufen liefert, eventuell sogar zu einer Keim- blase wird, so kommt es doch nicht mehr zur Gastrulation, und das Bruchstück stirbt bald ab. Die Entwicklung zu einer normalen Zwerglarve setzt demnach immer ein gewisses Quantum entwick- lungsfähiger Substanz voraus. Die mitgeteilten Experimente reden gewiß eine sehr deutliche Sprache; sie gestatten uns, die für die tierische Formbildung sehr wichtige Schlußfolgerung zu ziehen: bei vielen, selbst höchstent- wickelten Tieren (Vertebraten) besitzen die ersten aus dem Ei durch Teilung entstandenen Zellen, wie sicher festgestellt ist, nicht nur die Fähigkeit, sich zu einem Teil des Embryos umzuwandeln, wie es bei dem normalen Verlauf der Entwicklung geschieht, sondern jede trägt gleichzeitig auch noch die Anlage zum Ganzen in sich. Die ersten Teilungen der Eizelle können daher nur erbgleiche sein. Was aus einer Embryonalzelle wird, ob sie sich nur zu einem Teil eines Embryos oder für sich allein zu einem ganzen Embryo oder zu einem Stück einer Mehrfachbildung entwickelt, hängt ledig- lich von gewissen äußeren Bedingungen ab, nämlich lediglich davon, ob sich eine Embryonalzelle unter dem Einfluß von anderen Em- bryonalzellen befindet, mit denen sie zu einem zusammengesetzten Ganzen vereint ist, oder ob sich die Embryonalzellen, vom Ganzen abgelöst, für sich allein entwickeln. Wenn man nach den vorausgeschickten Beweisen als ausge- macht ansieht, daß alle Zellen des Körpers durch erbgleiche Teilung aus dem befruchteten Ei entstehen und trotz später hervortretender, äußerlicher Unterschiede mit dem Idioplasma der Art ausgestattet sind, dann kann man die vielzelligen Pflanzen und Tiere auch als die potenzierten Artzellen bezeichnen. Damit führe ich in die ursächliche Erklärung des organischen Ent" Wicklungsprozesses neben dem Begriff der Anlage noch den Begriff der Potenzierung derselben ein. Auf diese Weise glaube ich dem so unbestimmten Ausdruck der biologischen Anlage eines pflanzlichen oder tierischen Entwick- lungsprozesses eine schärfere Fassung geben zu können. 134 Viertes Kapitel. Man hat jetzt zwei verschiedene Dinge im Begriff der Anlage auseinanderzuhalten : 1. eine für jede Art von Lebewesen spezifische Or- ganisation ihrer als Anlage dienenden Substanz, der Erbmasse oder des Idioplasma der Artzelle, 2. das Vermögen, der Anlage, sich durch erbgleiche Teilung in geometrischer Progression zu vermehren oder zu potenzieren. Fast von allen Forschern, die sich seither mit dem Problem der Erblichkeit beschäftigt haben, sind diese zwei Seiten im Be- griff der Anlage nicht scharf genug auseinandergehalten worden. Infolgedessen haben sie, in der Absicht, die Entwicklung ursäch- lich zu erklären, in die Organisation der Keimzelle viele Eigenschaften des ausgebildeten Organismus hin- eingetragen, welche auf das Konto der Potenzierung der Anlage zu setzen sind. Sie haben übersehen, daß die meisten Eigenschaften und Merkmale des fertigen Organismus, wie namentlich fast alle morphologischen, auf dem Zusammenwirken vieler Zellen beruhen. Wenn sie trotzdem dieselben in irgendeiner Form schon in die einzelne Zelle als Anlage hineinzulegen ver- suchen, so verfallen sie genau in denselben Fehler, welchen einst die Evolutionisten begangen haben, und kommen von der Vor- stellung nicht los, daß der Keim doch in irgendeiner ultramikrosko- pischen Form ein Miniaturbild des fertigen Geschöpfes ist. Demgegenüber glaube ich mit allem Nachdruck betonen zu müssen, daß durch die Potenzierung der Artzelle wirk-' lieh ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, für die vorher nicht mehr als nur die Möglichkeit ihrer Entstehung in der allgemeinen Eigenschaft jeder Zelle, sich durch Teilung unter geeigneten Bedingungen vermehren zu können, vorhanden gewesen ist. Denn wenn die Zellen, die durch Teilung aus dem befruchteten Ei hervorgehen, zusammen kein bloßes Aggregat sind, sondern, was sich eigentlich von selbst versteht, Wirkungen auf- einander ausüben und sich als Zellenstaat zu einem System ver- binden, so liegt in ihrer Potenzierung allein schon eine* Quelle stetig und gesetzmäßig wachsender Mannig- faltigkeit. Es handelt sich hier um das allgemeingültige Natur- gesetz, daß, wenn in ein geschlossenes System voneinander ab- hängiger Teile neue Glieder eingeführt werden, nicht nur das System als Ganzes, sondern auch in den Beziehungen aller seiner Teile verändert wird. Die Teilung der Artzelle usw. 135 Wenn ein neuer Planet in das System der Himmelskörper eintreten würde, so müßte sein Einfluß sich zunächst in Störungen der Bewegung der ihm benachbarten Körper bemerkbar machen. Diese würden dann wieder weitere Veränderungen in immer aus- gedehnteren Kreisen nach sich ziehen, bis wieder neu geordnete Systembedingungen sich eingestellt haben. Oder nehmen wir Beispiele aus der menschlichen Gesell- schaft. Je nachdem z. B. 2 oder 4 oder 8 Personen eine schwere Last gemeinsam fortzubewegen haben, so werden bei der Arbeit nicht nur die Kraftleistungen jeder einzelnen Person, sondern auch die Verwertungs weisen ihrer Kraft verschieden ausfallen. Wie ferner die Nationalökonomie lehrt, entstehen mit der Zahl der zu einem sozialen Verband verknüpften Menschen auch dementsprechend zweckmäßig veränderte Organisationen zur Befriedigung ihrer ge- samten Bedürfnisse. Der Verkehr, die Verwaltung, das Geldwesen nehmen in einer Stadt mit einigen zehntausend oder mit einigen Millionen Einwohnern andere und kompliziertere Formen als in einem Dorf an. Erst durch das Riesen Wachstum der Großstädte sind Untergrund- und Hochbahn möglich und notwendig geworden als die Formen, durch die dem gesteigerten Verkehr und dem Be- dürfnis nach geeigneter Befriedigung desselben mit den Hilfsmitteln der modernen Technik genügt werden konnte. . Mit einem Wort, durch die fortschreitende Potenzierung der Artzelle werden die Systembedingungen im Entwicklungsprozeß von Stufe zu Stufe verändert und komplizierter. Wenn in diesem Gesichtspunkt eine Wahrheit enthalten ist, der bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, so können wir sie auch, indem wir uns hierbei einer Ausdrucksweise der Physiker bedienen, in die Formel kleiden: die in der Entwicklung ein- ander folgenden Gestaltungsprozesse sind in vieler Hinsicht eine Funk tion der Zellen Vermehrung. Da nun Zellen Vermehrung eine Form des Wachstums ist, können wir sie auch, da sie gestaltend wirkt, als formatives Wachstum be- zeichnen. Durch das Beiwort „formativ“ unterscheiden wir es von anderen Arten des organischen Wachstums, die sonst noch Vor- kommen. Es gibt auch eine Art, die auf einer einfachen Massenzunahme einer Substanz beruht. In diesem Sinne spricht man von einem Wachstum eines Kristalls, der in einer ge- eigneten Mutterlauge allmählich durch Apposition um ein Viel- faches an Masse zunimmt. Ein entsprechendes, allerdings schon komplizierteres Wachstum durch Massenzunahme kommt auch in 36 Viertes Kapitel. der lebenden Zelle vor, ist aber hier in seinen Wirkungen mit dem, was durch das formative Wachstum erreicht wird, nicht im ent- ferntesten zu vergleichen. Die tierische Eizelle macht in verschiedenen Perioden ihrer Ausbildung beide Arten des Wachstums durch und ist dadurch, wie kaum ein anderes Beispiel geeignet, um den großen Unter- schied zwischen einem formativen und einem Massen- wachstum deutlich zu machen. Auch ist ein Vergleich zwischen den beiden Wachstumsperioden des Eies noch dadurch von ganz besonderem Interesse, daß er uns eine neue Bestätigung für die Richtigkeit der Kernidioplasmatheorie liefern wird. Einer embryonalen Zelle gleicht das Ei nur in seinen aller- jüngsten Entwicklungstadien, auf denen es als Urei (Ovogonie) be- zeichnet wird. Dann erfährt es während seiner Ausbildung im Ovarium bald mehr bald minder große Veränderungen, die man mit Recht als seine Vorentwicklung zusammengefaßt hat. In manchen Tierklassen, wie bei den Reptilien und Vögeln, zeichnet es sich jetzt durch ein so kolossales Wachstum aus, daß es alle übrigen Elementarteile weit hinter sich zurückläßt; schließlich gleicht es fast an Masse dem aus ihm entstehenden Geschöpf auf einem weit vorgerückten Embryonalstadium, auf dem schon alle Organe und Gewebe angelegt sind. Trotzdem bleibt das Eierstocksei in 'seiner Vorentwicklung eine einfache Zelle mit allen Eigenschaften einer solchen, und wenn es in dieser Weise auch weiterzu wachsen fort- fahren würde, bis es die Dimensionen des ihr entsprechenden, aus- gewachsenen Geschöpfes erreicht hätte, so würde es trotzdem dem Endziel, einen tierischen Körper zu bilden, auf diesem Wege auch nicht um eines Haares Breite näher gerückt sein. Es handelt sich eben in der Vorentwicklung nur um ein Wachstum von nicht- idioplasmatischen Stoffen, die für den eigentlich organisatorischen Prozeß, auf welchem die Entstehung von Pflanzen nnd Tieren aus den Artzellen beruht, von untergeordneter Bedeutung sind. Ganz anders gestaltet sich die Sachlage mit Beginn der Onto- genese. Zwar findet auch jetzt ein Wachstum, aber von ganz anderer Art statt. Denn es betrifft nur einen ganz bestimmten und vor Beginn der Entwicklung verschwindend kleinen Teil des Ei- inhaltes, nämlich nur die Kernsubstanz. Ihre massenhafte Vermehrung ist das am meisten hervorstechende Merkmal der ersten Embryonal- periode. Sie kann nur auf Kosten des Protoplasma und der in es eingebetteten Nährsubstanzen erfolgen. Bezieht doch das Ei nach seinem Austritt aus dem Ovarium und mit Beginn seiner Entwick- Die Teilung der Artzelle etc. 137 lung-, wie es besonders deutlich bei den Rieseneiern von Reptilien und Vögeln hervortritt, von außen nur Wärme, Sauerstoff und eventuell Wasser. Wahrscheinlich werden bei der Vermehrung der Kernsubstanzen, bei der es sich um einen sehr verwickelten, che- misch-biologischen Prozeß handelt, einfacher organisierte Eiweiß- verbindungen in höher organisierte und mannigfacher spezialisierte Nukleinverbindungen übergeführt. Nach unserer Kernidioplasma- theorie aber sind es die Erbeinheiten, die sich vervielfältigt haben, oder die biologischen Verbindungen, auf denen die Arteigenschaften des betreffenden Organismus beruhen. Zugleich werden sie durch den Prozeß der Karyokinese, durch das rhythmisch sich wieder- holende Wachstum der Chromosomen und durch ihre sich an- schließende Längsspaltung und Trennung auf einzelne Kernbläs- chen, deren Zahl in geometrischer Progression rasch zunimmt, über- all im Eiraum gesetzmäßig verteilt. Hier werden die Kerne, von einer Hülle von Protoplasma umgeben, zu besonderen Mittelpunkten des Stoff- und Kraftwechsels, so daß ihnen der Botaniker Sachs deswegen mit Recht den Namen der Energiden geben konnte. Und Hand in Hand hiermit vollziehen sich noch andere wichtige morphologische Veränderungen, welche die ersten Stadien des Ent- wicklungsprozesses ausmachen, die Zerlegung der Eimasse in Zellen, ihre Verteilung bei der Morula, Blastula und Gastrula, sowie ihre Anordnung zu besonderen Keimblättern. Daß alle diese Verände- rungen mit der Potenzierung des befruchteten Eikerns in ursäch- lichem Zusammenhang stehen, wird wohl kaum einem Zweifel be- gegnen, so daß die Bezeichnung eines derartigen Wachstums als eines formativen in jeder Beziehung gerechtfertigt und zutreffend ist. Wenn man bei einem Rückblick auf unsere letzten Erörterungen das einfache Massenwachstum des Eies während seiner Vorent- wicklung und das so ganz abweichende, jetzt näher charakterisierte, formative Wachstum miteinander vergleicht, so wird die führende Rolle, welche die Kernsubstanzen bei Ablauf der ersten fundamen- talen Entwicklungsprozesse spielen, wohl von niemand verkannt werden können. Ihre periodisch erfolgende Potenzierung, ihre gesetzmäßige Verteilung im Eiraum und alles, was hiermit in ur- sächlichem Zusammenhang steht, kann daher auch unter den Be- weisen zugunsten der im dritten Kapitel besprochenen Kernidio- plasmatheorie mitaufgeführt werden. Zum Schluß bleibt endlich noch die in der Einleitung zu diesem Abschnitt (S. 123) geäußerte Ansicht zu begründen, daß in der richtigen Beurteilung der Zellenbildung zugleich der Schlüssel zur 138 Viertes Kapitel. Lösung der alten Streitfrage liegt, ob die Ontogenese als ein prä- formierter oder als ein epigenetischer Prozeß oder auch als keins von beiden aufzufassen sei. Meine Antwort würde lauten: Ein Stück Präformation liegt in der Organisation der Artzelle, insofern sie aus einer höchst komplizierten Substanz besteht, welche für jede Organismenart eigentümlich ist. Da diese Substanz zu keiner Zeit im Leben der Art neu entsteht, sondern durch erb- gleiche Teilung von Generation zu Generation im wesentlichen un- verändert weitervererbt wird, so kann sie als präformierte Anlage des vielzelligen Repräsentanten der Art bezeichnet werden. Das ist keine Hypothese, das ist eine durch Erfahrung festgestellte Tatsache. Dagegen läßt sich der Begriff einer Präformation nicht auch auf den Prozeß ausdehnen, durch den sich die Artzelle in den viel*» zelligen Organismus umwandelt. Denn dieser Prozeß beruht auf einer gesetzmäßigen Vereinigung der sich durch Teilung ver- mehrenden Zellen; er ist also eine Potenzierung der Artzelle, ver- bunden mit ihren durch formatives Wachstum heryorgerufenen Begleiterscheinungen der ontogenetischen Metamorphosen. Hier wird wirklich etwas Neues geschaffen, was in der Artzelle als solcher noch nicht vorhanden ist, sondern nur durch ihre Eigen- schaft, durch Teilung Tochterzellen zu bilden und sie als Teile eines übergeordneten Ganzen zusammenzuhalten, ermöglicht wird. In dieser Beziehung beruht Entwicklung ohne Zweifel auf Epigenese. Denn von einer Präformation würde man nur sprechen können, wenn die 2, 4, 8 etc., die tausend und Millionen oder, allgemeiner aus- gedrückt, die Tochterzellen bis zur nten Generation in irgendeiner Form durch repräsentative, materielle Teilchen schon in der ersten Mutterzelle vertreten wären, wie in der Tat auch von Darwin und Weismann gelehrt worden ist. (Man vergleiche hierüber das spätere, über Darw ns Pangenesis und Weismanns Keimplasmahypothese handelnde Kapitel.) Daß eine derartige Ansicht sich, wie die alte Ein- schachtelungstheorie, von selbst widerlegt, wird später noch genauer begründet werden. Wie durch die biologische Theorie des Befruchtungsprozesses die unlösbaren Widersprüche, in die einst die Ovisten und die Animal- kulisten geraten waren (vgl. S. 6 — 8), ihre befriedigende Lösung ge- funden haben, so werden wir auch jetzt bei der Kennzeichnung des allgemeinen Charakters der Entwicklung der Organismen zu dem Ergebnis geführt, daß ein Stück Wahrheit sowohl in der Theorie der Epigenese wie der Präformation enthalten ist. Die Teilung der Artzelle etc. 139 Einerseits hat C. Fr. Wolff, wenn man von seinen verfehlten Vorstellungen vom rohen Zeugungsstoff, vom Organisch- werden des- selben, von Exkretion und Sekretion der sich entwickelnden Teile absieht, doch eine im ganzen richtige Definition vom allgemeinen Wesen der Ontogenie in den Worten gegeben: „Die verschiedenen Teile entstehen alle einer nach dem andern“, „ein jeder Teil ist also allemal erstlich ein Effekt eines andern vorhergehenden Teils und wird alsdann wiederum die Ursache anderer folgender Teile“. Auf der anderen Seite hatten die Evolutionisten recht, daß die so kompliziert gebauten Lebewesen nicht durch eine Art von Ur- zeugung aus einem rohen, ungeformten Bildungsstoff bei jedem ß Zeugungsakt immer wieder von neuem entstehen, daß daher der Keim, mag er nun Ei oder Samenfaden sein (Ovisten und Animal- kulisten), schon etwas Organisiertes und Vorgebildetes sein müsse. Nur die Art, wie sie sich die Präformation dachten, war eine ver- fehlte, wie es sich übrigens bei dem damaligen Zustand der ana- tomischen und physiologischen Kenntnisse kaum anders erwarten läßt. Unser Schlußurteil kann daher jetzt in die kurze Formel zu- sammengefaßt werden. Die Entwicklung der vielzelligen Organismen aus dem befruchteten Ei oder bei vegetativer Vermehrung aus einer Keimzelle ist ein epigenetischer Prozeß, der durch die präformierte Erbmasse (Idioplasma der Art- zelle), die ihm zur Grundlage dient, seinen artgemäßen Charakter erhält und insofern das Gesetz seiner art- gemäßen Entwicklung in sich trägt. (Vergleiche auch Seite 72.) 2. Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Daß in einer Lebensgemeinschaft, die sich durch Potenzierung der Artzelle entwickelt, allmählich größere Verschiedenheiten zwischen den ursprünglich gleichartigen Embryonalzellen entstehen, beruht in erster Linie auf dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Dasselbe ist für das Verständnis biologischer Entwicklungsprozesse jeder Art außerordentlich wichtig. Es wurde von Milne Edwards zuerst aufgestellt, von Bronn und Ernst Haeckel weiter durch- geführt, namentlich aber von Herbert Spencer in philosophisch - kritischer Weise am ausführlichsten bearbeitet1). 1) Milne Edwards, Legons sur la physiologie et l’anat. comp, etc., T. I, 1857. Introduction ä la zool. gener. — Bronn, Morphologische Studien über die Gestaltungs- gesetze der Naturkörper etc., 1858. — Haeckel, Ernst , Generelle Morphologie, Bd. II, 1866. — Spencer, Herbert, Die Prinzipien der Biologie, übersetzt von Vetter, Bd. II, 1877., 4o Viertes Kapitel. Wie schon von Milne Edwards hervorgehoben worden ist, bietet der im embryonalen Leben sich vollziehende Sonderungs- prozeß in Organe und Gewebe mannigfache Vergleichspunkte zu der Arbeitsteilung dar, die sich in jeder menschlichen Gesellschaft von höherer Kultur entwickelt. Es scheint daher empfehlenswert, letztere auch hier zum Ausgangspunkt unserer weiteren Betrach- tung zu wählen. Kulturgeschichte und Sozial Wissenschaft lehren, daß sich der Mensch zu höheren Stufen der Kultur erst allmählich und in dem Maße erhoben hat, als er ein Animal sociale, d. h. ein in Abhängig- keit versetztes Glied einer menschlichen Gemeinschaft wurde. Neue Fähigkeiten und Existenzmöglichkeiten sind ihm dadurch zuge- wachsen. Denn besser als es der einzelne Mensch vermag, kann eine soziale Gemeinschaft die Natur zu ihrem Vorteil ausnutzen und die im Menschen gelegenen Fähigkeiten zu ihrer Entfaltung bringen. Wird doch durch den Verband mit anderen der einzelne erst auf Grund der sich ausbildenden Gemeinschaft in die Lage versetzt, seine Arbeitskraft in einer Richtung, wie es zuvor nicht möglich war, zu konzentrieren und durch die häufigere Tätigkeit eine größere Fertigkeit in ihr zu erlangen. So kann er jetzt in einer Richtung mehr und vollkommenere Arbeit ohne größere Mühe leisten, er kann von dem daraus erwachsenden Überschuß leicht an andere abgeben und von ihnen dafür wieder Gegenwerte in einer von ihm selbst nicht verrichteten Arbeit entgegennehmen. Je mehr die Arbeitsteilung fortschreitet, und je mehr sich ein innigeres, auf sie basiertes Gegenseitigkeitsverhältnis der Menschen untereinander entwickelt, um so mehr wird die Lebenshaltung inner- halb der ganzen Gemeinschaft auf eine höhere Stufe gehoben; ein um so höherer Grad von Kultur wird erreicht. Arbeitsteilung aber bedingt auch Differenzierung in der menschlichen Gesellschaft. Individuen, von welchen die einen diese, die anderen jene Arbeit dauernd verrichten, werden in geringen Einzelheiten individuell verschieden voneinander. Jeder paßt sich der Art seiner Beschäftigung an. So entstehen in der menschlichen Gesellschaft die Stände und Berufe mit ihren beson- deren Fertigkeiten, mit ihren besonderen körperlichen und geistigen Eigenschaften, mit ihren Lebensgewohnheiten und ihrer Lebens- haltung. Arbeitsteilung hat also, wie man sich in der Biologie ausdrückt, eine Differenzierung der die ungleiche Arbeit verrich- tenden Individuen zur Folge. Dadurch erhält der soziale Organis- mus je nach dem in ihm durchgeführten Grad der Arbeitsteilung Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. I4I eine entsprechende soziale Struktur der ihn zusammensetzenden Teile. Der Prozeß, der in einer Vielheit gleichartiger Teile Differenzen schafft, scheint, wenn er einmal eingeleitet ist, unaufhaltsam fort- schreiten und zu immer neuen Komplikationen führen zu können. Wie jeder weiß, hat im Laufe der Kulturentwicklung die Arbeits- teilung und die mit ihr verbundene Differenzierung der mensch- lichen Gesellschaft in den Kulturstaaten eine ganz wunderbare Ausdehnung und Höhe, wenn auch noch lange nicht ihren Ab- schluß erreicht. Immer neue Schätze lernt der Mensch der Natur abgewinnen; jede derartige neue Beziehung, die zur Außenwelt geknüpft wird, ist ein neues Mittel zu neuer Arbeitsteilung und zu weiteren Kulturfortschritten. Wenn in einer Gegend ein ergiebiges Kohlenlager oder Eisenerze oder Gänge von edlen Metallen ent- deckt werden, so beginnen ausgedehnte Schichten der Bevölkerung sich dem Bergbau, der Eisengewinnung und Maschinenfabrikation zuzuwenden. Jährlich rufen neue Entdeckungen auf dem Felde der Naturwissenschaften bald diese, bald jene Industrie mit neuen be- sonderen Arbeitsweisen, chemische, elektrotechnische Fabriken etc. ins Leben. Genau derselbe Prozeß, wie er eben für die einem jeden bekannten menschlichen Verhältnisse in wenigen Sätzen erläutert worden ist, vollzieht sich, wenn aus der befruchteten Eizelle durch Teilung neue ihr gleiche Zellen entstehen und, wie man häufig sagt, zu einem Zellenstaat untereinander verbunden bleiben. So sind am Anfang der Entwicklung, wie im ersten Abschnitt des vierten Kapitels bewiesen wurde, alle Zellen eines jeden Tieres einander gleich. Embryonalzellen sind noch undifferenziert. Wie einem un- entwickelten Kinde stehen ihnen noch viele Wege zukünftiger, spezieller Gestaltung offen. Die Entwicklung eines höheren Tieres beruht nun darauf, daß sich allmählich eine Verteilung der sehr verschiedenen Ar- beitsleistungen, welche sein Körper schließlich im fertigen Zustand zu verrichten hat, zwischen den einzelnen Zellindividuen in dieser oder jener Weise nach bestimmten Regeln ausbildet, wie bei der historisch allmählich erfolgten Entstehung eines menschlichen Kulturstaates. Die Arbeitsweise einer Zelle nennen wir ihre Funktion. Unter äußeren Einflüssen, besonders aber unter den im Zellenstaat selbst gegebenen Bedingungen, die sich aus dem im vorausgegangenen Abschnitt erwähnten formativen Wachstum er- geben, bildet ein Teil der Zellen diese, ein anderer Teil jene Funk- 42 Viertes Kapitel. tion in besonderer Weise aus, oft bis zum Extrem, unter teilweiser Verkümmerung anderer zum Leben erforderlicher Funktionen, für deren Ausfall dann Ersatz durch andere Zellen geschaffen wird. Dabei werden allgemeinere Funktionen in speziellere immer weiter zerlegt. Es wird dadurch auch im Körper der höheren Tiere eine ganz erstaunliche Verschiedenartigkeit der Funktionen hervor gerufen, welche die in komplizierten Fabrikationszweigen der Industrie schon reich gegliederte Arbeitsteilung noch weit übertrifft. Wäh- rend Reizempfindlichkeit von Haus aus eine fundamentale Eigen- schaft der Zelle an sich ist, werden jetzt mit der fortschreitenden Entwicklung des Keims einzelne Zellen besonders empfindlich ent- weder gegen Licht, oder gegen Schall, oder gegen mechanische Berührung, oder gegen chemische Stoffe in gasförmigem oder in flüssigem Zustand. Sie werden also zu Seh-, Hör-, Tast-, Riech, oder Schmeckzellen unserer Sinnesorgane. Andere zeichnen sich durch das Vermögen aus, ihre Form durch Zusammenziehen zu verändern, sie werden Muskelzellen. Wieder andere treten in den Dienst der Ernährung des Gesamtorganismus; sie scheiden Ver- dauungssäfte dieser oder jener Art ab: Säfte zur Verdauung von Kohlehydraten, von Eiweißkörpern oder von Fett. Andere Zellen dienen zum Transport der Nahrungssäfte; wieder andere werden zum Schutz oder zur Stütze oder zur Fortpflanzung usw. verwandt. Da, wie wir oben gesehen haben, eine Begleiterscheinung der Arbeitsteilung die Differenzierung ist, so gewinnen während der Entwicklung aus dem Ei die ursprünglich gleichartigen, embryo- nalen Zellen auch ein verschiedenes Aussehen. Denn sie bilden mit der Übernahme besonderer Funktionen auch die denselben entsprechenden Strukturen aus, durch welche sie die einseitige Arbeit besser zu verrichten befähigt werden, und welche wir da- her als die ihnen eigentümlichen Arbeitsmittel bezeichnen können. Meist liegen gleich funktionierende und demgemäß auch umge- wandelte Zellen im Körper in Gruppen zusammen, wie Menschen gleicher Arbeitsrichtung zu Ständen und Berufsgenossenschaften verbunden sind. Solche Gruppen nennen wir dann in der mikrosko- pischen Anatomie mit einem schon alten Ausdruck ein Gewebe. Im menschlichen Körper mit seiner weit gediehenen Arbeits- teilung und histologischen Differenzierung ist die Anzahl der Gewebe eine sehr große. Wir unterscheiden ein Muskel- und ein Nerven- gewebe, ein Epithel- und Stütz gewebe, Blut und L)^mphe. Auch können wir bei den meisten dieser Gewebe infolge noch feiner durchgeführter Spezialisierung eine Einteilung in mehr oder minder Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. 143 zahlreiche Unterarten vornehmen. So läßt sich das Stützgewebe wieder, je nach den verschiedenen Aufgaben, denen es dient, in ein Gallert- und ein faseriges Bindegewebe, in ein Knorpel-, Knochen - und Zahngewebe zerlegen. Und auch von diesen zerfallen manche, z. B. Bindegewebe und Knorpel, je nach ihrer Verwen- dung noch weiter in besondere Modifikationen, wie in Unterhaut- binde- und Fettgewebe, in Sehnen, Aponeurosen, Fascien, Häute, Bänder, oder in hyalinen, elastischen und Faserknorpel. Noch mehr Unterarten zeigt das Drüsen gewebe. Je nach dem Sekret, welches abgesondert wird, lassen sich Speichel- und Schleimzellen, Leber-, Pankreas-, Talg-, Milch-, Schilddrüsen-, Nierenzellen usw. unter- scheiden. Wenn wir nach den Ursachen forschen, durch welche die ur- sprünglich gleichartigen embryonalen Elemente des sich entwickeln- den Zellenstaates zur Übernahme besonderer Funktionen und zur Ausbildung entsprechender Strukturen veranlaßt werden, so ist zu- nächst wieder an unsere frühere Erörterung (S. 134 — 139) zu erinnern, daß durch die Potenzierung der Artzelle allein schon eine fort- laufende Kette von neuen Systembedingungen geschaffen wird. Dementsprechend werden auch die Wirkungen, welche die embryo- nalen Zellen als zum System verbundene Glieder einer übergeord- neten Lebensgemeinschaft aufeinander ausüben, mit jeder Stufe des Entwicklungsprozesses vielseitiger werden müssen. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß es sich hierbei um ein Kräfte- spiel handelt, welches menschlicher Erkenntnis noch größere Schwie- rigkeiten darbietet, als der Lebensprozeß der Zelle selbst, trotzdem auch diese schon für sich als ein Mikrokosmus, als eine Welt im kleinen, bezeichnet werden kann. Dem Naturforscher muß solche Einsicht fast als etwas Selbstverständliches erscheinen. Denn wenn schon von allen Wirkungen, welche die Dinge der leblosen Natur aufeinander au^üben, sich gewiß noch sehr viele unserer Kenntnis entziehen, um wie viel mehr muß dies erst in der Organismen weit der Fall sein? Zu Gegenständen unserer Forschung werden ja nur solche Wir- kungen, welche in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung entweder direkt fallen oder durch experimentelle Hilfsmittel uns wahrnehmbar gemacht werden können. Nun sehen wir zwar im Ver- lauf des Entwicklungsprozesses in der immer deutlicher werdenden Formung des Embryo die sichtbaren Ergebnisse der Wirkungen von ungezählten Scharen tätiger Baumeister vor uns. Ihr Studium hat das Forschungsgebiet der Embryologen seit mehr als 100 Jahren 144 Viertes Kapitel. gebildet. Und wer wollte verkennen, mit welchem großen Erfolg hier die biologische Wissenschaft uns mit der werdenden Formbildung bei Pflanzen und Tieren auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung bekannt gemacht und schon ein stolzes Lehrgebäude errichtet hat, wie uns ein einfacher Vergleich mit der Wissenschaft des 17. Jahr- hunderts lehrt! Und doch können wir auch angesichts solcher Fortschritte uns nicht verhehlen, daß, was wir seither von den em- bryologischen Vorgängen erforscht haben, nur ein sehr unvoll- kommenes Stückwerk ist, da wir zwar viele Endergebnisse von den Wirkungen der Zellen kennen gelernt, aber trotzdem keinen Einblick in den Prozeß ihrer Arbeit, überhaupt in die feinere Ma- schinerie des ontogenetischen Geschehens gewonnen haben. Dem Embryologen mag es indessen hierbei zum Trost gereichen, daß bei den viel einfacheren Verhältnissen des chemischen Geschehens der physikalische Chemiker sich nach dem früher angeführten Ge- ständnis von Nernst den gleichen Schwierigkeiten gegenübersieht, wenn er nach dem Vorbild der klassischen Mechanik die chemischen Vorgänge und die Affinitäten der Atome in ihren Verbindungen etc. zu erklären versucht. Nachdem ich auf die Schwierigkeiten, welchen eine Erklärung der Entwicklung aus ihren Ursachen begegnet, hingewiesen habe, lasse ich zur Orientierung über unser Thema noch einige weitere Betrachtungen folgen. Da Ursachen, die auf die lebende Zelle von außen oder von anderen Zellen einwirken, in der Physiologie Reize heißen, so können solche, welche beim formativen Wachstum durch die wechselnden Systembedingungen entstehen, als die „forma- tiven“ Wachstumsreize bezeichnet werden. Dieselben lassen sich weiter nach den Wirkungen, durch die sie uns in der Ontogenese erkennbar werden, in zwei Gruppen einteilen, in organbildende und in strukturbildende Wachstumsreize. Für diese würde auch das Prädikat „differenzierende“ anwendbar sein, da sie bei der Arbeits- teilung die histologische Differenzierung hervorrufen. Je nachdem die einen oder die anderen Reize während der Ontogenese in den Vordergrund treten, kann man mit C. Ernst V. Baer zwei Perioden der Entwicklung unterscheiden, eine der morphologischen und eine der histologischen Sonderung. Die erste ist für die Anfangsstadien, die zweite für die späteren Stadien der Entwicklung charakteristisch. In der ersten Periode, die bei den Wirbeltieren besonders ausgeprägt ist, werden durch organbildende Wachstumsreize die artgleichen Embryonalzellen bei ihrer fortschrei- tenden Vermehrung in besondere Gruppen, in die einzelnen Keim- Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. 45 blätter und in die aus ihnen sich wieder sondernden Organanlagen geordnet. In der zweiten Periode, der histologischen Sonderung, erfahren dann die einzelnen Zellen selbst durch die differenzierenden Wachs- tumsreize sichtbar werdende Veränderungen in ihrer Organisation. Die chemischen Prozesse im Zellenleben treten jetzt, wenn wir von der Vorentwicklung des Eies im Ovarium an rechnen, in eine dritte, sich deutlich markierende Phase ein (vgl. S. 135). Während für die Periode der morphologischen Sonderung die kolossale Ver- mehrung der Kernsubstanzen und ihre erbgleiche Verteilung auf immer zahlreicher werdende Zentren des Stoff- und Kraftwechsels (Energiden) eigentümlich ist, werden in der Zeit der histologischen Sonderung viele nicht-idioplasmatische Substanzen chemisch gebildet. Es entstehen die sogenannten Protoplasmaprodukte, welche schon Beale als „formed matter“ zusammengefaßt hat, und auf deren Anwesenheit die spezifischen Leistungen der einzelnen Organe und Gewebe beruhen ; sie bieten im Pflanzen- und Tier- reich, aber auch zwischen den Vertretern der einzelnen Tierstämme sehr große Unterschiede voneinander dar. Ich erinnere an die zahl- reichen Stoffe, welche der Zelle zum Schutz und zur Stütze dienen, an die Zellulose mit ihren Derivaten, an das Chitin der Würmer und Arthropoden, an das Konchiolin der Mollusken und das Tunicin der Tunicaten, ferner an die sehr mannigfaltigen Bestandteile der Grundsubstanzgewebe bei den Wirbeltieren, an das Mucin, Chondrin, Glutin, Ossein, Elastin etc. Und alle diese Substanzen können noch weiter chemisch verändert und in ihrer Leistung gesteigert werden, wenn sie sich mit kohlensaurem oder phosphorsaurem Kalk oder Kieselsäure chemisch verbinden. Durch andere verwickelte und meist unbekannte chemische Prozesse werden im Protoplasma Keratin oder die verschiedenartigsten Drüsensekrete und Fermente oder Muskel- und Nervenfibrillen gebildet und mit einer ihnen eigentümlichen, bei den quergestreiften Muskelfasern sehr kompli- zierten Struktur versehen. Wie in der Periode der morphologischen Sonderung Proto- plasma- und Dotterbestandteile, die sich bei jeder Vorentwicklung des Eies so reichlich angesammelt hatten, gegenüber den sich ver- mehrenden Kernsubstanzen immer mehr an Masse zurücktreten, so gewinnen jetzt die Protoplasmaprodukte, je mehr die histologische Differenzierung bis zur Vollendung des fertigen Organismus geführt hat, die Oberhand über Protoplasma und Kernsubstanz und bilden weitaus die Hauptmasse des Körpers. Dann haben aber auch die O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. IO 146 Viertes Kapitel. Organismen, am Ende ihrer Entwicklung an gelangt, zugleich den höchsten Grad ihrer Leistungsfähigkeit erreicht. Denn für diese sind direkt die verschiedenen Arten der Protoplasmaprodukte und die aus ihnen zum Teil hergestellten histologischen Strukturen ent- scheidend. Da sie durch Arbeitsteilung und zur besseren Ver- richtung von Arbeit entstanden sind, können sie mit Recht auch als die Arbeitsmittel des Organismus bezeichnet werden. Hier bietet sich uns nun wieder Gelegenheit, den früher an- gestellten Vergleich zwischen der Arbeitsteilung im Zellenstaat und in der menschlichen Gesellschaft noch etwas weiter auszuführen. Auch der Mensch bildet sich gleich der Zelle bei dem Prozeß der Arbeitsteilung seine besonderen Arbeitsmittel und Werkzeuge, freilich zum Teil in einer prinzipiell anderen Weise. Während die Zelle in und aus ihrer eigenen Leibessubstanz sich für besondere Arbeitszwecke geeignete Strukturen schafft, Muskel- und Nerven- fibrillen, Bindegewebsfasern und die chemisch verschiedenen Arten der Stützsubstanzen etc., erwirbt sich der Mensch zwar auch besondere, für eine Arbeitsleistung erforderlichen Fertig- keiten; die eigentlichen Arbeitsmaschinen und Werkzeuge aber, die den Stützsubstanzen, den Muskel- und Nervenfibrillen ver- gleichbar sind, lernt er der äußeren Natur abgewinnen, indem er sie sich künstlich aus den verschiedenartigsten, ihr ent- nommenen Substanzen herstellt. So werden ihm Telegraphen- und Telephondrähte zu den Nerven des gesellschaftlichen Organismus, welche alle Teile desselben auf weiteste Entfernungen hin in un- mittelbaren und raschen Zusammenhang bringen. Den Saftbahnen der Pflanzen und den Blutgefäßen der Tiere lassen sich die du ch menschliche Tätigkeit hergestellten Transportwege für den Nahrungs- und Güteraustausch vergleichen, schiffbare Kanäle, Fahrwege, Dampf- und elektrische Bahnen. Hierzu gesellen sich zahllose M aschinen, Werkzeuge und Instrumente, welche als Arbeitsmittel zur Aus- führung besonderer Funktionen bei der arbeitsteiligen Gliederung der Gesellschaft zur Verwendung kommen. Wenn ich bisher mehr in allgemeinen Zügen eine Darstellung vom Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung im Zellenstaat gegeben habe, so wird es sich jetzt noch empfehlen, an einem ein- fachen und lehrreichen Beispiel, das ich dem Pflanzenreich entnehme, eine anschauliche Erörterung hinzuzufügen. Bei den vielzelligen Landpflanzen hat sich ein auffälliger Gegen- satz zwischen ober- und unterirdischen Teilen ausgebildet. Die ober- irdischen Zellen sind den Einwirkungen der Atmosphäre und des Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. H7 Sonnenlichtes ausgesetzt; die anderen dagegen sind in der Tiefe der Erde dem Einfluß des Lichtes entzogen und zu dem im Boden enthaltenen Wasser und seinen Salzen in Beziehung ge- bracht. Indem nun bei der Entwicklung des Pflanzenkeims seine Zellen teils eine oberirdische teils eine unterirdische Lage erhalten, ist in diesem Gegensatz der Grund für eine Arbeitsteilung und Differenzierung gegeben, welche sowohl für den Stoffwechsel, wie für diek ganze pflanzliche Formbildung von entscheidender Bedeu- tung ist. Denn unter allen Lebewesen besitzen allein die Pflanzen- zellen, wenn wir von einigen Gruppen von Schmarotzern absehen, kraft der ihnen eigentümlichen Organisation die Fähigkeit, aus Kohlensäure, Wasser und Salzen durch chemische Synthese or- ganische Substanzen, zuerst Kohlhydrate und Fette und aus diesen bei weiterer Umarbeitung Eiweißkörper und lebendes Protoplasma zu erzeugen. Die wichtigste Rolle bei diesen Umsetzungen spielt der den Pflanzen eigentümliche Chlorophyllapparat. Er ist für ihre Ernährung absolut notwendig und zwar muß er sich hierbei in einer Lage befinden, in der er vom Licht direkt getroffen werden kann. Denn nur im Licht kann er die Kohlensäure der Luft zer- setzen und zum Aufbau von Kohlehydraten verwenden. Daher kann eine einzellige chlorophyllhaltige Pflanze nur im Lichte leben, während bei Vielzelligen ein Teil der Zellen ohne Schaden das Chlorophyll verlieren kann, wenn nur ein anderer Teil es behalten hat und auch für die Ernährung der ersteren durch die von ihm gebildeten Kohle- hydrate sorgt. Unter solchen Umständen können Wurzelzellen zum Eindringen in den Erdboden gebildet werden und unter Verlust des Chlorophylls im Dunkeln existieren, weil sie mit den organischen Nahrungsstoffen, die sie selbst zu bilden außerstande sind, von den oberirdischen, grünen Zellen versorgt werden. Und umgekehrt sind diese wieder, um gut gedeihen zu können, wegen ihrer räumlichen Trennung vom Boden mit seinen Nährsalzen auf die Wurzelzellen angewiesen, von welchen sie Wasser und Salze zugeführt erhalten. So hat sich im pflanzlichen Zellenstaat nach dem Prinzip der Arbeits- teilung und Differenzierung ein doppelter Transport in entgegen- gesetzter Richtung, eine Art Güteraustausch durch Aus- und Ein- fuhr, ausgebildet: ein Saftstrom von den Wurzeln nach den Zweigen und Blättern, und wieder in entgegengesetzter Richtung ein Trans- port von Kohlenhydraten und anderen in den Blättern erzeugten organischen Stoffen nach den Wurzeln. Bei den niedersten Pflanzen von geringer Größe genügt für diesen Zweck der einfache Austausch von Zelle zu Zelle. Dagegen IO* 148 Viertes Kapitel. sind bei höheren Pflanzen mit bedeutenderem Umfang durch Ar- beitsteilung besondere Gewebe für den Transport entstanden. Sie lassen sich bei niederen und höheren Kryptogamen, sowie bei Phanerogamen auf verschiedenen Stufen ihrer Ausbildung beob- achten. Bei Moosen etc. haben sich die zur Saftleitung dienenden Zellen zu Strängen vereint, in der Richtung des Saftstroms in die Länge gestreckt und sind dadurch vom gewöhnlichen Parenchym unterscheidbar geworden. Aus ihnen haben sich dann bei den höheren Kryptogamen und Phanerogamen deutlicher abgegrenzte Bündel von außerordentlich langen Röhren oder Gefäßen dadurch entwickelt, daß die Querscheidewände zwischen den aneinander ge- reihten Zellen aufgelöst worden sind. Durch Ausbildung verschie- dener Skulpturen an ihren Zellulosewänden sondern sie sich häufig noch weiter in Tüpfel-, in Treppen- und Spiralgefäße, zu denen sich auchTracheiden und Siebröhren hinzugesellen können. So hat sich für Zwecke der Ernährung der vielzellige Pflanzenkörper durch Arbeits- teilung und Differenzierung in eine Summe verschiedener Gewebs- formen infolge differenzierender Wachstumsreize während seiner Entwicklung gesondert. 3. Das Prinzip der physiologischen Integration. Der Prozeß der Arbeitsteilung und Differenzierung, der in dem vorausgegangenen Abschnitt besprochen wurde, findet seine natur- gemäße und notwendige Ergänzung in dem ebenso wichtigen, von Herbert Spencer unterschiedenen Prozeß der physiologischen Integration. Wenn Zellen zu einer Gemeinschaft verbunden werden, wenn hierbei die einen auf die anderen Wirkungen ausüben, wenn sie infolgedessen in der früher beschriebenen Weise eine Arbeits- teilung vornehmen und sich differenzieren, so verlieren sie als Lebens- einheiten einen Teil ihrer Selbständigkeit. Sie werden abhängig voneinander. Sie bilden, wenn wir ihre vielfältigen Beziehungen zueinander in das Auge fassen, nur noch Teile einer übergeord- neten Lebensgemeinschaft, die man als Individuum höherer Ordnung bezeichnet. Oder wenn wir uns der Ausdrucksweise der Mechanik bedienen, so sind sie Glieder eines zusammengesetzten mechanischen Systems geworden. Als zugehörige Teile von einem höheren Ganzen werden dann die einzelnen Zellen, außer von ihren eigenen Gesetzen, auch noch von den Gesetzen der ihnen übergeordneten, durch ihre Gemeinschaft neugebildeten Lebenseinheit be- herrscht, oder in der mechanischen Ausdruck s weise, Das Prinzip der physiologischen Integration. 149 sie hängen ab von den neuen Systembedingungen , für die Reinke die Bezeichnung „Dominanten“ ein- geführt hat. Das sind in ihren wesentlichen Zügen die Vorgänge, die unter den Begriff der Integration fallen und für das Verständnis der Or- ganismenwelt ebenso wichtig sind, wie die Vorgänge der Arbeits- teilung und Differenzierung. Differenzierung und Integration sind zusammengehörige und einander ergänzende Begriffe, wie das Ganze und seine Teile, oder wie Grund und Folge. Sie sind überall anwendbar, wo lebende Teile zu einem zusammengesetzten System gesetzmäßig verbunden wTerden. Dieselben Verhältnisse, wie zwischen Zellen und Zellen- staat finden sich auch bei Tierstöcken, die hier und da aus der Verbindung einzelner Individuen entstehen, z. B. bei den Hydro- medusen und in besonders ausgeprägter Weise bei den Syphono- phoren: sie finden sich ebenso überall, wo Staaten gebilde durch Vergesellschaftung von Tieren (Ameisen, Termiten, Bienen, Men- schen) zustande gekommen sind. Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, bietet die mensch- liche Staatenbildung eine lehrreiche Parallele dar, bei deren Aus- führung ein jeder aus eigener Erfahrung den Zusammenhang zwi- schen physiologischer Arbeitsteilung, Differenzierung und Inte- gration, zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit in dem System einer übergeordneten Gemeinschaft sich zum Bewußtsein bringen kann. Während der Einzelne auf der einen Seite sein individuelles Leben nach den Gesetzen seines eigenen Körpers führt und sich als Persönlichkeit fühlt und handelt, ist er doch auf der anderen Seite in seiner Lebenshaltung von der Tätigkeit unzähliger Personen und von der gedeihlichen Entwicklung des ganzen Staatengebildes in hohem Maße abhängig, in seiner Ernährung, in seiner persön- lichen Sicherheit, in Unterricht und Erziehung, in der Wahl und Ausübung seines Berufe. Sofort werden ihm Störungen, die irgend- wo im sozialen Organismus eintreten, eine Handelskrise, eine Ar- beitseinstellung, eine größere Verkehrshemmung, soziale und poli- tische Streitfälle in vielen Beziehungen fühlbar. Daher ist bei ge- nauerer Prüfung der arbeitsteilige Bürger eines Kulturstaates trotz seiner scheinbaren individuellen Freiheit und eines eingebildeten Gefühls der Unabhängigkeit in Wirklichkeit zu einem sehr abhän- gigen Glied des übergeordneten sozialen Organismus geworden. Bei der Untersuchung der Beziehungen, in welchen das Ganze zu seinen Teilen steht, können sich zwei Betrachtungsweisen gel- Viertes Kapitel. 150 tend machen und auch in Gegensatz zueinander treten, je nachdem man den Teil für sich oder das Ganze für sich in den Vordergrund stellt und zum Maßstab der Beurteilung macht. So kann sich bei der Betrachtung des menschlichen Staates hier mehr ein indivi- dualistischer, dort mehr ein sozialistischer Standpunkt geltend machen. Ähnliches läßt sich in der Geschichte der Biologie auch in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Zelle und vielzelligem Organismus beobachten. Nach der Begründung der Zellentheorie hat eine Zeitlang eine Forschungsrichtung überwogen, durch welche die Zellen zum Mittelpunkt morphologischer und physiologischer Untersuchungen in etwas einseitiger Weise gemacht wurden. Den hierbei zutage tretenden Anschauungen hat Heidenhain in seinem Buch „Plasma und Zelle“ die tadelnde Bezeichnung „Bausteintheorie“ gegeben; findet man doch in der Literatur die Zellen nicht selten als Bausteine bezeichnet, aus denen der vielzellige Organismus gleichsam wie ein von Menschenhand aufgeführtes Gebäude zu- sammengesetzt sei. Mit Recht hat Heidenhain in seiner Be- zeichnung eine schwache Seite des Vergleichs hervorgehoben, da die Bausteine in einem Gebäude in einem mehr äußerlichen Zu- sammenhang zueinander gebracht sind, während doch die lebenden Zellen Wirkungen aufeinander ausüben und sich dadurch sowohl in morphologischer als noch viel mehr in physiologischer Beziehung in einem innerlichen Zusammenhang befinden. Gegen die Überschätzung des cellularen Prinzips, die zu einer „Bausteintheorie“ führen kann, haben schon zu verschiedenen Zeiten einzelne Forscher, wie Sachs, de Bary, Whitman, Räuber u. a. Einspruch erhoben1). Indem sie die Bedeutung der zusammen- gesetzten Lebenseinheit in den Vordergrund stellen, haben sie Be- merkungen getan, die leicht wieder zum entgegengesetzten Fehler, zur Unterschätzung der Zelle als Gegenstand der Forschung ver- leiten können. Der berühmte Pflanzenphysiologe Sachs bezeichnet es als eine gänzlich verfehlte Auffassungs weise, „daß die gesamte Ge- staltung und Volumzunahme einer Pflanze aus dem Leben ihrer einzelnen Zellen erklärt werden könne“. „Ebenso wie das Wachs- tum der ganzen Pflanze und eines ganzen Organs derselben, sei auch das ihrer einzelnen Zellen das Resultat allgemeiner Gestal- 1) Sachs, Vorlesungen Über Pflanzenphysiologie , 1882. — de Bary, Bota- nische Zeitung, 1879. — Whitman, The inadequacy of the cell theory of development. Woods Holl Biol. Lect., 1893. — Räuber, Neue Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle. Morph. Jahrb., Bd. VIII, 1883. Das Prinzip der physiologischen Integration. 51 tungsgesetze, welche die organische Materie ganz ebenso wie die unorganische beherrschen“. „Die Zellenbildung ist“ für Sachs „eine im organischen Leben zwar sehr allgemeine Erscheinung, aber doch nur von sekundärer Bedeutung, jedenfalls bloß eine der zahlreichen Äußerungen des Gestaltungstriebes, der aller Materie, im höchsten Grade aber der organischen Substanz innewohnt.“ Den gleichen Ideengang hat DE Bary in den kurzen, prägnanten Satz zusammen- gefaßt: „Die Pflanze bildet Zellen, nicht die Zelle bildet die Pflanze.“ In ähnlicher Weise hat sich in einer interessanten Rede bei Gelegenheit der Weltausstellung in Chicago der amerikanische Naturforscher Whitman über „die Unzulänglichkeit der Zellen- theorie für die Entwicklungstheorie“ ausgesprochen. An Beispielen sucht er darzutun, daß die Zeilenbildung keinen bestimmenden Einfluß (directive influence) auf die Gestaltungsprozesse ausübt. „Das Ge- heimnis der Organisation, des Wachstums, der Entwicklung beruhe nicht in der Zellbildung, sondern in noch elementareren Elementen der lebenden Substanz (Idiosomes). In ihnen habe jedes Wachstum (Assimilation, Reproduktion und Regeneration) seinen Sitz. Sie setzen jede lebende Substanz zusammen, seien die Träger der Erb- lichkeit und die wahren Bildner der Organismen. Ihre Aktion sei nicht durch Zellgrenzen beschränkt.“ Was diese Elemente sind und wie sie die Form der Organismen und ihre Differenzierung be- stimmen, nennt Whitman das Problem der Probleme, welches uns allein mehr Licht bringen kann. „Das Wesen der Organisation“, hier stellt sich Whitman ganz auf den Standpunkt von Sachs, „kann nicht mehr in der Zahl der Zellkerne und in der Zahl der Zellen liegen. Die Struktur, welche wir in dem Zellenmosaik er- blicken, ist etwas zur Organisation nach Hinzugefügtes, nicht selbst der Grund der Organisation. Vergleichende Entwicklungsgeschichte belehrt uns auf Schritt und Tritt, daß der Organismus die Zellen- bildung beherrscht, indem er für den gleichen Zweck eine, einige oder viele Zellen gebraucht, das Zellenmaterial zusammenhäuft und seine Bewegungen leitet und seine Organe formt, als ob die Zellen nicht existierten, oder als ob sie nur sozusagen in völliger Sub- ordination unter seinen Willen existierten.“ Ähnliche Anschauungen hat schon vor Whitman in etwas anderer Weise Räuber in seinen „neuen Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle“ entwickelt. Den Zelltheoretikern, welche bei ihren Untersuchungen die Zellen in den Vordergrund stellen und aus ihrer Vereinigung den zusammengesetzten Organismus er- Viertes Kapitel. *52 klären wollen, hält er die These entgegen: „Das Ganze bestimme die Teile, und nicht umgekehrt. Denn der fertige Organismus sei nichts anderes als das in gesetzmäßiger Weise gewachsene und zerlegte Ei. Die Bestimmung der Art des Wachstums sei im Ei enthalten, ebenso die Bestimmung seiner Zerlegung. Das Ei sei also das Ganze im jugendlichsten Zustand.“ Auch Räuber nennt, wie Sachs, „den werdenden Organismus einen nach bestimmten Richtungen im Wachstum sich ausdehnenden, nach verschiedenen Ausdehnungen des Raumes sich zerklüftenden, in gesetzmäßiger Weise chemisch und histologisch sich gliedernden Protoplasma- körper“. Einseitig erfaßt, ist weder der extrem cellulare Standpunkt, noch die in den Aussprüchen von Sachs, Whitman und Räuber vertretene Auffassung ganz zutreffend und das Verhältnis er- schöpfend. Meinen vermittelnden Standpunkt habe ich schon in meiner allgemeinen Biologie in den Sätzen gekennzeichnet: „So verkehrt es ist, wenn man über der Beschäftigung mit den Zellen die Bedeutung des Ganzen, von welchem doch der Bestand und die Wirkungsweise der einzelnen Zellen . nach den Gesetzen der Arbeitsteilung und der physiologischen Integration abhängig ist, übersehen wollte, so wäre es nicht minder verfehlt, wenn man die Wirkungsweise des Ganzen erklären wollte, ohne dabei auf die Zusammensetzung aus Teilen in gebührender Weise Rücksicht zu nehmen. Das Ganze und die Teile gehören eben zusammen, „sie sind“, wie Kuno Fischer von allgemein philosophischem Stand- punkt bemerkt, „ebenso wesentlich unterschieden als aufeinander bezogen. Keiner der beiden Begriffe kann ohne den anderen ge- dacht werden. Das Ganze ist nur Ganzes in Rücksicht auf die Teile, in deren Verbindung es besteht. Die Teile sind nur Teile in Rücksicht auf ein Ganzes, zu dem sie sich als Teile verhalten. So fordert jeder der beiden Begriffe den anderen als notwendige Bedingung.“ Nach meiner Meinung sind daher die Schlagworte: „die Pflanze bildet die Zelle“ oder „die Zelle bildet die Pflanze“ keine sich ausschließenden Antithesen. Man kann beide Rede- wendungen gebrauchen, wenn man nur das komplizierte Verhältnis, in welchem die Zelle als der Teil und die Pflanze als das Ganze zueinander stehen, in der richtigen Weise erfaßt. Denn hierauf kommt es für das Verständnis der pflanzlichen und der tierischen Organisation an. Durch die richtige Verwertung der sich ergänzenden Begriffe der Differenzierung und Integration der Zelle lösen sich von selbst Das Prinzip der physiologischen Integration. 153 die Widersprüche zwischen den beiden einander entgegengesetzten Standpunkten, von denen der eine die Zelle, der andere den fer- tigen Organismus zum Ausgangspunkt für die Beurteilung der Lebensprobleme nimmt. Zu einer Unterschätzung des Zellenbegriffs für die uns be- schäftigenden Fragen der Entstehung der Organismen und des im XIII. Kapitel zu erörternden Vererbungsproblems kann leicht auch eine Bemerkung von Nägeli führen, welche ihm bei der Begründung seiner Idioplatmatheorie zur Rechtfertigung seines spekulativen Verfahrens dienen sollte. „Die Zelle“, bemerkt Nägeli, „ist für den morphologischen Aufbau eine sehr wichtige Einheit, aber nicht etwa allgemein die Einheit schlechthin. Unter Einheit müssen wir, physikalisch aufgefaßt, ein System von materiellen Teilen verstehen. Es gibt demnach in der organischen Welt eine große Zahl von über- und untergeordneten Einheiten: die Pflanzen- und Tierindividuen, — die Organe, — Gewebsteile, — Zellgruppen, — die Zellen, — Teile von Zellen, — die Micelle, — die Moleküle, — die Atome. Bald tritt die eine, bald die andere Einheit in morphologischer und physiologischer Beziehung charakte- ristischer und ausgeprägter hervor. Somit ist kein Grund, warum bei einer allgemeinen Theorie eine besondere Stufe der Gestaltung begünstigt sein sollte.“ Wenn in dieser Bemerkung von NÄGELI der auch von mir ver- tretene und begründete Gesichtspunkt zu Recht besteht, daß in der organischen Welt eine Stufenfolge übereinander geordneter Ein- heiten zu unterscheiden ist, so kann doch nicht allen derselbe Wert bei dem gegenwärtigen Stand unserer Forschung und für ihre weitere Förderung zuerkannt werden. Um einen entsprechenden Fall aus den anorganischen Wissenschaften heranzuziehen, so wird wohl niemand bestreiten wollen, daß die als Atom begriffene Ein- heit die Grundlage für die Entwicklung der modernen Chemie ge- worden ist und noch für längere Zeit bleiben wird, trotzdem sie sich nach den neuesten Entdeckungen noch weiter in radioaktive Korpuskeln zerlegen läßt, die vielleicht einmal zu einer neuen Grundlage für zukünftige chemische Forschungen gemacht werden können. Wie das Atom für chemische Körper, so tritt bei der Organisation der lebenden Substanz die Zelle in der Stufenfolge der übereinander geordneten Einheiten in morphologischer und physiologischer Hinsicht doch ungleich viel mehr als Einheit in den Vordergrund als die hypothetische Micelle oder als einzelne Zellbestandteile, wie Chondriosomen und Chromosomen, oder als 54 Viertes Kapitel. Gewebsteile und Organe. Denn erstens gibt es wirklich unzählige Arten einzeln lebender Zellen, während Micellen, Zellbestandteile, Gewebsteile und Organe als selbständige Lebenseinheiten nicht be- obachtet worden sind. Und zweitens haben die biologischen Ein- heiten, vermittels deren sich die vielzelligen Pflanzen und Tiere durch Fortpflanzung erhalten, Sporen, Eier und Samenfäden, nach- gewiesenermaßen ebenfalls den Formenwert von Zellen. Daher gewinnen diese auch eine ganz besondere Bedeutung für die Ver- erbungstheorie (vgl. S. 55 — 121). Wer sich nicht auf das Gebiet der reinen Spekulation begeben will, wie es Nägeli in mancher Hinsicht zum Nachteil seiner Theorie getan hat, sondern mit der auf Beobachtungstatsachen aufgebauten Wissenschaft in Fühlung bleiben will, der wird den Zellenbegriff bei theoretischen Erörterungen, wie den vorliegenden , nicht vernach- lässigen dürfen. Unter voller Anerkennung des Gesetzes der Integration und ohne Widerspruch zu ihm halte ich daher an dem im IIL Kapitel entwickelten Standpunkt fest und fasse ihn jetzt wegen seiner Wichtigkeit noch einmal in die These zusammen: Die Artzellen haben für den Biologen dieselbe Bedeutung, wie für den Chemiker die Atome der chemischen Elemente. Sie sind zurzeit die ein- fachsten, einander vergleichbaren, lebenden Stoffeinheiten, die jedem Lebewesen zugrunde liegen. In ihnen ist die Eigenart eines jeden Organismus gleichsam in der einfachsten Formel ausgedrückt in der Weise, daß man sagen kann, es existieren so viele verschiedene Artzellen, als das Organismenreich aus verschiedenartigen Lebe- wesen besteht. Nach Besprechung des allgemeinen Begriffes der Integration wollen wir jetzt noch einen Überblick über die wichtigsten Er- scheinungen, die unter ihn fallen, zu gewinnen und einige Regeln aus ihnen abzuleiten versuchen. 1. Regel. Bei Pflanzen und Tieren läßt sich eine lange Stufenfolge der allerverschiedensten Grade in der Differenzierung und Integration ihrer Zellen beobachten. Am Anfang der Reihe stehen die niederen Algen, Pilze und andere Kryptogamen; von ihnen führen Übergänge zu den Gefäßkryptogamen und von diesen zu den niederen und höheren Formen der Phanerogamen. Im Tierreich sind die niederen Cölenteraten (Hydroidpolypen) und Würmer wenig differenziert uud integriert. Den Gegensatz zu ihnen bilden die höchstentwickelten Vertreter der Arthropoden und Wirbel- tiere mit ihrer ungemein reichen Sonderung in sehr viele Organe Das Prinzip der physiologischen Integration. 155 und Gewebe und mit ihrer auf das schärfste durchgeführten Inte- gration. 2. Regel. Je nach dem Grad der zunehmenden Differenzierung und Integration verlieren viele Zellen als Teile eines übergeordneten Ganzen ihre Selbständigkeit als autonome Lebenseinheiten; obgleich durch erbgleiche Teilung aus einer Artzelle entstanden, können sie schließlich selbst nicht mehr zur Erhaltung der Art dienen. Während bei niederen Kryptogamen und Phanerogamen fast an jeder Stelle des Körpers durch Teilung embryonaler Zellen sich Knospen für vegetative Vermehrung der betreffenden Art bilden können, ist bei den Vertebraten die Fortpflanzung nur auf die kleine Anzahl von Keimzellen beschränkt, die als Eier oder Samenfäden in den Geschlechtsorganen abgesondert werden. 3. Regel. Mit zunehmender Integration wird ebenso wie die Reproduktionskraft auch die Fähigkeit der Organismen, verloren gegangene Teile wiederzuersetzen, abgeschwächt. Bei niederen Organismen ist das Regenerationsvermögen in wunderbarer Weise fast unbegrenzt. Wenn Moose (Funaria), manche Arten von Polypen und Würmern (Hydra, Planaria, Nais etc.) in kleine Stückchen zerschnitten werden, so ergänzt jedes Stück nach kurzer Zeit den Teil, der zur Wiederherstellung des Ganzen fehlt, in ähnlicher Weise wie ein Kristall ein ausgebrochenes Stück durch Anlagerung neuer Salzteilchen aus der Mutterlauge ersetzt. Eine Planarie regeneriert an der Wundfläche wieder das abgeschnittene Kopfende mit Hirnganglion und Ocellen oder, wenn sie in der Medianebene halbiert worden ist, eine ganze fehlende Körperhälfte. Dagegen kann bei den Wirbeltieren, deren Integration den höchsten Grad erreicht hat, ein Regenerationsvermögen nur noch in Spuren bei der Ergänzung von Wunddefekten beobachtet werden. Eine auffällige Ausnahme unter ihnen bilden die geschwänzten Amphi- bien, bei denen eine abgetrennte Extremität, das Schwanzende, ja selbst Teile des Auges wieder neu erzeugt werden können. Em- bryonen und Larven regenerieren leichter als alte Tiere, was ja auch nach der zweiten Regel verständlich ist, da ihre Differen- zierung erst noch im Werden begriffen ist. 4. Regel. In demselben Maße wie eine Zelle dem Ganzen eingeordnet und zur Ausbildung einer besonderen Funktion durch die Systembedingungen, unter denen sie sich befunden hat und noch befindet, gezwungen worden ist, wird sie gewöhnlich unfähig zur Entwicklung anderer Anlagen, die sie als Erbteil der ursprüng- lichen Artzelle empfangen hat. Viertes Kapitel. 156 Daher können Gewebszellen, wenn sie sich durch Teilung ver- mehren, meist nur wieder ihresgleichen heryorbringen, wie Epithel- oder Drüsen- oder Muskel- oder Nervenzellen. Bei voll ausdif- ferenzierten Zellen wird ein Funktionswechsel nur in selteneren Fällen beobachtet; doch können die einzelnen Modifikationen der Bindegewebsgruppe in einander übergehen, aus Gallertgewebe Knorpel- und kollagenes Bindegewebe durch die Zwischenstufen des Vorknorpels und fötalen Bindegewebes entstehen; und diese können wieder in Knochensubstanz umgewandelt werden. Aus Bindege webskörperchen können Fettzellen werden. Beim Funktions- wechsel der Zellen und Gewebe werden gewöhnlich die zuerst ge- bildeten Protoplasmaprodukte, ehe sie durch andere ersetzt werden, vorher zerstört. Es tritt eine Entdifferenzierung ein, wie es in der pathologischen Anatomie heißt. So wird Knorpelgrundsubstanz ein geschmolzen , ehe Ossein an seine Stelle tritt; Bindegewebs- fasern werden sklerosiert. An der Grenze des Perichondrium und des Periosts schwinden allmählich die kollagenen Bindegewebsfasern und werden beim appositionellen Wachstum der Knorpel und der Knochen durch Chondrin und Ossein ersetzt. Zurzeit ist allerdings der Funktionswechsel mit seiner Metamorphose der Zellen und Gewebe noch immer ein wenig durchgearbeitetes Kapitel der Histo- logie; doch beweist es immerhin, daß auch bei ausdifferenzierten Zellen neben den zur Ausbildung gelangten Anlagen noch andere latent fortbestehen und unter geeigneten Bedingungen aktiv werden können. Wir werden auf diese Frage noch an anderen Stellen zurückkommen. 5. Regel. In den höchsten Graden von Differenzierung und Integration sind die Zellen fast ganz in die verschiedenartigsten Protoplasmaprodukte umgewandelt, in Stützsubstanzen, Muskel-, Nervenfibrillen etc., denen gegenüber die Protoplasmareste mit den in ihnen eingebetteten Kernen (die Bindesubstanz- und Muskel- körperchen der alten Autoren) yon geringerer Bedeutung sind. Die Plasmaprodukte sind gleichsam die von den Zellen erzeugten Werkzeuge des übergeordneten Organismus, auf deren Zusammen- wirken seine Leistungsfähigkeit jetzt vorzugsweise beruht. Nur die Knorpel- und Knochengrundsubstanzen dienen zur Stütze, nur die von den Muskelzellen erzeugten kontraktilen Fibrillen bewegen durch ihre Verkürzung die einzelnen Skeletteile, und ebenso leiten die als Protoplasmaprodukte gebildeten Nervenfibrillen die Erregung von einer Stelle des Körpers zur anderen fort. Infolgedessen sind, wie Sachs und de Bary ganz richtig betont haben, die Leistungen Das Prinzip der physiologischen Integration. 157 des Organismus durch Gesetze, die in seiner ganzen Einrichtung liegen, ein für allemal bestimmt. Denn was geht im Organismus vor, wenn z. B. ein Reiz die Netzhaut trifft und momentan eine energische Bewegung veranlaßt? Es wird der Reiz nach Regeln, die von vornherein feststehen, in unzähligen Nervenfibrillen zum Zentralorgan und von diesem weiter zu Tausenden von Muskel- fasern fortgepflanzt, die sich sofort auf den Reiz verkürzen und ihrerseits wieder ein Bündel von Sehnenfasern in Spannung ver- setzen, durch welche dann der Zug wieder auf die Knochensubstanz übertragen wird. Also spielt sich der durch den Reiz der Retina veranlaßte Prozeß vorwiegend nur an den vom Protoplasma zu besonderen Arbeitsleistungen gebildeten Strukturteilen ab. Da- gegen sind, wenn wir von den Ganglienzellengruppen absehen, die Hunderttausende von Zellen, die als Kerne der SCHWANNschen Scheide den Nervenfibrillen anliegen, oder als Muskelkörperchen in die Primitivbündel, oder als Sehnenkörperchen zwischen die Binde- gewebsfasern, oder als Knochenkörperchen in die Knochensubstanz eingelagert sind, nicht unmittelbar in irgendeiner Weise dabei be- teiligt. Offenbar hat hier die einzelne Zelle auf den durch den Reiz hervorgerufenen Enderfolg gar keinen Einfluß; denn dieser hängt lediglich ab von der bereits vorhandenen und zur Aktion bereiten, gesetzmäßigen Anordnungsweise von Strukturteilen, welche in der Entwicklung des ganzen Organismus begründet ist, und welche auch in ihrem leistungsfähigen Zustand vom Ganzen aus erhalten wird. Natürlich ist hiermit nicht gesagt, daß die Kerne der Schwann- schen Scheide, die Muskel-, Sehnen- und Knochenkörperchen für die zu ihnen gehörigen Protoplasmaprodukte etwas Überflüssiges sind. Vielmehr erhalten sie durch die nutritiven Prozesse, die sich in ihnen abspielen, die einzelnen Stücke des komplizierten Apparates in leistungsfähigem Zustand, indem sie durch das zu ihnen gehörige Protoplasma die Nerven-, die Muskel-, die Sehnenfibrillen und Knochensubstanz ernähren und, wo es erforderlich ist, auch bei veränderten Verhältnissen in entsprechender Weise gewissermaßen umbauen. Der vorstehende Gedanken gang läßt sich in anderer Weise auch so ausdrücken: Der durch den Reiz der Retina hevorgerufene Enderfolg ist nicht durch einen Kompromiß der unzähligen dabei beteiligten Zellindividuen zustande gekommen, sondern erklärt sich aus allgemeinen Gesetzen, die auf der ganzen Entwicklung und Einrichtung des Organismus beruhen, dessen integrierte Teile die 5» Viertes Kapitel. aufbauenden Zellen geworden sind. Somit treten in dem höchst- differenzierten Organismus bei physiologischen Untersuchungen die Zellen den Eigenschaften des Ganzen gegenüber mehr in den Hintergrund, während man bei morphologischen Untersuchungen mehr geneigt ist, sie als Elementarorganismen, durch deren Zu- sammenordnung der zusammengesetztere Organismus erst zustande gekommen ist, in den Mittelpunkt jeder Betrachtung zu stellen. Wie ich es schon früher bei der Arbeitsteilung getan habe, beschließe ich auch den Abschnitt über Integration durch Vor- führung von drei Beispielen, die uns ein anschauliches Bild von der Art und Weise geben sollen, in der bei den hochorganisierten Tieren die Zellen durch die Vergesellschaftung mit anderen ihres- gleichen von den Bedingungen und Gesetzen abhängig werden, die sich im Zellenstaat allmählich ausgebildet haben. Ich wähle dieselben aus meiner allgemeinen Biologie, da ich sie durch bessere nicht würde ersetzen können. Im tierischen Körper beziehen Milliarden von Zellen die zur Erhaltung des Lebens erforderlichen Nahrungsstoffe nicht mehr direkt von der Außenwelt, sondern durch Vermittlung einer zen- tralen Ernährungsanstalt, die allmählich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung im Zellenstaat entstanden ist. Im Magen und Darmkanal werden die von außen bezogenen, im Mund zerkleinerten Nährmaterialien chemisch verarbeitet. Durch die Sekrete verschiedener Drüsen werden Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper in geeignete Lösungen übergeführt und für die Darm- wandungen aufsaugbar gemacht. Eine konzentrierte Nährflüssig- keit, zusammengesetzt aus allen zur Erhaltung der Zellen erforder- lichen Materialien, wird so von einer Zentralstelle aus geschaffen. Hierdurch wird auch den abseits von ihr gelegenen, mit anderen Funktionen betrauten Zellen die Befriedigung ihres Nahrungsbe- dürfnisses so sehr erleichtert und vereinfacht, daß sie nur noch den zum unmittelbaren Gebrauch fertiggestellten Nahrungssaft von der Zentralstelle aus zu beziehen brauchen. Auch hierfür sind im Zellenstaat nach dem Gesetz der Arbeitsteilung besondere Vor- kehrungen entwickelt worden. Um vom Darmkanal aus den Nahrungssaft an jede Verbrau chsstclle sofort und in raschester Weise zu schaffen, sind besondere Kanäle von größerem und kleinerem Kaliber, die Blut- und I^mphgefäße entstanden. Sie nehmen durch den Prozeß der Aufsaugung von den Wandungen des Darmkanals den Nahrungssaft auf, um ihn auf tausend und abertausend Wegen den einzelnen Provinzen und Organen des Das Prinzip der physiologischen Integration. 159 Körpers zuzuführen. Hier wird er schließlich wieder in feinsten Röhrchen bis in die unmittelbarste Nähe fast jeder einzelnen Zelle heran gebracht. Zur Fortbewegung der Nährflüssigkeit, des Blutes, in den groben Gefäßen und feinsten Haaröhrchen ist auch noch bei der Arbeitsteilung ein zentrales Pumpwerk, das Herz, geschaffen worden. Mit kräftig arbeitenden Muskelzellen, mit Klappen und Ventilen ausgestattet, macht es erst eine gleichmäßige Zirkulation des Blutes in bestimmter Richtung möglich. So sind alle Zellen in dem sie umströmenden Nahrungssaft gebadet und können in jedem Moment ihren Bedarf aus ihm bestreiten. Da der Saft, je nach seiner Zubereitung, für jede Art von Organismus seine ganz besondere Mischung hat, ist jetzt jede Zelle, wenn ich mich so ausdrücken darf, in ein für jeden Organismus spezifisches Milieu geraten; auf dieses ist sie ihrer ganzen Natur nach so angewiesen, daß sie überhaupt nur in ihm existieren kann. Nehmen wir noch ein zweites Beispiel: Zur Unterhaltung der chemischen Prozesse in der Zelle und damit ihres Lebens überhaupt ist Sauerstoff ein unbedingtes Erfordernis. Niedere einzellige Or- ganismen nehmen den Sauerstoff an ihrer ganzen Körperoberfläche direkt aus der Luft oder aus dem Wasser auf und geben die Schlacken des Lebensprozesses, die bei der Verwendung des Sauer- stoffes entstehen, unter ihnen besonders die Kohlensäure, auch wieder direkt an die Umgebung ab. Bei Zellstaaten aber von Millionen und Milliarden von Elementarindividuen ist ein solcher direkter Bezug von der Quelle und ebenso eine direkte Abscheidung der Zerfallsprodukte nach außen eine Unmöglichkeit geworden. Denn die meisten Zellen sind ja wegen ihrer Lage in der Tiefe des Körpers von einem unmittelbaren Verkehr mit der Außenwelt vollkommen abgeschlossen. Sie sind daher, wie es auch bei der Ernährung der Fall war, auf die Vermittlung anderer Zellen zur Befriedigung ihres Sauerstoffbedürfnisses angewiesen. Wieder hat sich hierfür der vielzellig zusammengesetzte Organismus eine Zen- tralanstalt geschaffen, die indessen bei den einzelnen Tierklassen sehr verschieden eingerichtet ist. Bei dem Menschen und den höheren Wirbeltieren ist es die Lunge, die vermöge ihres eigentümlichen Baues große, dem Be- dürfnisse des ganzen Körpers entsprechende Mengen von Sauer- stoff durch den Atmungsprozeß aus der Luft auf nehmen kann. Eine Hauptaufgabe fällt hierbei dem durch die Lunge zirkulierenden Blut zu, und zwar den roten Blutkörperchen. Diese sind die Träger einer chemischen Substanz, des Hämoglobins, das mit großer Affini- i6o Viertes Kapitel. tat zum Sauerstoff ausgerüstet ist. Vermittels des roten Blutfarb- stoffes absorbieren sie den mit der Atmungslüft in die Luftzellen der Lunge geratenen Sauerstoff und trägen ihn mit der Blut welle zu allen Organen, allen Geweben und Zellen des Körpers und ver- setzen sie so in die Lage, ihr Sauerstoffbedürfnis zu befriedigen. In der Physiologie nennt man den letzteren Vorgang im Gegen- satz zur Lungenatmung die innere Atmung. Also auch in diesem Beispiel sind die einzelnen Zellen im Zellenstaat, gerade wie es auch bei der Ernährung der Fall war, von besonderen Einrichtungen des höheren Organismus abhängig geworden. Für den normalen Lebensprozeß, für das Wohlergehen jeder einzelnen Zelle ist nicht nur die normale Arbeit einer gesunden Lunge, sondern auch die richtige Blutmischung, die Zahl der im Blut vorhandenen roten Blutkörperchen und ihre richtige Ausrüstung mit Hämoglobin eine notwendige Vorbedingung geworden. Und ähnlich geht es in der sozialen Lebensgemeinschaft der Zellen noch in sehr vielen anderen Beziehungen zu. Überall findet der Prozeß fortschreitender Arbeits- teilung und Differenzierung seine entsprechende Ergänzung in dem gleich wichtigen Prozeß zunehmender Integration, durch die erst die elementaren Lebenseinheiten bei ihrer vielseitigen Differenzierung zu einem in sich abgeschlossenen, festgefügten und zentralisierten Organismus höherer Ordnung zusammengefaßt werden. In vollkommenster Weise wird dies schließlich herbeigeführt durch ein Organsystem, durch das die zahlreichen Einzelbetriebe untereinander verknüpft, von höheren Zentralstellen abhängig ge- macht und schließlich den allgemeinen Zwecken des Ganzen ein- geordnet werden. Ich meine das Nervensystem. Zahlreiche, mit Reizleitung begabte Fäden durchziehen, Telegraphenleitungen ver- gleichbar, alle Provinzen des Zellenstaates bis in die kleinsten Be- zirke hin. Was hier und dort im Körper vor sich geht, die ver- schiedenartigsten Empfindungen von Zuständen im Reizleben der Zellen, werden durch sie als Botschaften nach Zentralstationen, den Ganglienzellen, übermittelt und durch sie zum Bewußtsein des Ganzen gebracht. Und umgekehrt werden durch andere Fäden, durch die motorischen Nerven, von den Zentralstellen Willensimpulse zu diesen und jenen Organen fortgeleitet. Muskeln und Drüsen, Herz und Blutgefäße werden hierdurch zu geordneten, zweckmäßigen. Leistungen veranlaßt. Zeit und Maß der Arbeit wird in vielen Fällen nicht mehr von den ausführenden Zellen, Geweben und Organen selbst bestimmt, sondern von Zentralstellen aus, die ihrer- seits wieder im Dienste des Ganzen stehen. Das Prinzip der physiologischen Integration. IÖI 4. Das Prinzip der Korrelation oder Koadaptation 1). Genau genommen ist das Prinzip der Korrelation und Koadap- tation schon in den beiden vorher besprochenen und umfassenderen Prinzipien der Biologie mitenthalten. Es hebt nur eine Seite derselben durch Zusammenfassung unter einem besonderen Namen noch schärfer hervor, nämlich die wichtige Tatsache, daß mit zunehmender Differenzierung eines vielzelligen Organismus zahlreiche 1 Teile, Zellen, Gewebe und Organe infolge ihrer gegenseitigen Beziehungen so vollständig nach Funktion und Form aneinander angepaßt sind, daß Veränderungen an einer Stelle unmittelbar auch solche an anderen nach sich ziehen. Am deutlichsten ist die Korrelation an den fertig entwickelten Pflanzen und Tieren ausgeprägt; sie ist aber hier nur die letzte Folge der vorausgegangenen Entwicklungs- prozesse, die sich von Anfang bis zu Ende ebenfalls unter der Herrschaft des Koadaptationsprinzips abgespielt haben. Somit haben wir uns erstens mit der Korrelation bei den ausgebildeten Orga- nismen, zweitens mit der Korrelation im organischen Entwicklungs- prozeß zu beschäftigen. a) Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. Schon CuviER hat durch seine ausgedehnten vergleichend- anatomischen Untersuchungen der Wirbeltiere und durch seine Studien ihrer fossilen Überreste die große Gesetzmäßigkeit er- kannt, welche die zusammengehörigen Knochen einer einzelnen Säugetier- oder Vogel- oder Reptilienart zeigen. Er benutzte diese Erkenntnis, um aus der Form eines einzelnen fossilen Knochens, z. B. eines Unterkiefers, die Tierart zu bestimmen, zu welcher er als Teil gehört haben muß, oder um aus einzelnen Knochenfunden das ganze Skelett eines ausgestorbenen Wirbeltieres zu rekon- struieren. Seit Cuviers Zeiten hat nicht nur die weitere Ent- wicklung der vergleichenden Anatomie, sondern in noch höherem Grade der Fortschritt in der Physiologie zu immer tieferen Ein- blicken in die Bedeutung der Korrelation der Organe geführt. Ein umfangreiches Buch ließe sich schreiben, wenn man eine er- schöpfende Darstellung von ihr geben wollte. Für unseren Zweck aber wird es genügen, wenn wir uns auf einige Beispiele aus ver- schiedenen Gebieten pflanzlicher und tierischer Organisation be- schränken. i) Zahlreichere Beispiele mit zugehörigen Literaturangaben finden sich in meiner Allgemeinen Biologie, 5. Aufl., 1920, Kap. 22, 23: „Die inneren Faktoren der orga- nischen Entwicklung“. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. II IÖ2 Viertes Kapitel. Bei den Phanerogamen besteht eine leicht nachweisbare Kor- relation zwischen ihren ober- und unterirdischen Teilen. Dem Reichtum der in der Luft entwickelten Zweige und Blätter eines Baumes oder eines Strauches entspricht die Ausbildung seines Wurzelwerkes in der Erde. Durchtrennung einer Hauptwurzel in der Erde hat ein Vertrocknen und Absterben eines von ihr ab- hängigen oberflächlichen Astes mit seinen Zweigen zur Folge, da er kein Wasser und keine Salze aus dem Boden infolge der Durchschnei düng der ihn versorgenden Gefäßbündel mehr zuge- führt erhält. Die Notwendigkeit einer derartigen Abhängigkeit zwischen dem Ausbildungsgrad der ober- und der unterirdischen Pflanzenteile wird jedem gleich verständlich sein, wenn er sich der auf S. 146 angestellten Betrachtung über die pflanzliche Ernäh- rungsweise erinnert. Bei den Tieren macht das Studium der Korrelation uns mit den interessantesten und verschiedenartigsten Verhältnissen bekannt, die teils durch Vergleichung sich leicht erkennen lassen, teils tiefer verborgen liegen und dann erst durch geeignete Anwendung experimenteller Methoden klargestellt werden können. Ein schon komplizierterer, vergleichend-anatomischer Fall, der auch in meiner Allgemeinen Biologie eine Beschreibung gefunden hat, ist die Crista sterni vom Kolibri. Bei den Vögeln hängt der Grad der Ausbildung ihrer Crista sterni direkt von der Ausbildung ihres Flugvermögens ab. Zur Fortbewegung in der Luft sind viel stärkere moto- rische Kräfte erforderlich als zur Fortbewegung auf dem Lande oder in dem Wasser. Bei den Vögeln sind daher die zum Flügel- schlag hauptsächlich gebrauchten Muskeln, nämlich die großen M. pectorales, zu so gewaltigen Massen wie sonst bei keinem Wirbel- tier entwickelt. Besonders mächtig aber sind sie bei den besten Fliegern, unter denen die kleinen, pfeilschnell durch die Luft schießenden Kolibris in erster Reihe stehen. Den Gegensatz zu ihnen bilden die Laufvögel, von denen die Strauße ihre vorderen Extremitäten überhaupt nicht mehr zum Flug benutzen können und daher auch nur schwach entwickelte Brustmuskeln besitzen. In allen Fällen nun, in denen durch Anpassung an das Fliegen die Brustmuskulatur stark ausgebildet ist, hat sie an einer großen Reihe anderer Organsysteme entsprechende korrelative Abänderungen nach sich gezogen. Zu großen Muskelmassen ge- hört ein entsprechend großes Ursprungsgebiet am Skelett. Infolge- dessen sehen wir bei allen Flugvögeln das Brustbein, damit es Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. 163 den zahlreicher gewordenen Fasern des Muse, pectoralis eine ge- nügende Ursprungsfläche darbietet, mit einer großen Crista stern i ausgerüstet; diese gewinnt wieder die größten Dimen- sionen bei den besten Fliegern mit den stärksten Muse, pectorales. So ist bei den kleinen Kolibris (Fig. 19) der Brustbeinkamm von einer ganz überraschenden Höhe, indem er noch um ein beträcht- liches den sternovertebralen Durchmesser des Brustkorbes über- trifft. Im Gegensatz dazu fehlt ein solcher ganz bei den Straußen mit ihrer verkümmerten Brustmuskulatur. Zu der offenkundigen Korrelation zwischen Mus- kel- und Knochensystem ge- sellen sich noch zahlreiche andere. Da jede Muskel- faser von einer Nervenfaser innerviert wird, erfahren die Nervi pectorales bei den Flugvögeln eine entsprech- ende Zunahme durch korre- latives Wachstum. Wahr- scheinlich sind hiermit wieder Veränderungen an den Ur- sprungsstellen der Nerven im Rückenmark verknüpft, da die motorischen Nerven- fasern als Achsenzylinder- fortsätze aus motorischen Ganglienzellen ihren Ur- sprung nehmen. Vielleicht reichen sogar die korre- lativen Veränderungen bis in die Hirnrinde hinein, wo die Pyra- midenbahnen ihre zentralen Ursprünge haben. Wie das Nervensystem, wird auch das Blutgefäßsystem ver- ändert, indem das Kaliber der die Brustmuskeln ernährenden Arteriae thoracicae in entsprechender Weise zunimmt. Mit der Vergrößerung des Durchmessers muß sich die Gefäßwand ver- dicken und sich in ihren Schichten der stärkeren Beanspruchung gemäß histologisch verändern; sie muß eine dickere Intima, mehr elastisches Gewebe und zahlreichere glatte Muskelzellen erhalten. Und wenn wir das korrelative Wachstum noch mehr in seinen Einzelheiten verfolgen wollen, so müssen wir weiter hinzufügen, 1 1 Viertes Kapitel. 164 daß mit der neu entstandenen und vergrößerten Crista sterni, mit dem stärker gewordenen Nerv etc. ebenfalls veränderte Verhältnisse in der Verteilung der Blutgefäße Zusammenhängen. Ferner geht auch das mit allen genannten Organen in Ver- bindung stehende faserige Bindegewebe korrelative Veränderungen ein. Der stärker gewordene Musculus pectoralis schafft sich eine entsprechend starke Ansatzsehne am Oberarmknochen, welcher selbst infolgedessen mit einer ansehnlichen Tuberositas an der An- satzstelle ausgestattet wird. Das interstitielle Bindegewebe zwischen den Muskelfasern nimmt zu. Der dickere Nervenstamm erhält ein entsprechendes Perineurium. In dieser Weise hat die durch Anpassung an den Flug her- vorgerufene Vergrößerung der Brustmuskeln mit Notwendigkeit eine sehr große Anzahl Veränderungen, die auf korrelativem Wachstum beruhen, an manchen Organen und vielen Geweben zu ihrer Folge gehabt. Hierbei sehen wir noch von zahllosen anderen Prozessen im Körper (an Lunge, Herz etc. etc.) ganz ab. Weniger klar als bei der Crista sterni vom Kolibri liegt der Zusammenhang, auf dem die Korrelation beruht, bei den so- genannten „sekundären Geschlechtscharakteren“. Wie bekannt, läßt sich bei manchen Tierarten mit getrenntem Ge- schlecht beobachten, daß die weiblichen und die männlichen In- dividuen sich nicht nur durch den Besitz von Eierstöcken oder Hoden mit den ihnen eigentümlichen Ausführgängen, sondern auch noch durch auffällige Merkmale an anderen Organen unterscheiden. Diese werden gewöhnlich als die sekundären Geschlechtscharaktere im Unterschied zu den das Geschlecht direkt bestimmenden pri- mären Merkmalen bezeichnet. In den Fällen, wo sie gut ausge- prägt sind, läßt sich an ihnen die Zugehörigkeit der einzelnen In- dividuen zu einem bestimmten Geschlecht auf den ersten Blick erkennen. So unterscheiden sich bei den Tritonen die Männchen von den Weibchen zur Zeit der Brunst sofort dadurch, daß ihr Ruderschwanz von einem breiten, mit Zacken versehenen Flossen- saum (Triton cristatus) umgeben ist. Auch ihre Haut ist durch rote und gelbe Pigmentßecke viel, lebhafter gefärbt, In der Familie der Hühnervögel zeichnen sich die Männchen durch eigentümliche blutreiche, lebhaft gefärbte Kämme und Hautlappen am Kopf und Hals, sowie durch eine abweichende, mit lebhafteren Farben ver- sehene Befiederung vor den meist weniger auffällig gefärbten Weibchen aus. Die Eckzähne der verschiedenen Schweinearten sind nur im männlichen Geschlecht zu den nach außen hervor- Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. 165 tretenden, großen Hauern entwickelt. Bei den Säugetieren werden zwar die Milchdrüsen in beiden Geschlechtern angelegt, aber nur beim weiblichen Geschlecht erreichen sie eine ansehnlichere Größe und treten zeitweise durch reichliche Milchabsonderung in Funktion. Deutlich ausgeprägt sind endlich auch die sekundären Geschlechts- charaktere beim Menschen in der verschiedenen Art der Behaarung, in der Form des Kehlkopfes und in der hiervon abhängigen tie- feren und höheren Stimmlage. Daß primäre und sekundäre Geschlechtscharaktere sich wirk- lich in ihrer Ausbildung gegenseitig beeinflussen, also in einem korrelativen Verhältnis zueinander stehen, läßt sich in verschie- dener Weise begründen. Denn einmal geht die Entwicklung der sekundären Charaktere mit derjenigen der primären Hand in Hand und erreicht daher erst zur Zeit der Pubertät ihren Höhepunkt und ihre Vollendung. In manchen Fällen zeigt sich ihre Ab- hängigkeit noch deutlicher dadurch, daß sie, wie der gezackte Kamm der männlichen Tritonen oder das Hochzeitskleid einiger Fische und Vögel, nur während der Brunstzeit zur vollen Aus- bildung gelangen und nach ihrem Ablauf wieder mehr oder minder zu schwinden beginnen. Noch beweisender als derartige Beobachtungen werden von vielen die Ergebnisse experimenteller Eingriffe angesehen werden. Denn die sekundären Geschlechtscharaktere lassen sich fast bei allen Wirbeltieren, bei denen sie Vorkommen, durch eine früh- zeitig ausgeführte operative Entfernung der noch nicht funktions- fähig gewordenen Keimdrüsen in ihrer Ausbildung unterdrücken. Wenn dem jungen Hahn bald nach seinem Ausschlüpfen aus dem Ei beide Hoden herausgeschnitten werden, gewinnt er das Aus- sehen des Kapauns. Umgekehrt wird die Henne häufig im vor- geschrittenen Alter, wenn der Eierstock nicht mehr Eier bildet und zu atrophieren beginnt, hahnenfedrig, wie es im gewöhnlichen Sprachgebrauch heißt. Denn nach Eintritt einer Mauserung ge- winnt ihr sich neubildendes Gefieder jetzt eine größere Ähnlich- keit mit demjenigen des Hahns. Der menschliche Eunuch zeigt als Folge der bei ihm in jugendlichem Alter ausgeführten Opera- tion einen sehr mangelhaften' oder ganz verkümmerten Bartwuchs und eine Veränderung in der Ausbildung des Kehlkopfes, mit welcher die hohe Kastratenstimme zusammenhängt. Da Eierstock und Hoden mit den sekundären Geschlechts- charakteren bekanntlich in keinem unmittelbaren anatomischen und physiologischen Zusammenhang stehen, sind jetzt die Biologen i66 Viertes Kapitel. fast allgemein der Ansicht, daß diese Art von Korrelation durch chemische Reizstoffe oder Hormone, wie sie Starling genannt kat, verursacht wird. Sowohl in den männlichen wie in den weib- lichen Keimdrüsen sollen spezifische Stoffe gebildet und an den Lymph- und Blutstrom abgegeben werden; auf diesem Wege sollen sie auf einzelne Gewebe und Organe als Reiz einwirken und sie zu einer für das betreffende Geschlecht eigentümlichen Ausbildung veranlassen. Auch zugunsten dieser Erklärung lassen sich interessante Experimente anführen, die in der Weise ausge- führt werden, daß man z. B. dem männlichen .Tier die Hoden aus- schneidet, darauf aber wieder an einer anderen Körperstelle ein- pflanzt. Unter diesen Umständen konnte Berthold beobachten, daß sehr junge operierte Hähne nicht zu Kapaunen werden, son- dern trotz der Kastration sekundäre Geschlechtsmerkmale ent- wickeln, wahrscheinlich infolge der von den transplantierten Hoden- stückchen abgegebenen Hormone. In ähnlicher Weise konnte bei kastrierten Froschmännchen die Entwicklung der Daumenschwielen durch Hodensubstanz, die in den Lymphsack zeitweise eingeführt wurde, angeregt werden. Auch für die Milchdrüse nimmt Starling mit vielen anderen Forschern an, daß die Ursache für ihr beträcht- liches Wachstum und ihre Sekretion bei einer Schwangerschaft in chemischen Reizstoffen zu suchen sei, welche in den Becken- organen gebildet und in den Blutkreislauf abgegeben werden. Großes Aufsehen erregten in den letzten Jahren die in der Presse viel besprochenen Versuche von Steinach, in denen er kastrierten Meerschweinchen und Ratten die Keimdrüsen des ent- gegengesetzten Geschlechts mit Erfolg implantierte. Auf diese Weise erreichte Steinach, daß weibliche Tiere nicht nur einen Teil der äußeren Geschlechtscharaktere, sondern auch den Ge- schlechtstrieb und das ganze psycho-sexuelle Verhalten von Männchen annahmen, und umgekehrt im entgegengesetzten Fall. Durch sein Verfahren vermochte er also, wie er sich ausdrückt, Weibchen zu maskulieren und Männchen zu feminieren. Wie schon früher bemerkt wurde (S. 162), kann ein Einblick in viele korrelative Verhältnisse und ein sicherer Nachweis ihres Vorhandenseins nur mit Hilfe experimenteller Methoden gewonnen werden. Dies gilt namentlich von vielen Drüsen, die in ihrer Größenentwicklung und in dem Umfang ihrer Funktion an be- stimmte Stoffwechselprozesse des ganzen Körpers genau adaptiert sind. Das lehrreichste Beispiel bietet uns in dieser Beziehung die Niere. Von ihr wissen wir ja auf Grund von vorausgehenden Er- Die Korrelation im Entwicklungsprozeß. 167 fahrungen der Chirurgen, daß operative Entfernung derselben auf einer Seite regelmäßig eine Arbeitshypertrophie und eine rasch ein- tretende Vergrößerung der anderen Niere zur Folge hat. Diese kann in manchen Fällen allmählich sogar das Gewicht von zwei Nieren erreichen. Auch hier besteht über die Art der Erklärung dieses korrela- tiven Verhältnisses keine Meinungsverschiedenheit unter den Bio- logen. Aufgabe der beiden Nieren ist es, die harnfähigen Sub- stanzen zu entfernen, die von allen Organen und Geweben bei ihren Lebensprozessen gebildet und im Blut angesammelt werden. Ihre Leistungsfähigkeit muß daher in einem bestimmten Abhängig- keitsverhältnis (oder in einer Korrelation) zu der Gesamtmenge der täglich vom Körper gebildeten Harnbestandteile stehen, und da diese je nach der stärkeren oder geringeren Tätigkeit des Körpers an einzelnen Tagen nicht unerheblichen Schwankungen unterliegt, muß sie auch hierfür angepaßt sein. Schon unter nor- malen Umständen besitzt daher die Niere, wie man sich ausdrückt, noch eine über ihre gewöhnliche Arbeit hinausgehende Reservekraft. Durch Ausnutzung derselben erklärt es sich, daß schon 24 Stunden nach einer Nierenexstirpation täglich dieselbe Harnmenge mit dem- selben Gehalt an festen Substanzen ausgeschieden wird, wie vorher. Die so bis auf das Doppelte erhöhte Beanspruchung der Niere ist nicht vorübergehend, sondern von Dauer und wirkt dadurch als Wachstumsreiz auf ihre Substanz; daher beginnen denn auch bald nach der Operation zahlreiche Kernteilungsfiguren in den Drüsen- zellen der Tubuli contorti aufzutreten. Das korrelative Nieren- wachstum aber dauert dann so lange an, bis wieder ein Ausgleich in den durch die Entfernung der Niere herbeigeführten Störungen erfolgt ist. Das ist der Fall, wenn die harnsezernierende Oberfläche aller Harnkanälchen wieder der vom Gesamtkörper gelieferten Menge harnfähiger Substanz ohne erhebliche Beanspruchung der Reservekraft angepaßt ist, also die zurückgebliebene Niere sich fast bis zum Doppelten des ursprünglichen Volums vergrößert hat. Ähnliche Ergebnisse sind auch nach teilweiser Entfernung ver- schiedener anderer drüsiger Organe gewonnen worden, wie der Leber, der Schilddrüse etc. b) Die Korrelation im Entwicklungsprozeß. Wer sich mit dem Werden der Organismen beschäftigt, wird sich hier die Frage vorlegen müssen, wie die so fest geregelten Abhängigkeitsverhältnisse, die bei zusammengehörigen Organen i68 Viertes Kapitel. eines ausgewachsenen Organismus nach Größe, Form und Funktion beobachtet werden, während der Entwicklung aus dem Keim zu- stande gekommen sind. Die Antwort lautet: Jede Korrelation der Organe ist durch eine korrelative Entwicklung, das heißt durch eine von Anfang an harmonisch erfolgende Ausbildung aller im System zusammengehöriger Teile entstanden ; nur unter dieser Voraussetzung ist sie überhaupt möglich. Der Beweis hierfür ist durch das Ex- periment sowohl für Pflanzen wie für Tiere leicht zu erbringen. Wenn man den Samen einer Tabakpflanze, eines Ricinus oder einer Sonnenblume, wie Sachs in seiner Physiologie beschreibt sich in freiem Land auf gutem Boden oder in einem Blumentopf, der mit etwa 3 Liter bester Gartenerde gefüllt ist, entwickeln läßt, so erhält man im Laufe von 100 — 120 Tagen zwei sehr verschieden aussehende Pflanzen. Im freien Land ist ein zuweilen armdicker Stamm mit zahlreichen großen Blättern und einem üppigen Wurzel- werk entstanden; im Blumentopf dagegen, auch wenn er unter den günstigsten Bedingungen im Freien steht und öfters mit guten Nähr- lösungen begossen wird, hat sich nur ein Stamm von Fingerdicke entwickelt und mit einer gesamten Blattfläche, welche kaum den fünften oder sechsten Teil der anderen Pflanze beträgt. Bekannt sind die zierlichen Miniaturbäumchen, welche auf diese Weise die Japaner durch fortgesetzte Topfkultur als Zier- und Zimmerpflanzen gezüchtet haben. Die Erklärung für den Unter- schied zwischen den beiden Kulturbedingungen liegt wohl klar zu- tage. Da sich in dem beschränkten Raum des Blumentopfes das Wurzelwerk nicht so kräftig wie im freien Lande entwickeln kann, wird auch weniger Nahrung aus dem Boden (Wasser und Salze) den oberirdischen Teilen zugeführt. Dadurch werden auch diese in ihrer Vermehrung gehemmt, obwohl es ihnen weder an Raum zur Entwicklung von Zweigen und Blättern, noch an Luft und Licht, um zu assimilieren, fehlt. Auch bei Tieren ist die Korrelation im Entwicklungsprozeß durch experimentelle Methoden leicht zu erweisen, indem man ent- weder in Entwicklung begriffene Teile außer Funktion setzt oder sie ganz entfernt und auf diese Weise andere mit ihnen in Bezie- hung stehende Teile in ihrer weiteren Ausbildung beeinflußt. Wenn man gleich nach der Geburt bei jungen Kaninchen den Nervus facialis auf einer Seite des Kopfes durchschneidet, so atro- phieren nicht nur die von den zerstörten Nervenzweigen versorgten Muskeln, sondern es bleiben auch die Kopfknochen der entsprechen- den Seite zum Teil in ihrem Wachstum auffällig zurück, obwohl sie Die Korrelation im Entwicklungsprozeß. 169 ja selbst in keiner direkten Weise von dem Eingriff betroffen worden sind. Hyrthle, der das Experiment ausgeführt hat, erklärt die Korrelation dadurch, daß infolge der Muskellähmung „der Zug und Druck fehlt, welcher die lebenden Teile des Knochens zur Tätig- keit anregt und so das normale Wachstum des Knochens veran- laßt“. Wie in dem angeführten Beispiel aus einer späteren Periode der Entwicklung, läßt sich bis in die frühesten Stadien, ja selbst bis zu den ersten Teilungen des Eies die Gültigkeit des Korrelations- prinzips durch experimentelle Eingriffe nachweisen. Je frühzeitiger diese vorgenommen werden, in um so größerem Umfang treten sogar ihre Folgen hervor. Wenn in der schon früher (S. 129) be- schriebenen Weise die Teilstücke geeigneter Eier sich zu ganz nor- malen, nur entsprechend kleineren Larven weiterzüchten lassen (Fig. 15 u. 16), so wird jedermann einsehen, daß in den einzelnen Fällen die Zellen, wenn wir sie als Abkömmlinge des ganzen Eies beurteilen, sich bei der Herstellung der Gewebe und Organe in einer absolut verschiedenen Weise beteiligen. Denn je nachdem aus einem befruchteten Ei eine einzige normale Larve, oder infolge der Eingriffe 2 resp. 4 Ganzlarven von halber oder viertel Größe ent- stehen, werden die durch den Furchungsprozeß gelieferten Embryo- nalzellen im ersten Fall zur Entwicklung von einem Hirn, zwei Augen, zwei Riechgrübchen und zwei Hörsäckchen, im zweiten Fall zur Entwicklung der doppelten und im dritten Fall zur Entwicklung der vierfachen Anzahl der genannten Organe verwandt. Und wie hier, muß eine andersartige Verwendung der Zellen natürlich ebenso bei allen anderen Organen, Körperteilen und Geweben eintreten. Somit kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß die beiden ersten Teilhälften des Eies nur deswegen und nur insoweit sich zu zwei Körperhälften des Embryo entwickeln, als sie zwei zusammengehörige Hälften eines Ganzen sind, sich demnach gegenseitig ergänzen und in einer bestimmten gesetzmäßigen Abhängigkeit zueinander stehen. In entsprechender Weise erhält eine jede Zelle bei der zweiten, dritten vierten und jeder folgenden Teilung im normalen Verlauf der Ent- wicklung ihre besondere räumliche Anordnung mit allen sich hieraus ergebenden Koadaptationen im System des Ganzen; sie wird dabei, wTie leicht zu ersehen ist, so von Stufe zu Stufe auch in ihrer „pro- spektiven Potenz“ enger determiniert. Wenn nach der im Experiment ausgeführten Trennung das einzelne Teilstück sich wieder zu einer vollständigen Larve von geringer Größe entwickelt, so erklärt sich dies in einfacher Weise 170 Viertes Kapitel. daraus, daß es sich zur kugligen Ausgangsform, allerdings nur von halber oder von viertel Größe reguliert und so den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. In noch wunderbarerer Weise äußert sich die korrelative Ent- wicklung infolge veränderter Koadaptation der Zellen, wenn bei den beschriebenen Experimenten die beiden ersten Embryonalzellen, an- statt vollständig getrennt worden zu sein, nur eine größere oder geringere Lockerung ihres normalen Zusammenhanges und eine verschiedenartige Verlagerung und Verschiebung aneinander er- fahren haben. Denn in diesem Falle entstehen die verschieden- artigsten, seltsamen Mißbildungen, welche mehr oder weniger aus- geprägte Verdoppelungen an einzelnen Körperteilen, am Kopf allein, oder am Kopf und an dem vorderen Rumpfabschnitt zeigen (Fig. 18). Aber auch an derartigen Monstrositäten läßt sich ein gesetzmäßiges Zusammenwirken, eine Koadaptation der Zellen, bei der Anlage des Zentralnervensystems, des Achsenskeletts, der Ursegmente, der Sinnesorgane und Drüsen nicht verkennen. Auch noch auf weiter vorgerückten Stadien kann der korre- lative Charakter der Entwicklung mit Veränderung der prospektiven Potenzen der Embryonalzellen durch das Experiment nachgewiesen werden. So kann man durch Einschnürung der Keimblase von Amphibien ähnlich aussehende Doppelmißbildungen wie durch teilweise Trennung der embryonalen Zellen während der ersten Furchungsstadien des Eies gewinnen, was auch wieder ohne ein vollständig verändertes harmonisches Zusammenwirken der Zellen, entsprechend den neuen, durch das Experiment geschaffenen Be- dingungen, nicht möglich wäre. Angesichts aller dieser zahlreichen Tatsachen, an deren Richtig- keit kein Zweifel bestehen kann, ergibt sich mit Notwendigkeit das neue, für das Verständnis der tierischen Formbildung wichtige Ent- wicklungsgesetz : DieEntwicklung aus dem befruchteten Ei ist von ihren ersten Stadien an keine Mosaikarbeit, wie von einigen Forschern aus falschen Grundlagen in irrtümlicher Weise geschlossen worden ist, sondern beruht zu allen Zeiten auf dem innigsten Zusammen- wirken der Zellen und der von ihnen gebildeten Zellen komplexe und Organanlagen. Die wunder- bare Harmonie, die zwischen allen Organen und Ge- weben im ausgebildeten Zustand unter normalen Ver- hältnissen besteht, läßt sich in keiner anderen Weise als durch korrelative Entwicklung begreifen. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben etc. j y j 5. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben und Organen1). Nach Besprechung- der allgemeinen Prinzipien der Entwicklung, der Potenzierung der Artzelle, der Arbeitsteilung und Differenzierung, der Integration und der Korrelation oder Koadaptation ist es zum Schluß wohl noch geboten, uns nach den Mitteln und Wegen um- zuschauen, durch welche eine Einwirkung der Zellen und der durch sie gebildeten höheren Organisationsformen der Gewebe und Organe aufeinander ermöglicht wird. Dieselben sind mannigfacher Art. Zuerst sei hier der protoplasm atischen Verbin dun gen ge- dacht, durch welche bei Pflanzen und Tieren benachbarte Zellen, wenn nicht überall, doch an vielen Stellen in unmittelbarem Zu- sammenhang untereinander stehen. Da nun Protoplasma in hohem Grade eine reizbare Substanz ist, können auf diesem Wege Er- regungszustände von Zelle zu Zelle fortgeleitet werden und an anderen, eventuell weit abgelegenen Stellen Wirkungen hervorrufen. Da gewöhnlich derartige Reize nicht zu unserer Wahrnehmung ge- langen, gehören sie fast ganz dem großen Gebiete der uns unbe- kannten Vorgänge im Leben der Zellen an. Wahrscheinlich aber sind sie für alle formativen und nutritiven Prozesse im vielzelligen Organismus von der größten Bedeutung. Einzelne Experimente, die sich in meiner Allgemeinen Biologie (S. 514) zusammengestellt Enden, scheinen hierfür zu sprechen. Außer der Reizleitung können die Protoplasmaverbindungen zwischen den Zellen aber auch dem Stofftransport dienen, so daß Substanz, selbst in der Form von Protoplasma, von einer auf die andere Zelle direkt Übertritt. Mehr als im Tierreich dürfte eine besondere Bedeutung diesem direkten Verkehr der Zellen unter- einander im Pflanzenreich zufallen. Neben der protoplasmatischen hat sich noch eine zweite Ver- bindung durch Nervenfibrillen zwischen vielen Elementarteilen bei den Tieren ausgebildet. Während die protoplasmatische Verbindung wahrscheinlich in einer langsamen, aber stetigen Weise Erregungen vermittelt, besitzt die Nerven Verbindung den großen Vorteil der größeren Schnelligkeit in der Reizübertragung und der schärferen Lokalisation auf bestimmte Punkte des Körpers. Durch sie wird zugleich eine direkte, unmittelbare Beziehung zwischen räumlich oft weit getrennten Teilen mit Überspringung aller zwischen ge- legenen Gewebe hergestellt. Ein weiterer großer Vorzug der 1) Hertwig , Oskar. Allgemeine Biologie , 5. Aufl., 1920, Kap. 16. 72 Viertes Kapitel. Nervenverbindung besteht in der durch sie herbeigeführten ge- trennten Übermittlung verschiedener Arten von Reizqualitäten. Haben sich doch im Zusammenhang mit der Ausbildung eines Nervensystems an der Hautoberfläche auch besondere Empfangs- apparate für die verschiedenen Reize, mit denen die Außenwelt auf den Organismus einwirkt, für photische, akustische, mechanische, thermische und chemische Reize entwickelt. Dadurch können diese, vermöge besonderer Seh-, Hör-, Geschmacks-, Geruchs- und Gefühls- organe, differenziert wahrgenommen, zu zentralen Stationen fort- geleitet und schließlich den Erfolgsorganen übermittelt werden. Und da auch bei diesen eine Arbeitsteilung in Muskeln, Drüsen usw. eingetreten ist, dienen die von außen zugeführten und auf be- sonderen Bahnen fortgeleiteten verschiedenen Reizqualitäten im Körper auch zur Auslösung von verschiedenen Arten von Prozessen, wie zur Muskelkontraktion, zur Drüsensekretion usw. Ein dritter Weg, durch welchen ein Zusammenhang zwischen allen Zellen als Gliedern eines Organismus vermittelt und dauernd unterhalten wird, besteht in der Gemeinsamkeit ihres Stoffwechsels. Dieser aber ist für jede Tier- und Pflanzenart ein streng spezifischer. Die von mir begründete Lehre von der Artzelle, welche schon auf S. 69 dieses Buches eingehend dargestellt worden ist, hat im letzten Jahrzehnt noch eine naturgemäße und wichtige Erweiterung und Ergänzung durch „das Gesetz von der biochemischen Arteinheit und Artverschiedenheit“ erhalten, wie es in besonders klarer Weise durch Hamburger formuliert worden ist. Hiernach unterscheiden sich die Artzellen nicht nur durch ihre spezifische Organisation von- einander, sondern wie sich hieraus weiter ergibt, auch durch ihre chemisch-physikalischen Eigenschaften, durch die Art und Weise, wie sie in ihrem chemischen Laboratorium die von außen bezogenen Stoffe, und unter diesen namentlich die Eiweißkörper, durch Abbau zerlegen und sie zu einer für sie genau angepaßten Nährflüssig- keit umwandeln. Infolgedessen sind auch die Körpersäfte der einzelnen Pflanzen und Tierarten voneinander spezifisch verschieden ; sie besitzen, um einen Ausdruck Hamburgers zu gebrauchen, Atomkomplexe, welche Träger der Arteigenschaften sind und ihnen allein als Angehörigen einer Spezies zukommen und durch welche sie sich von allen anderen Spezies unterscheiden. Beweise für unsere Ansicht sind namentlich durch zwei mit Eifer und Erfolg betriebene Forschungsrichtungen der jüngsten Zeit geliefert worden, durch die Serumforschung und durch die ex- perimentellen Untersuchungen über Transplantation. Durch die vergleichende Serumforschung hat man erfahren, Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben usw. daß die aus dem Blut oder den Körpersäften gewonnenen Sera für jede Tierart besondere chemische U nterschiede darbieten. Wenn sich dieselben auch nicht durch die gewöhnlichen chemischen Analysen, so können sie doch mit Hilfe anderer Methoden nachgewiesen werden, nämlich durch ganz charakteristische „biologische Reaktionen“, von denen sich eine kurze Besprechung in meiner Allgemeinen Biologie findet. Unter ihnen sei hier nur eine kurz erwähnt, die Bildung von besonderen chemischen Eiweißsubstanzen, welche in dem Blut von Versuchstieren durch Einführung körperfremder Ei- weißstoffe erzeugt werden ; man nennt sie Präzipitine, wenn sie im Serum Fällung erzeugen, oder Hämolysine, wenn sie Blutkörperchen auflösen. Auf diesem Wege glaubt man schon jetzt in der Lage zu sein, den experimentellen Nachweis von Blutverwandtschaft der einzelnen Tierarten führen zu können (Friedenthal). Namentlich hält Abderhalden, der durch eigene Untersuchungen dieses Gebiet der Eiweißchemie vielfach gefördert hat, die vergleichend biologisch- chemische Forschung für berufen, in Fragen der stammesgeschicht- lichen Verwandtschaft die führende Rolle zu spielen. Einen zweiten Beweis für die spezifische Eigenart des Stoff- wechsels. einen Beweis, welcher zugleich älter ist als der durch die Serumforschung gewonnene, haben die Studien über Transplantation bei Tieren und Pflanzen geliefert. Sie haben die Lehre von der vegetativen Affinität begründet, welche ein Gegenstück zur sexuellen Affinität, d. h. der Verwandtschaft zwischen den männ- lichen und weiblichen Keimzellen einer Art, bildet. Vegetative Affinität ist die Fähigkeit eines abgetrennten Teils von einem Or- ganismus, wieder eine lebensfähige Verbindung mit einem anderen Organismus einzugehen. Sie besteht nur zwischen Individuen der- selben Art oder sehr nahe verwandter Arten. Wie durch zahlreiche an verschiedenen Pflanzen- und Tierabteilungen ausgeführten Ex- perimenten sicher bewiesen ist, läßt sich durch künstliche Vereini- gung eine wirkliche Lebensgemeinschaft zwischen Teilen zweier Organismen nur dann zustande bringen, wenn ihre Zellen von der gleichen oder einer fast gleichen Art und auch ihr ganzer Stoff- wechsel dementsprechend ein gleicher oder wenigstens ein sehr ähn- licher ist. Alle anderen Verbindungen gehen schon in einigen Tagen zugrunde. Die einen sind als harmonische, die anderen als dishar- monische bezeichnet worden. Harmonische und disharmonische Verbindungen kann man auch zwischen Geweben und Körpersäften von zwei Tierarten vornehmen. Ein schönes und interessantes Beispiel bietet hierfür die Transfusion oder die Einführung von Blut, das einem lebenden Tier entnommen 74 Viertes Kapitel. wird, in den Kreislauf eines anderen Individuums. Die Begründer der Transfusionsmethode waren anfangs des Glaubens: Blut ist Blut und kann, aus den Adern eines lebenden Tieres entnommen, auch im Kreislauf eines zweiten die gleiche Aufgabe wie beim ersten erfüllen und so als Heilmittel bei schweren Anämien und Blutverlusten dienen. Der Irrtum dieses Glaubens wurde bald durch systematisch angestellte Experimente aufgedeckt. Das Blut von zwei verschie- denen Tierarten läßt sich nämlich durch Transfusion nicht mit- einander vermischen, ohne sofort im Körper des von ihn* durch- strömten Organismus die schwersten Störungen zu erzeugen. Es ist künstlich eine disharmonische Verbindung geschaffen worden. Da- her beginnt schon wenige Minuten nach Ausführung des Experi- ments ein Zerfall roter Blutkörperchen und eine Auflösung des Hämo- globins im Plasma (Lackfarbigwerden des Blutes) einzutreten, was in kurzer Zeit Blutharn zur Folge hat. Selbst in schwachen Dosen wirkt ungleichartiges Blut schädlich, in starken Dosen oft sogar tödlich. Der Erfolg ist ein ziemlich ähnlicher, mag man das Blut unmittelbar von Gefäß zu Gefäß zwischen zwei Tierarten, zwischen Hund und Kaninchen oder Hund und Hammel oder umgekehrt überleiten, oder mag man es in defibriniertem Zustand einspritzen. Nur zwischen Individuen derselben Art oder bei sehr naher Ver- wandtschaft (Varietäten) ist Transfusion von Blut ohne Schaden aus- führbar. Nur in diesem Fall bleibt die Hämoglobinurie selbst bei sehr großen Gaben aus. Aus den nur kurz zusammen gestellten Ergebnissen, die auf verschiedenen Forschungsgebieten gewonnen wurden, schließen wir, daß innerhalb eines Organismus eine jede Zelle mit ihrem Spezial- haushalt an den großen, weit mehr verwickelten, allgemeinen Haus- halt des Ganzen und an das durch ihn geschaffene, eigentümliche chemische Milieu gepaßt ist. Das letztere ist aber zugleich für die Entwicklung eines Orangismus auch noch dadurch von großer Bedeutung, daß es chemische Einwirkungen von einem auf andere Teile, seien es Zellen, Gewebe oder Organe des Körpers, ermög- licht und vermittelt. Denn bei den höheren Organismen ist infolge der Arbeitsteilung, die zwischen einzelnen Zellgruppen in der viel- fältigsten Weise eingetreten ist, der sie durchtränkende und ernäh- rende, allen gemeinsame Saft aus sehr zahlreichen chemischen Stoffen zusammengesetzt, welche zum Teil von diesen, zum Teil von jenen Organen des Körpers zubereitet, resp. gebraucht werden. Schon bei den Pflanzen bewegen sich Stoffe, die, in Wasser ge- löst, von den Wurzeln aus dem Boden auf gesaugt werden, nach Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben etc. den oberirdischen Teilen, um dort bei der Blatt- und Blütenbildung Verwendung zu finden. Und umgekehrt werden von den chlorophyll- haltigen, oberirdischen Zellen durch den Assimilationsprozeß wieder ganz andersartige Stoffe erzeugt; Proteine, Stärke, Fette, Zucker, die teils zur Bildung neuer Blätter, Blüten und Früchte, teils aber auch zur Bildung der Wurzeln dienen und zu ihnen oft aus weiter Entfernung hinwandern müssen, da die Wurzeln ja selbst nicht im- stande sind, aus den dem Boden entzogenen Stoffen organische Substanz zu erzeugen. So muß beständig im Pflanzenkörper eine Saftströmung in entgegengesetzten Richtungen vor sich gehen. In- dem aus ihr die Zellen ihren Bedarf decken, werden sie in ihrem Wachstum nicht nur von dem Haushalt der ganzen Pflanze, sondern auch von allen den verschiedenen Orten abhängig, von denen beson- dere Stoffe, hier in den Wurzeln, dort in den Blättern, aufgenommen und gebildet werden. Zwischen allen muß ein sich allmählich voll- ziehender Ausgleich stattfinden, durch welchen das Wachstum der ganzen Pflanze in ihren Teilen bestimmt wird. Daß hierbei eine Auswahl zwischen den dargebotenen Stoffen des Bodens von den Wurzeln je nach der Pflanzenart getroffen wird, läßt sich schon aus der Tatsache schließen, daß viele Pflanzen nur auf Böden von be- stimmter chemischer Mischung, die für sie paßt, gut gedeihen. Viel verschiedenartiger als bei den Pflanzen gestaltet sich die Zusammensetzung der den tierischen Körper durchströmenden, er- nährenden Flüssigkeit. Blut und Lymphe bilden sich nicht nur aus den verschiedenen, in Darm und Lunge aufgenom menen Stoffen, sondern sie werden auch noch bei ihrer Zirkulation durch die einzelnen Organe und Gewebe des Körpers in ihrer Mischung beständig verändert. Denn infolge der zwischen ihnen ausge- bildeten Arbeitsteilung haben die einzelnen Organe: Leber, Niere und Nebeniere, Schilddrüse, Geschlechtsdrüsen, Muskeln, Gehirn, Lymphdrüsen, Knochenmark etc. einen sehr verschiedenartigen Stoffwechsel. Sie nehmen dementsprechend hier diese, dort jene Stoffe aus dem Saftstrom auf und geben andere an ihn ab. Unter diesen befinden sich auch innere Sekrete, die nach physiologischen Untersuchungen auf die Wachstumsprozesse des Körpers einen großen Einfluss ausüben und als Reizstoffe und Hor- mone (Thyreojodin, Adrenalin etc.) schon an anderer Stelle (S. 166) besprochen worden sind. Die Beschaffenheit von Blut und Lymphe hängt daher in demselben Maße, als die Tiere stärker differenziert sind, von sehr zahlreichen Organen ab. Die Organe selbst aber werden hierbei durch Vermittlung des ihnen allen gemeinsamen 76 Viertes Kapitel. chemischen Milieus noch mehr als bei den Pflanzen in ihrer Tätig- keit, in ihrem Wachstum und in ihrer Gestaltung voneinander beein- flußt, wie schon an einigen Beispielen zur Erläuterung des Prinzips der Korrelation gezeigt wurde (S. 166). Störung im Stoffwechsel eines Teiles, wie z. B. der Leber, des Pankreas, der Niere und Neben- niere, der Keimdrüsen, ruft eine andere Blutmischung hervor und beeinflußt dadurch wieder den Stoffwechsel, die Funktion und die Entwicklung von den verschiedensten anderen Organen. In dieser Weise besitzt das chemische, für jede Tierart spezifsch beschaffene Milieu eine doppelte Bedeutung. Einmal sind alle Zellen, die von ihm umspült und durchtränkt werden, notwendigerweise auf dasselbe gleichsam abgestimmt und sind dadurch auch in chemischer Hinsicht zu integrierten Gliedern im Stoffwechsel des übergeord- neten Organismus geworden. Zweitens aber ist das chemische Milieu auch der Weg, auf welchem von den einzelnen Organen und Ge- weben eines Körpers chemische Reizwirkungen aufeinander ausge- übt werden können. Wahrscheinlich werden dieselben von sehr mannigfaltiger und zusammengesetzter Art sein, in welche man zurzeit gewiß nur eine sehr geringe Einsicht besitzt. Eine wechselseitige Beeinflussung zwischen den elementaren und den zusammengesetzteren Teilen eines Organismus findet endlich auch noch auf mechanischem Wege in sehr verschiedenen Formen vom ersten Teilungsprozeß bis zum ausgebildeten Zustand statt. Schon im vierten Abschnitt wurde erörtert, wie durch den Teilungsprozeß und die mechanische Zusammenordnung der Em- bryonalzellen ihre prospektive Potenz bestimmt und allmählich in eine fester determinierte Richtung gelenkt wird. Auch bei der Lage, welche die aus dem ruhenden Kern entstehende Spindel im Ei und in den sich bildenden Embryonalzellen einnimmt, ist das mechanische Moment von Einfluß. Denn wie sich durch ver- gleichende Beobachtung und durch das Experiment beweisen läßt, stellt sich bei jeder Furchung die Spindel mit seltenen Ausnahmen stets in der Richtung der größten Protoplasmamasse im Zellkörper ein und fällt daher mit dem Längsdurchmesser desselben zusammen. Infolgedessen durchschneidet die Teilebene die Zelle in ihrem klein- sten Durchmesser oder „in einer Richtung minimae areae“. Nach diesem einfachen mechanischen Prinzip läßt sich das so regelmäßig beschaffene Zellenmosaik in den ersten Stadien des Furchungs- prozesses, wie die in den drei Richtungen des Raumes gewöhnlich alternierende Folge der ersten Teilebenen, leicht begreifen. In mechanischer Weise wirkt ferner die massenhafte Ansamm- lung von Deutoplasma auf den Verlauf des Entwicklungsprozesses Mittel und Wege zur gegenseitigen Beinflussung von Zellen, Geweben etc. 177 bis in späte Stadien ein; sie bewirkt z. B. im Ei der Amphibien die polare Differenzierung oder in den Eiern der Fische, Reptilien und Vögel die Sonderung ihres Inhalts in einen Bildungs- und Nahrungsdotter mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, durch welche das Bild der einzelnen Entwicklungsstadien so voll- ständig verändert wird. Auch daran sei erinnert, daß bei allen embryonalen Wachstums- prozessen die Epithelzellen, die im Keimblatt auf einen bestimmten Raum zusammengedrängt und hier in geringerer, dort in lebhafterer Vermehrung begriffen sind, durch Druck und Zug aufeinander ein- wirken. Sie geben dadurch den Anstoß, daß die Keimblätter, welche in histologischer Hinsicht Epithelmembranen sind, je nach der Lage, Form und Ausdehnung der in regerem Wachstum begriffenen Be- zirke sich in verschiedener Weise in Falten legen oder sack- oder röhrenartige Aus- und Einstülpungen bilden. Auf diese Weise kommen nach dem mechanischen Prinzip des ungleichen Wachs- tums röhren-, sack- und bläschenförmige Hohlorgane zustande, wie das Nerven- und das Darmrohr, die Ohr- und die Augenblase, ferner die zur Umhüllung des Embryos dienenden Säcke (Amnion, Cho- rion) oder verzweigte Röhrensysteme, die als Drüsen funktionieren 1). Daß hierin für die ganze Gestaltbildung des Embryos höchst wich- tige Faktoren gegeben sind, bedarf wohl kaum noch eines näheren Hinweises. Ebenso fehlt es nicht in späteren Perioden der Entwicklung an zahllosen mechanischen Einwirkungen. Einmal müssen sich die ein- zelnen Organe, während sie sich differenzieren, in ihrer Form den räumlichen Beziehungen anderer benachbarter Organe anpassen. Die Leber muß bei den Säugetieren wegen ihrer festen Anlagerung an das zur Kuppel gewölbte Zwerchfell eine konvexe Oberfläche bei ihrem Wachstum annehmen; der linke Lungenlappen muß im Ver- gleich zum rechten ein geringeres Volumen und eine etwas abwei- chende Form infolge der Raumbeschränkung durch das Herz er- halten. Bei den Schlangen müssen Lunge und Leber in Anpassung an den langgestreckten, dünnen Körper gleichfalls zu langen, zylinder- förmigen Organen auswachsen. Eine andere Gruppe mechanischer Einwirkungen geht von den aus kontraktilem Gewebe zusammengesetzten Organen aus, hier von den willkürlichen Muskeln des Skeletts, dort von der unwillkürlichen 1) Ausführlicher dargestellt sind diese Verhältnisse in meinem Lehrbuch der Ent- wicklungsgeschichte (10. Auflage), Kapitel 4: „Allgemeine Besprechung der Entwicklungs- prinzipien“. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 12 78 Viertes Kapitel. Muskulatur der Eingeweide. Die ersteren üben bei ihrer Kontraktion Zugwirkungen auf die Nachbargewebe aus und veranlassen die am Muskelende sich ansetzenden Bindegewebsfasern, daß sie sich bei ihrer weiteren Entwicklung zu Sehnen formen. Durch ihre Ver- mittlung aber rufen sie wieder durch Zug Reaktionen an der Knochen- substanz, Bildung von Spinae, Cristae, Tubercula etc. hervor. So ent- wickelt sich auch die Gestaltung des ganzen Knochensystems in vielfacher Hinsicht unter den direkten mechanischen Einwirkungen der Muskeln, welche durch Ursprung und Insertion zu ihm in Be- ziehung treten. Muskulöse Hohlorgane passen sich in der Dicke ihrer Wand durch Hypertrophie ihrer glatten Muskelfasern den Widerständen an, die durch Kontraktion zu überwinden sind, wie aus Ermitt- lungen der pathologischen Anatomen und aus den Experimenten klar hervorgeht. So verdickt sich die Wand der Harnblase, besonders in ihrer Muskelschicht, infolge von Prostatahypertrophie und anderen die Harnentleerung erschwerenden Zuständen; so entwickelt sich eine Hypertrophie der linken oder rechten Herzkammer, je nachdem größere Stromhindernisse zu bewältigen sind, welche entweder durch Klappenfehler oder durch Erkrankungen der Arterienwand hervor- gerufen sind. In überraschend feiner Weise sind die Gefäßwände sowohl nach ihrer feineren Struktur als nach ihrer Wandstärke den an sie gestellten mechanischen Leistungen bei wechselnder Füllung und bei verschiedenem Druck ihres Inhalts angepaßt. Man kann geradezu sagen, daß der Blutstrom die Weite seiner Kanäle und die wechselnde Dicke seiner Wandungen in den einzelnen Abschnitten seines Laufes selbst modelliert. Wie THOMAin seiner Histomechanik des Gefäßsystems zusammenfassend bemerkt hat, „führt Strombeschleu- nigung zu einer Erweiterung, dagegen Stromverlangsamung zu einer Verengerung der Gefäßlichtung“. Ferner ist „das Dickenwachstum der Gefäßwand von der Wandspannung, diese von dem Blutdruck und dem Gefäßdurchmesser abhängig“. Fünftes Kapitel. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. Die Stufenfolge in der Entwicklung. — Der Parallelismus zwischen den Ergebnissen ontogenetischer und vergleichend-anatomischer Forschung. Ausgebildete Organismen, die einen nur irgendwie kompli- zierteren Bau auf weisen, entwickeln sich niemals auf direktem Wege aus dem Haufen der Embryonalzellen, der durch Teilung des Eies entstanden ist. Der Prozeß, den man jetzt mit dem Worte „Ent- wicklung“ versteht, setzt sich vielmehr aus einer bald mehr, bald minder langen Reihe von Formveränderungen oder von Meta- morphosen zusammen, von denen die früher eintretende die Vor- bedingung der nächstfolgenden ist, also zu ihr im logischen Ver- hältnis von Grund und Folge steht. Gewöhnlich nimmt hierbei das Entwicklungsprodukt mit jedem Schritt eine immer kompli- ziertere Form an; insofern verbindet man mit dem Begriff der Entwicklung oft. unwillkürlich die Vorstellung eines nach einem vollkommneren Ziel gerichteten, fortschreitenden oder progressiven Prozesses. Nur darf hierbei nicht übersehen werden, daß dies keineswegs stets und notwendigerweise der Fall sein muß. Zu- weilen schlägt progressive Entwicklung nach einiger Zeit ganz oder teilweise auch in ihr Gegenteil um und wird zu einer regressiven, wie bei parasitischen Organismen bekanntlich häufig beobachtet wird. Noch viel häufiger aber sind Fortschritte in der Entwicklung mit teilweiser Rückbildung von Einrichtungen vorausgegangener Stadien verbunden. So erfolgt bei den Säugetieren die Entstehung der knöchernen Wirbelsäule mit einer teilweisen Zerstörung der Chorda und der knorpeligen Wirbelkörper. Ebenso geht die Aus- bildung ihrer bleibenden Niere mit der Verkümmerung der Vor- niere und Urniere Hand in Hand. Wenn ihr Blutkreislauf sich in einen großen und kleinen sondert und ihr Herz sich dabei in eine linke und eine rechte Abteilung verdoppelt, werden gleichzeitig wichtige, embryonale Blutgefäße des Schlundbogensystems ob- literiert. 12 i8o Fünftes Kapitel. Für den, der in die Gesetzmäßigkeiten bei der Stufenfolge der Entwicklungsprozesse einen Einblick gewinnen will, empfehlen sich besonders die verschiedenen Klassen der Wirbeltiere, da ihre Organisation viel mehr zusammengesetzt ist und einen weit höheren Grad der Vollkommenheit als bei den Pflanzen und bei den meisten Wirbellosen erreicht. Daher ist es wohl natürlich, daß sie uns in den folgenden Erörterungen vorzugsweise beschäftigen werden. 1. Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. Wer mit den Grundzügen der Wirbeltierentwicklung bekannt ist, weiß, wie aus der Maulbeerkugel die Keimblase und aus dieser wieder die Becherlarve hervorgeht, wie diese sich dann weiter da- durch gliedert, daß sie ein mittleres Keimblatt und die Anlagen des Nervensystems und des Achsenskeletts durch Sonderungsvor- gänge aus den beiden primären Keimblättern hervorbringt. Indem sich hierauf der Embryo mehr in die Länge streckt, ein Kopf- und Schwanzende unterscheiden läßt und sich zu beiden Seiten des Nervenrohrs im Bereich des mittleren Keimblatts in die Rumpf- segmente sondert, deren Zahl sich am hinteren Ende langsam und kontinuierlich vermehrt, gewinnt er erst allmählich die für den Typus der Wirbeltiere charakteristische Form. So bildet sich’ in der Stufenfolge der Metamorphosen, wie schon Carl Ernst v. Baer es in dem nach ihm benannten Gesetz in eine Formel gefaßt hat, „aus dem Allgemeinsten der Form- verhältnisse das weniger Allgemeine, und so fort, bis endlich das Speziellste eintritt“. Dasselbe Gesetz wiederholt sich auch in der Entwicklung der zusammengesetzteren Organe, von denen keines gleich in seiner definitiven Gestalt und Einrichtung aus den noch undifferenzierten Zellen des Embryo hervorgeht. Besonders das Achsen- und Kopf- skelett, die Harnorgane, das Gefäßsystem sind Musterbeispiele von einer Stufenfolge verschiedenartiger, einander ablösender ontogene- tischer Formzustände, Was zunächst das Achsen- und das Kopfsk eie tt betrifft, so unterscheidet man in ihrer Entwicklung bei dem Menschen und den Säugetieren drei Formstadien, die in ihrer histologischen Struktur und vielen anderen Merkmalen voneinander sehr erheblich abweichen. Man bezeichnet sie als das häutige, das knorpelige und das knöcherne Stadium der Wirbelsäule und des Kopfskeletts. Die häutige Wirbelsäule besteht aus weicheren Geweben, die nur ge- ringen Ansprüchen an ein stützendes Organ genügen können. Die Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. Chorda setzt sich aus prall gespannten blasigen, durch eine festere Scheide zu einem Stab vereinten Zellen zusammen, wie wir sie hier und da in den Tentakeln der Medusen und einiger Würmer ebenfalls eine stützende Funktion ausüben sehen. Die häutige wandelt sich dann allmählich in eine knorpelige Wirbelsäule durch eine einfache gewebliche Metamorphose um; das gallert-faserige Bindegewebe in der Umgebung von Chorda und Nervenrohr (das skeletogene Gewebe) differenziert sich zu einem festeren Hyalin- knorpel. Im Zusammenhang hiermit wird die Wirbelsäule zugleich eine gegliederte ; sie baut sich jetzt aus Wirbelkörpern und Bögen, aus sie verbindenden Zwischenwirbelscheiben und Ligamenta inter- cruralia auf. In dieser Weise genügt sie nicht nur höheren An- sprüchen an Festigkeit, sondern verbindet mit ihr auch noch einen gewissen Grad von Biegsamkeit. Die Verknöcherung der knorpe- ligen Wirbelsäule führt dann durch Übergänge allmählich das dritte definitive Stadium herbei. — Ähnliches wiederholt sich bei der Entwicklung des Kopfskeletts. Ehe die knöcherne Schädelkapsel sich ausbilden kann , muß ihr ein häutiges und ein knorpeliges Primordialcranium vorangegangen sein. Unser zweites Beispiel, die Entwicklung des Nierensystems, macht uns ebenfalls bei den Reptilien, Vögeln und Säugetieren mit drei aufeinander folgenden Stadien bekannt. Sie heißen: die Vorniere, die Urniere und die bleibende Niere (Pro- Meso- und Metanephros). Die Vorniere verwandelt sich sehr frühzeitig zu einem rudimentären Organ und wird durch ein zweites, an ihre Stelle tretendes Harnorgan, die Urniere, ersetzt. Doch auch diese ist nicht von Dauer; noch während sie als voluminöses Organ beim Embryo funktioniert, legt sich neben ihr die bleibende Niere (Metanephros) an und ersetzt sie schließlich vollständig in ihrer Funktion, während die Urniere sich teils allmählich zurückbildet, teils in rudimentärer Gestalt eine andere Aufgabe als Ausführ- weg für die Hoden übernimmt. Das dritte Beispiel, das gekammerte Herz der höheren Wirbel- tiere mit seinem doppelten Kreislauf ist bei ihren Embryonen zu- erst ein einfacher, unterhalb des Schlundarmes gelegener gerader Schlauch. Zu dieser Zeit ist auch der Blutkreislauf noch ein ein- facher und zeigt die für diesen ursprünglichen Zustand charakte- ristische Anordnung der großen Gefäßstämme, einen Truncus arteriosus mit den bekannten Aortenbögen. Dann erfolgt die Meta- morphose. In ursächlichem Zusammenhang mit der Ausbildung der Lungen zum Atmungsorgan sondert sich ein kleiner Lungen- I 82 Fünftes Kapitel. von einem großen Körperkreislauf ab. Der einfache Herzschlauch wird durch Bildung von Scheidewänden in eine linke und in eine rechte Kammer mit ihren Vorhöfen getrennt. Dies hat dann wieder eine große Umgestaltung in der Anordnung der großen Blutgefäße zur Folge. Zu einer Quelle noch tieferer Erkenntnis, welche uns auch einen Einblick in die ursächlichen Zusammenhänge vieler Entwick- lungsvorgänge ermöglicht, wird uns die ontogenetische Metamor- phosenlehre, wenn sie zugleich als vergleichende Wissenschaft ge- trieben wird. Ist doch die vergleichende Entwicklungslehre, wie schon C. E. V. Baer so schön und treffend bemerkt hat, „der wahre Lichtträger für Untersuchungen über organische Körper“. Durch sie erfahren wir, daß nicht nur die ersten aus dem befruch- teten Ei entstehenden Embryonalformen (Morula, Blastula, Gastrula etc.), sondern ebenso auch fast alle einzelnen Organe ohne Aus- nahme in einer prinzipiell sehr ähnlichen Weise in allen Klassen und Ordnungen der Vertebraten angelegt werden und sich daher als Ausdruck eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes auf- fassen lassen. Dann enthüllen sich uns die Unterschiede, die zwischen vergleichbaren Stadien in einzelnen Abteilungen hervortreten, als verschiedenartige Modifikationen einer Grundform , aus der sie sich aus Ursachen, die oft deutlich erkennbar sind, hervorgebildet haben. So können wir, ausgerüstet mit den Hilfsmitteln der vergleichen- den Methode, um nur ein wichtiges Beispiel aus dem Stamm der Wirbeltiere anzuführen, die verschiedenen Arten des Furchungs- prozesses und die sich ihm anschließenden, gleichfalls verschiedenen Arten der Maulbeerkugel, der Keimblase, der Gastrula und der Keimblattbildung als Variationen von einem einfacheren Grund- typus ableiten, wie wir ihn am schönsten im Ei des Amphioxus vertreten sehen. Auch die Ursache, welche die Variationen in den Entwicklungsstadien hervorgerufen hat, wird uns in der ungleichen Ausstattung der Eier mit Dottermaterial und in der Art seiner Verteilung im Ei des Amphioxus, der Amphibien, der Fische, Reptilien, Vögel und Säugetiere leicht begreiflich. (Eine genaue Darstellung und Begründung im einzelnen geben meine Elemente der Entwicklungslehre, 6. Aufl., in den Kap. III, V — VII.) Noch ungleich mehr aber dringt der Blick des biologischen Forschers in die Tiefe, wenn er außer der vergleichenden Ent- wicklungslehre zugleich auch die vergleichende Anatomie zu Rate zieht und die unübersehbare Fülle ihrer systematisch geordneten Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. 83 Ergebnisse als Mittel für tiefere Erkenntnis verwertet. Wir lernen dann, daß vorübergehende Formzustände, welche die höheren Wirbel- tiere während ihrer Entwicklung rasch durchlaufen, eine gewisse und zuweilen recht auffällige Ähnlichkeit mit Gestaltungen haben, welche Vertreter von systematisch tiefer stehenden Tierklassen uns dauernd darbieten. Es gilt dies sowohl von den Embryonen im ganzen betrachtet, als auch, und zwTar in noch viel höherem Grade, von den Embryonalstadien vieler einzelner Organe. Einige Beispiele werden das wichtige Verhältnis, aus dem sich weittragende Folgerungen ziehen lassen, deutlich machen. Wenn man die Embryonen der landbewohnenden Reptilien, Vögel und Säugetiere im ganzen betrachtet, so gleichen sie in manchen Be- ziehungen ganz auffällig den wasserbewohnenden Fischen in ihrem ausgewachsenen Zustand. Sie entwickeln zu beiden Seiten des Halses vier Paar Schlund- spalten (Fig. 20) und Schlundbögen und in diesen Skeletteile, die bei vergleichend-anatomischer Untersuchung dem Visceralskelett der Fische (Fig. 21) homolog sind. Die Übereinstimmung wird noch durch ein anderes äußerliches Merkmal erhöht, durch die ursprüngliche Gleichartigkeit in der Form der vorderen und der hinteren Extremitäten. Bei den land- bewohnenden Wirbeltieren sind die Gliedmaßen im erwachsenen Zustand vom Rumpf weit abstehende, stabartige Fortsäze, die in mehrere wie Hebel gegeneinander bewegliche Abschnitte: Ober-, Unterarm und Hand gegliedert sind. Sie werden daher auch einem mehrarmigen Hebelwerk verglichen. Nach Form und Gebrauchs- weise sind sie daher von den Lokomotionsorganen der Fische, den zwei Paar Flossen, sehr verschieden. Gleichwohl werden sie bei Menschen und Säugetieren zuerst als zwei breite, ungegliederte, flossenartige Platten angelegt und entwickeln sich erst von diesem mehr fischartigen Ausgangsstadium durch eine Reihe von Meta- morphosen zu ihrer späteren Form. In entsprechender Weise lassen sich bei sehr zahlreichen Or- ganen überraschende Übereinstimmungen zusammenstellen, die zwischen ihren ersten Entwicklungsstadien bei den höheren Wirbel- tieren und ihrer definitiven Form bei Vertretern von den syste- matisch tiefer stehenden Abteilungen bestehen. Ich verweise auf die früher erwähnten Beispiele, an welchen die Stufenfolge mehrerer Entwicklungsstadien beschrieben wurde: auf das Achsen- und Kopfskelett, sowie auf das Herz mit den Blutgefäßen etc. (S. 180 bis 182). Das Stadium der häutigen Wirbelsäule, welches sich nur i84 Fünftes Kapitel. bei ganz jungen Embryonen der Säugetiere etc. vorübergehend beobachten läßt und später durch vollkommenere, zur Stütze des Körpers besser geeignete Einrichtungen zum Teil verdrängt wird, findet sich beim Amphioxus und den Cyclostomen als definitives Skelett und ist dann dementsprechend auch größer und kräftiger Fig. 20. Vorderrumpf eines menschlichen Embryo von 4,2 mm Länge, 3omai vergr. Von der Seite gesehen. Durch teilweise Entfernung der vorderen Brust- wand ist der Herzschlauch sichtbar Nach His. H Hörbläschen, 1 — ^ erster bis vierter Schlundbogen, spl — sp4 erste bis vierte Schlundspalte. Fig. 21. Die untere Hälfte vom Kopf eines erwachsenen Haifisches nach Entfernung der oberen Hälfte durch einen Frontalschnitt. Die Figur gibt eine Ansicht der 5 Kiemenspalten mit ihren Mündungen in die Mundrachenhöhle und auf der äußeren Haut. Innere und äußere Kiemenspalten. Linkerseits sieht man die Quer- schnitte der Kiemenbögen und die rotgefärbten Kiemenblättchen, die von der vorderen und hinteren Wand der Tasche entspringen. Nach R. Hertwig. Pq Palatoquadratum, a vordere Befestigung am Schädel, uh Unterkiefer, m Mund, is innere Kiemenspalten, as äußere Kiemenspalten, h Hautbrücken, b Kiemenbögen, blx und bl 2 vordere und hintere Kiemenblättchen, z Zunge, o Oesophagus. und in der Art ausgebildet, daß es wirklich als Stütze im Einklang zu dem Ausbildungszustand aller übrigen Organe funktionieren kann. Das gleiche wiederholt sich mit dem zweiten, von uns früher unterschiedenen knorpeligen Entwicklungsstadium des Achsen- skeletts. Während die knorpelige Wirbelsäule, nachdem sie sich aus der häutigen entwickelt hat, bei den Säugetierembryonen schon früh durch die knöcherne ersetzt wird, bleibt sie als solche bei den Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. Selachiern zeitlebens bestehen. Ihre knorpeligen Wirbelkörper und Bögen erlangen hier eine viel größere Mächtigkeit und Festigkeit als die ihnen vergleichbaren , aber nur provisorisch angelegten Skeletteile bei den kleinen, noch aus zarten Geweben zusammen- gesetzten Säugetierembryonen. Die Selachier werden daher auch als Knorpelfische bezeichnet. Denn wie bei der Wirbelsäule, so überschreitet der Ausbildungsgrad auch bei anderen Teilen ihres inneren Skeletts niemals das knorpelige Stadium bei vollkommen funktioneller Leistungsfähigkeit. Sie sind daher für den ver- gleichenden Anatomen eine sehr wichtige Gruppe für alle Fragen, welche die vergleichende Untersuchung des Skeletts der Wirbel- tiere im knorpeligen Zustand betreffen. Von dieser richtigen Er- kenntnis durchdrungen, hat Carl Gegenbaur in seiner berühmten Monographie das Kopfskelett der Selachier zur Grundlage für die Erkenntnis der Genese des Kopfskeletts der Wirbeltiere gemacht. Repräsentiert doch ihre knorpelige Schädelkapsel (Fig. 26) als wirklich funktionierendes Dauerstadium Verhältnisse, die sich zwar in ähnlicher Weise bei den Embryonen der höheren Wirbeltiere in ihrem knorpeligen Primordialcranium wieder erkennen lassen (Fig. 25), aber nur von vergänglicher Natur sind und nur eine vor- übergehende Bedeutung als Vorstadium für die Entwicklung des definitiven knöchernen Kopfskeletts besitzen. Noch mehr tritt der Wert der vergleichenden Anatomie bei der Beurteilung des ursprünglich einfachen Herzens und des ein- fachen Kreislaufs bei den Embryonen der landbewohnenden Wirbel- tiere hervor. Was bei diesen ein vergängliches und vorbereitendes Stadium ist, bleibt bei den Cyclostomen und Fischen, wie uns die vergleichende Anatomie lehrt, wieder als eine Dauereinrichtung erhalten und ist hier den ihr obliegenden funktionellen Aufgaben vollkommen angepaßt. Sie steht bei ihnen in leicht erkennbarer Weise mit der Kiemenatmung in ursächlichem Zusammenhang. Denn der aus der einfachen Herzkammer entspringende Truncus arteriosus (Fig. 22 abr und 23) gibt nach links und rechts an jeden Schlundbogen ein ihm entlang laufendes Schlundbogengefäß ab. Dieses dient dazu, die zahlreichen Kiemenblättchen, die sich aus der Schleimhaut zu beiden Seiten der Kiemenspalten entwickelt haben (Fig. 21 und 23 &e), auf das reichlichste mit Blut zu ver- sorgen. Es löst sich daher bald nach seinem Ursprung in zahl- reiche, feine Zweige (Fig. 23 ke) auf, die zu den Kiemenblättchen treten und sich an ihrer Oberfläche in einem dichten Kapillarnetz ausbreiten. Jedes Schlundbogengefäß sondert sich infolgedessen i86 Fünftes Kapitel. in einen ventralen Abschnitt, die Kiemenarterie (ka), welche sich in das Kapillarnetz der Kiemenblätter ( kc ) auflöst, und in einen dorsalen Abschnitt, die Kiemenvene (kv), welche das arteriell ge- wordene Blut sammelt. Auf diese Weise befindet sich der Blut- strom bald nach seinem Austritt aus dem Herzen unter den ge- Fig. 22. c' ad Fig. 22. Kopf eines Knochenfisch- embryos mit der Anlage des Gefäß- systems (aus Gegenbaur). de Ductus Cuvieri, sv Sinus venosus, a Vorhof, v Kammer dts Herzens, abr aufsteigende Kiemenarterie (Trun- cus arteriosus) mit davon abgehenden Schlund- bogengefäßen, ad absteigende Aorta, cl Carotis, s Kiemenspalten, n Nasengrube, A Auge. Fig. 23 Schema für den Blutkreis- lauf der Fische nach Richard Hertwig. a1 In Verlängerung des Truncus arteriosus aufsteigender Arterienstamm mit den Kiemen- arterien (ka), welche den ventralen Abschnitten der 5 Schlundbogengefäße (Aortenbögen) von Fig. 22 entspiechen. kv Die Kiemenvenen, die den dorsalen Abschnitten der 5 Schlund- bogengefäße (Fig. 22) entsprechen und sich wie diese zur absteigenden Aorta o2 ver- einigen. Zwischen Kiemenarterien (ka) und Kiemenvenen (kv) ist das Kiemenkapillarnetz (kc) für den Kiemenkreislauf dazwischen ge- schaltet. h Herzvorkammer, k Herzkammer, vj Vena jugularis, w Vena cardinalis, vhVe na hepatica (Cava inferior), da Darmarterien, dv Darmvenen, de Darmkapillaren, sc Körper- kapillaren, le Leberkapillaren. Fig. 23. eigneten Bedingungen, unter denen ein respiratorischer Gasaus- tausch swischen dem Blut und dem durch die Kiemenspalten hin- durchströmenden Wasser stattfinden kann. Hierauf wird das mit Sauerstoff versorgte Blut aus den Kiemenblättchen durch die Kiemen- venen (kv) zu der Aorta descendens (a2) übergeleitet und von dieser weiter im Körper verteilt. Einfaches Herz mit Schlundbogengefäßen, Kiemenspalten und Kiemenblättchen mit ihrem respiratorischen Netzwerk, einfacher Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. 87 Kreislauf etc. bilden ein System von Teilen, die in ihrer Funktion zusammengehören. Sie stellen ohne Frage eine Einrichtung dar, die für das Wasserleben und für die Kiemenatmung berechnet ist. Auch bei den Embryonen der landbewohnenden Wirbeltiere ist der anatomische Grundplan aller Organe, die mit der Kiematmung bei den Fischen in irgendeinem Zusammenhang stehen, ursprünglich der gleiche. Denn zur Zeit, wo bei ihnen Schlundspalten und Schlund- bögen angelegt werden, bilden sich auch aus dem Truncus arteriosus, den das Herz nach dem Kopf aussendet, fünf Paar von Schlundbogen- gefäßen, die zwischen den Schlundspalten (Fig. 24) von der ventralen nach der dorsalen Halsgegend ziehen. Sie werden auch als Aorten- bögen bei den höheren Wirbeltierembryonen benannt, da sie sich dorsalwärts zu den primitiven Aorten untereinander vereinigen. Bei ihnen vollzieht aber das den Einrichtungen der Cyclostomen und Fische homologe System von Teilen niemals die dort von ihnen aus- ausgeübte Funktion. Kiemenblättchen mit einem respiratorischen Gefäßnetz kommen ja zu keiner Zeit an der Schleimhaut ihrer Schlundspalten zur Entwicklung. Auch diese selbst beginnen, kaum daß sie eben angelegt worden sind, schon wieder zu verschwinden. Ihre gegenüberliegenden Epithelflächen verwachsen untereinander und werden später bis auf Reste, aus denen sich die Thymus und die verschiedenen Epithelkörperchen herleiten, vollkommen rück gebildet. Ebenso schwindet eine Hautfalte am Hals der Embryonen, die als Kiemendeckelfalte dem wirklichen Kiemendeckel vergleichbar ist. Auch die meisten Schlundbogen gefäße, die niemals wegen des Fehlens der Kiemenblättchen an der Respiration beteiligt gewesen sind, ver- kümmern; nur einige von ihnen, welche vom Truncus arteriosus das Blut direkt zur Aorta und zur Lunge weiterleiten, entwickeln sich zu den bleibenden großen Stämmen, die aus den beiden Herzkammern ihren Ursprung nehmen, nämlich zum Arcus aortae und zur Arteria pulmonalis. Obgleich ursprünglich bei den höheren Wirbeltieren (Fig. 24) Herz und Blutgefäße embryonal so angelegt werden, wie bei den Fischen (Fig. 22), dienen sie doch niemals bei ihnen einem Kiemen- kreislauf, sondern werden im Laufe der weiteren Entwicklung für die ganz veränderten Erfordernisse des Lungenkreislaufs verwandt und dementsprechend durch eingreifende Metamorphosen Hand in Hand mit der Anlage der Lungen umgestaltet. Vom allgemeinen Körper- kreislauf sondert sich ein besonderer Abschnitt als der Lungenkreislauf ab. Im Zusammenhang hiermit wird das Herz durch eine Bildung von Scheidewänden in eine linke und eine rechte Hälfte geschieden. 88 Fünftes Kapitel. Ferner werden von den fünf Paar Aortenbögen die letzten zum Anfangsteil der Aorta und zur Arteria pulmonalis unter teilweiser Rückbildung der übrigen umgewandelt. In dieser Weise lassen sich auf Schritt und Tritt unzählige Über- einstimmungen zwischen den Ergebnissen der vergleichenden Ana- tomie und Embryologie nachweisen und Erkenntnisse gewinnen, welche auf die einander folgenden Entwicklungs- stadien der verschieden- sten Organe Lieh t werfen . Bei den vorausge- gangenen Betrachtun gen Al haben wir uns auf den Stamm der Wirbeltiere beschränkt ; indessen führen vergleichende Anatomie und Entwick- lungsgeschichte den For- scher bei konsequenter Handhabung noch über den Kreis der Wirbel- Fig. 24. Menschlicher Embryo durchsichtig tiere hinaus und lassen gedacht mit erö ff netem Herzbeutel ; Vorderkörper von der ., . c , rechten Seite gesehen mit dem Hörbläschen H , dem beim otudium des Truncus arteriosus ( Tr ), den 5 Aorten- oder Schlundbögen cresamten Tierreichs in A1 bis A5, der Aorta descendens dextra Ad und den & , ,7. , ... primitiven Jugularvenen Vj und den Kardinalvenen Vc. grundlegenden Vernait- Nach Hls und Kollmann. nissen der Organisation gesetzmäßige Bezieh- ungen auch zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen erkennen. Ich ver- weise hier auf das allen Wirbeltieren gemeinsame Stadium der Becher- larve, der Gastrula Es ist bekannt, daß diese wichtige, durch Umwand- lung der Keimblase entstehende ontogenetische Form, in dieser oder jener Weise abgeändert, auch in den verschiedenen Stämmen der Wirbellosen während ihrer Entwicklung auftritt. Eine Gastrula, welche mit dem gleichnamigen Stadium des Amphioxus zum Verwechseln ähnlich ist, läßt sich bei Vertretern der Cölenteraten, der Würmer (Sagitta), der Brachiopoden, der Tunicaten etc. beobachten. Was aber noch wichtiger ist, unter den Wirbellosen macht uns die ver- gleichende Anatomie mit einzelnen Tierarten bekannt, die sich über das Gastrulastadium hinaus gar nicht weiter entwickelt haben und so- mit auch im ausgebildeten Zustand noch einen Becher bilden. Hier- her gehören die Hydroidpolypen, und wenn wir von einigen neben- Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihe etc. jgg sächlichen Modifikationen absehen, die Korallentiere, die Actinien etc. Sie stellen ja auch im vollkommen erwachsenen Zustand weiter nichts als einfache Schläuche dar; als solche werden sie aus zwei Zell- blättern, die dem äußeren und inneren Keimblatt der embryonalen Gastrula homolog sind, aufgebaut und sind ausgestattet mit einem einzigen zentralen Hohlraum, dem Urdarm, der nur am Kopfende eine einzige nach außen führende Öffnung als Urmund besitzt. Wenn dieser in den genannten Gruppen der Cölenteraten noch von Fang- fäden, Tentakeln, bald in kleinerer, bald in größerer Zahl umgeben wird, so liegen hierin zwar Unterschiede gegenüber den am Beginn der Entwicklung im Tierreich beobachteten Gastrulae vor, aber doch von so geringfügiger Art, daß sie die formale, hochgradige Überein- stimmung keineswegs verdecken. Der Erwerb von Tentakeln bei den niederen Tieren, die sich als Dauergastrulae oder Gasträaden, wie sie Haeckel genannt hat, bezeichnen lassen, ist in physiologischer Hinsicht auch leicht verständlich. Dienen sie doch als einfachste Greifarme, mit denen Nahrungsteile, wie kleine Pflanzen und Tiere, erfaßt und durch ihre Verkürzung in den Urmund hineingezogen werden. 2. Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen durch die Rekapitulationstheorie von Meckel und durch Haeckels biogenetisches Grundgesetz. Auf derartige Verhältnisse, wie sie hier an einigen Beispielen ver- anschaulicht worden sind, waren die Anatomen schon sehr frühzeitig aufmerksam geworden, als sich zur vergleichend-anatomischen auch die entwicklungsgeschichtliche Forschung noch hinzugesellte. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß philosophische Köpfe durch sie zum tieferen Nachdenken und infolgedessen zu Spekulationen an- geregt wurden, durch welche die beobachtete Übereinstimmung in der Organisation erklärt werden sollte. Schon der berühmte Anatom Meckel stellte 1 8 1 1 den Grund- satz auf, daß das höhere Tier in seiner Entwicklung die unter ihm stehenden, einfacher gebauten Formen der Tierreihe durchlaufe. Er begründete so die Lehre von der Parallele zwischen der Entwick- lung des Embryos der höheren Tiere und der Entwicklung der Tier- reihe, oder wie Carl Ernst v. Baer sie nannte, die Lehre von der Parallele zwischen der „individuellen Metamorphose“ und der „Metamorphose des Tierreichs“. Unter der Herrschaft der Oken- schen Naturphilosophie waren derartige Anschauungen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Gelehrten weit weit verbreitet. Fünftes Kapitel. igo „Wenige Darstellungen von Verhältnissen in der organischen Welt haben“ — bemerkt Carl E. V. Baer als gewiß zuverlässiger Gewährs- mann — „so viel Beifall gefunden als sie.“ „Diese Idee, lebendig ge- worden zu einer Zeit, wo außer von Malpighi und WOLFF noch keine zusammenhängenden Untersuchungen über die früheren Perioden der Entwicklungsgeschichte irgendeines Tieres angestellt waren und vorzüglich durchgeführt von einem Manne, der über die Entwick- lungsgeschichte der höheren Organismen wohl die meisten Kennt- nisse besaß, konnte nicht umhin, große Teilnahme zu erregen, da sie von einer Menge spezieller Beweise unterstützt wurde. Sie gewann noch mehr Gewicht, da sie sich fruchtbar bewies, indem eine Reihe Mißbildungen verständlich wurden, wenn man sie als Folge eines partiellen Stehenbleibens der Entwicklung auf früheren Bildungsstufen betrachtete. Kein Wunder also, daß sie mit Wärme aufgenommen und schärfer durchgeführt wurde.“ V. Baer selbst hat sich auf Grund seiner embryologischen Studien mit Entschiedenheit gegen diese Lehre ausgesprochen. Daß sie vorübergehend in den Hintergrund trat und aus der wissen- schaftlichen Diskussion verschwand, ist wohl seinem Einfluß und dem Mißkredit, in welchen die Naturphilosophie aus mannigfachen Gründen fiel, zuzuschreiben. Ein neues Leben gewann die An- sicht Meckels indessen bald wieder mit dem siegreichen Fort- schreiten der DARWiNschen Lehre, namentlich in Deutschland. In einem geistvollen, von. Fritz Müller verfaßten Schriftchen : „Für Darwin“ wurde sie weiter ausgebaut; namentlich aber erhielt sie ihre wissenschaftliche Begründung und eine schärfere Formulierung durch Ernst Haeckel in seiner „Generellen Morphologie“ und in zahlreichen anderen, zum Teil auch populären Schriften J). Haeckel gab der von ihm weiter ausgebauten MECKELschen Lehre den jetzt weit bekannten Namen „das biogenetische Grundgesetz“ und faßte es in die kurze Formel zusammen: „Die Ontogenie ist eine Rekapitulation der Phylogenie“, oder etwas ausführlicher: „Die Formenreihe, welche der individuelle Organismus während seiner Entwicklung von der Eizelle bis zu seinem aus- 1) Meckel, F., Entwurf einer Darstellung der zwischen dem Embryozustande der höheren Tiere und dem 'permanenten der niederen stattfindenden Parallele. Beiträge zur vergleich. Anatomie, Bd. II, Leipzig 1811. — Derselbe , System der vergleich. Anatomie, Bd. I, Halle 1821. — v. Baer , Karl Ernst, Über Entwicklungsgeschichte der Tiere. Beobachtung und Reflexion, 1828. — Müller , Fritz, Für Darwin. Leipzig I864. — Haeckel, E., Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. 4. Aufl., 1891. — Gegenbaur, K., Ontogenie und Anatomie in ihren Wechsel- beziehungen betrachtet. Morph. Jalirb., Bd. 15, 1889. — Keibel, F., Das biogene- tische Grundgesetz und die Cenogenese. Meckel- Bonnet , Ergebnisse, Bd. 7, 1898. Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen etc. jgi gebildeten Zustande durchläuft, ist eine kurze, gedrängte Wieder- holung der langen Formenreihe, welche die tierischen Vorfahren desselben Organismus oder die Stammformen seiner Art von den ältesten Zeiten der sogenannten organischen Schöpfung an bis auf die Gegenwart durchlaufen haben.“ Bei der genaueren Ausarbeitung seiner Theorie läßt Haeckel den Parallelismus zwischen beiden Entwicklungsreihen „etwas ver- wischt sein, und zwar dadurch, daß meistens in der ontogenetischen Entwicklungsfolge vieles fehlt und verloren gegangen ist, was in der phyletischen Entwicklungskette früher existiert und wirklich gelebt hat“. Denn, „wenn der Parallelismus beider Reihen“, fügt er dem Obigen hinzu, „vollständig wäre, und wenn dieses große Grundgesetz von dem Kausalnexus der Ontogenese und Phylo- genese im eigentlichen Sinne des Wortes volle und unbedingte Geltung hätte, so würden wir bloß mit Hilfe des Mikroskops und des anatomischen Messers die Formenreihe festzustellen haben, welche das befruchtete Ei des Menschen bis zu seiner vollkommenen Ausbildung durchläuft; wir würden dadurch sofort uns ein voll- ständiges Bild von der merkwürdigen Formenreihe verschaffen, welche die tierischen Vorfahren des Menschengeschlechts von An- beginn der organischen Schöpfung an bis zum ersten Auftreten des Menschen durchlaufen haben. Jede Wiederholung der Stammes- geschichte durch die Keimesgeschichte ist eben nur in seltenen Fällen ganz vollständig und entspricht nur selten der ganzen Buch- stabenreihe de*s Alphabets. In den allermeisten Fällen ist vielmehr dieser Auszug sehr unvollständig, vielfach verändert, gestört oder gefälscht. Wir sind daher meistens nicht imstande, alle verschiedenen Formzustände, welche die Vorfahren jedes Organismus durchlaufen haben, unmittelbar durch die Ontogenie im einzelnen festzustellen ; vielmehr stoßen wir gewöhnlich auf mannigfache Lücken.“ Haeckel unterscheidet daher in der Entwicklung zwei ver- schiedene Arten von Prozessen: ,,i) die palingenetischen und 2) die cenogenetischen. Die ersteren sind geschichtliche Wiederholungen oder solche Erscheinungen in der individuellen Entwicklungs- geschichte, welche durch die konservative Vererbung getreu von Generation zu Generation übertragen werden, und welche demnach einen unmittelbaren Rückschluß auf entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der entwickelten Vorfahren gestatten.“ „Ceno- genetische Prozesse hingegen oder keimesgeschichtliche Störungen“ nennt Haeckel „alle jene Vorgänge in der Keimesgeschichte, welche nicht auf solche Vererbung von uralten Stammformen zurückführ- 192 Fünftes Kapitel. bar, vielmehr erst später durch Anpassung der Keime oder der Jugendformen an bestimmte Bedingungen der Keimesentwicklung hinzugekommen sind. Diese cenogenetischen Erscheinungen sind fremde Zutaten, welche durchaus keinen unmittelbaren Schluß auf entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der Ahnen- reihe erlauben, vielmehr die Erkenntnis der letzteren .geradezu fälschen und verdecken.“ Da das biogenetische Grundgesetz die embryonalen Stadien als eine Art von Wiederholung von Vorfahrenformen erklärt, wird es in der biologischen Literatur zuweilen als die ,,Rekapitu- lationstheorie“ bezeichnet. Als solche ist es in der von Haeckel gegebenen Fassung zu einem Grundpfeiler der Darwinistischen Morphologie geworden und hat in sehr eingreifender Weise die Denkart der vergleichenden Embryologen und Anatomen sowie die Deutung ihrer Forschungsergebnisse beeinflußt. Mit Recht habe ich mich daher in meinen Elementen der Entwicklungslehre wohl dahin aussprechen können, daß die biologische Literatur während 50 Jahren unter dem Banne dieser Vorst eilungsweise ge- standen hat. Noch größere Wirkungen aber hat die Lehre vom biogenetischen Grundgesetz außerhalb des engeren Kreises der Ver- treter der Wissenschaft auf ein lernbegieriges, nach moderner Auf- klärung verlangendes Laienpublikum ausgeübt. Durch weitver- breitete populäre Darstellungen ist in ihm ein Glaube wachgerufen worden, daß der Naturforscher mit dem Instrument des biogenetischen Grundgesetzes die wirklichen Abstammungsverhältnisse und die Verwandtschaften der Organismen feststellen und überhaupt ein helles Licht in das Dunkel des Werdeprozesses der Organismen hinein werfen könne ! Ruht dieser Glaube auf einer von seiten einer vorurteilslosen Wissenschaft wirklich unanfechtbaren Basis? Ist er berechtigt oder trägt er die Keime seines Untergangs schon in sich ? 3. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. Vor einer Reihe von Jahren habe ich der eben besprochenen, landläufigen Meinung gegenüber in meiner Allgemeinen Biologie und in mehreren kleineren Schriften wissenschaftliche Bedenken, wie einst C. Ernst V. Baer gegenüber der MECKELschen Lehre, geäußert. Zugleich habe ich auf eine Reform und auf Änderungen hingewiesen, zu welchen eine tiefere Kenntnis vom Wesen der Zelle hinführen muß 1). Wenn ich jetzt von neuem in einer eingehenden lj Hertwig, Oscar, Die Zelle und die Gewebe. Bd. II, 1898, Kap. XIX, und Allgemeine Biologie, 2—5 Aufl. — Derselbe, Uber dte Stellung der vergleichenden Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. 193 Besprechung Stellung zu der Tragweite des biogenetischen Grund- gesetzes und zu den mit ihm zusammenhängenden Fragen nehme, so ist dies in einem Buch, welches sich mit dem Werden der Orga- nismen beschäftigt, nicht zu umgehen. Denn vergleichende Ana- tomie und Entwicklungslehre sind ohne Zweifel die wichtigsten Waffen im Kampf um die Abstammungslehre oder die Deszendenz- theorie. Zuerst sei hervorgehoben, inwieweit der Naturforscher nach meiner Ansicht dem Leitgedanken des biogenetischen Grundgesetzes unbedingt beistimmen muß. Was kann als der leitende Gedanke desselben bezeichnet werden? Doch wohl die Vorstellung, daß der ontogenetische Prozeß vom Ei bis zum ausgebildeten Lebewesen dem wissenschaftlichen Verständnis nur dann nach allen Richtungen erschlossen werden kann, wenn er als das letzte Glied einer un- endlich langen Entwicklungskette, also auf Grund einer vorausge- gangenen, im Dunkel der Vorzeit sich verlierenden Stammesgeschichte zu erklären versucht wird. Demnach bedarf das Studium der Onto- genese zu seiner Ergänzung des Studiums der Phylogenese mit ihrer historischen Erklärungsweise. Es gibt also zwei Wege und zwei Methoden, nach denen man die Ontogenese zum Gegenstand wissen- schaftlicher Untersuchung machen und eine Erklärung für sie suchen kann. Auf dem einen Weg beschränkt sich der P'orscher auf die sorg- fältige Untersuchung aller Erscheinungen und Vorgänge, welche die Entwicklung vom Ei bis zum Endstadium erkennen läßt. Er bedient sich hierzu aller der zahlreichen morphologischen, physio- logischen, chemischen und physikalischen Methoden, welche ihm die exakte Naturwissenschaft zur Verfügung stellt. Jedes ontogenetische Stadium wird anatomisch, histologisch und physiologisch in möglichst erschöpfender Weise analysiert und aus dem vorausgehenden Stadium als seine notwendige Folge zu erklären versucht. Die Aufgabe dieser naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethode würde gelöst sein, wenn dereinst der Forscher imstande wäre, aus dem ultra- mikroskopischen Bau der Eizelle (ihrer Anlage) und den mit ihr verknüpften chemisch-physikalischen Kräften (ihren Potenzen) jedes einzelne Stadium im Entwicklungsprozeß, wie die Folge aus ihrem Grunde, zu erklären. Entwicklungslehre zur vergleichenden Anatomie, zur Systematik und Deszendenztheorie. Handb. der vergl. und experim. Entwicklungslehre, Bd. III, Teil 3, 1906. — Derselbe Das biogenetische Grundgesetz nach dem heutigen Stande der Biologie. Internationale Wochenschr., Jahrg. 1, 1907. — Vialleton, L., Un probleme de V evolution. Paris 1908. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 13 194 Fünftes Kapitel. Im Sinne der exakten Schule oder entwicklungsmechanisch, wie man jetzt häufig sagt, würde hiermit die Aufgabe des Natur- forschers ihren Abschluß gefunden haben, nicht aber die philo- sophische Erklärung des ontogenetischen Prozesses. Denn derselbe ist doch nur das Endglied eines viel umfassenderen Entwicklungs- prozesses, der so alt ist wie das Leben auf unserem Planeten über- haupt. Auf diesem Gebiet aber versagt vollständig die exakte wissenschaftliche Schule. Physiologische Prozesse, die vor Jahr- tausenden in der Entwicklung der Organismen stattgefunden haben, lassen sich mit chemisch-physikalischen Methoden ebensowenig erforschen, wie die morphologischen Substrate, die ihnen in den embryologischen Stadien der vorweltlichen ontogenetischen Prozesse entsprochen haben, sich anatomisch-histologisch feststellen lassen. Ohne Frage aber bilden die ausgestorbenen Vorfahren der heute lebenden Organismen eine unendlich lange Entwicklungskette, in welcher jedes vorausgegangene Glied zum nachfolgenden in ähn- licher Weise im Verhältnis von Grund und Folge steht, wie in der einzelne^ Ontogenie ein Stadium zum anderen, Hieraus ergibt sich das zweite naturwissenschaftlich- philo- sophische Problem, einen Einblick in das Verhältnis der letzten heute lebenden Glieder der Entwicklungskette zu den ihnen voraus- gegangenen Gliedern oder, mit einem Worte, in die natürliche Ent- stehungsgeschichte der Organismenwelt zu gewinnen. Dieses Pro- blem ist kein naturwissenschaftliches mehr, da die zur Untersuchung der gegenwärtigen Lebewelt gebräuchlichen Methoden, wie schon gezeigt wurde, für diese Aufgabe versagen. Ergänzend muß hier eine historisch-philosophische Erklärungsweise zur naturwissen- schaftlichen hinzutreten; eine solche kann aber, wie es in der Sache liegt, nur eine mehr oder minder beschränkte sein und uns nur zu mehr oder minder hypothetischen Ergebnissen führen. So würden Naturforscher, welche wie die alten Evolutionisten und Systematiker der prädarwinistischen Epoche unter dem Dogma biblischer Schöpfungsgeschichte stehen, im Bestreben, diese mit den Ergebnissen der Embryologie zu verknüpfen, die Ansicht ver- treten können, daß sich in Vorzeiten die einzelne Ontogenie in der Entwicklungskette in derselben Weise wie in der Gegenwart ab- gespielt habe. Von der Einschachtelungslehre durch die Zellen- theorie befreit, hätten sie sich jetzt nur darüber zu entscheiden, wie schon öfters als Rätselfrage aufgegeben worden ist, ob am ersten Schöpfungstag die Henne oder das Ei früher geschaffen worden ist. Aber auch diese Art der Präformation des ersten Gliedes in Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. *95 der Entwicklungskette durch einen übernatürlichen Schöpfungsakt dürfte unter den Biologen der Gegenwart wohl kaum einen An- hänger finden. Durch den ganzen Entwicklungsgang von Philosophie und Naturwissenschaften ist jetzt mehr und mehr die Anschauung zur Herrschaft gelangt, daß die Entwicklung sowohl der unorganischen Welt, als der die Erde bewohnenden Geschöpfe auf natürlichem Wege aus vorausgegangenen einfacheren Zuständen erfolgt ist. Sie gilt jetzt allgemein als die wissenschaftlich allein berechtigte. Und in der Tat lassen sich aus einer wissenschaftlichen Untersuchung der Organismen wichtige Gründe zusammenstellen, die sich zu- gunsten einer Entstehung der heute lebenden Pflanzen und Tiere aus vielmals einfacheren Ahnenformen verwerten lassen. Dieselben sollen indessen in diesem Kapitel nur insoweit besprochen werden, als sie der vergleichend-anatomischen und entwicklungsgeschicht- lichen Forschung zu entnehmen sind. Nach meiner Ansicht sind sie allerdings die weitaus wichtigsten und beweiskräftigsten. a) Begründung der Ansicht, dass ontogenetische Ein- richtungen Rückschlüsse auf hypothetische Stadien der Phylogenese gestatten. Die jetzt zur Beantwortung gestellte Frage lautet daher, welche Ergebnisse der vergleichenden Anatomie und Entwicklungslehre sprechen dafür, daß die heute lebenden Organismen sich im Ver- gleich mit ihren Vorfahren verändert haben, oder daß die Endglieder der phylogenetischen Kette sich aus einfacheren Gliedern durch eine Art phyletischen Entwicklungsprozesses erst allmählich hervorge- bildet haben? Aus der unendlichen Fülle des vorliegenden Beweis- materials sollen nur einige wenige, besonders interessante Fälle her- ausgegriffen werden. Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säuge- tiere als Zeugnisse. Ich erinnere zuerst an einen Komplex zusammengehöriger Or- ganisationsverhältnisse, einerseits an die schon besprochenen Schlund- spalten und Schlundbögen, an das einfache Herz und an die erste Anlage des Gefäßsystems der Embryonen der landbewohnenden Wirbeltiere (Fig. 20 u. 24), andererseits an die homologen, durchaus gleichartigen, bleibenden Einrichtungen der Fische (Fig. 21 u. 23). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß hier in den allgemeinen Grundzügen des Baues die Embryonen der Reptilien, Vögel und ig6 Fünftes Kapitel. Säugetiere wie die ausgewachsenen Fische beschaffen sind. Da nun aus dem Bau der Organismen auf ihre Lebensweise, aus dem Bau ihrer Organe auf ihre Funktion sich Schlüsse ziehen lassen, so kann man wohl sagen, daß die Embryonen landbewohnender Wirbel- tiere vorübergehend so gebaut sind, als ob sie für ein Wasserleben bestimmt wären. Man kann dann auch geneigt sein, alle diese Verhältnisse in der Weise zu erklären, daß die Schlundspalten, das einfache Herz und die primitive Anordnung der großen Blutgefäße historische Dokumente sind, die sich als Beweise für die Abstammung der landbewohnenden Wirbeltiere von wasserbewohnenden ver- werten lassen. Diese Dokumente aber gewinnen noch mehr an Beweiskraft, wenn wir die Klasse der Amphibien in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen. Denn hier wird das, was dort als berechtigte Hypothese auf gestellt werden kann, zur vollen Wirklich- keit. Vor unseren Augen wandeln sich wirkliche Wassertiere in Landtiere um. Nachdem die Larven der Frösche und Kröten, Tri- tonen und Salamander die schützenden Eihüllen verlassen haben, leben sie wochen- und monatelang im Wasser wie kleine Fische und ernähren sich selbständig. Sie atmen wie die Fische durch Kiemen, ausgestattet mit Schlundspalten, mit Kiemenblättchen und äußeren Kiemenbüscheln, mit einfachem Herz und den übrigen dazu passenden Organen des Blutkreislaufs. Sie erreichen schon als Larven eine nicht unerhebliche Größe, unterscheiden sich als solche in ihrer Form oft in erheblicher Weise vom späteren Zustand, wie zum Beispiel die Kaulquappe vom Frosch. Dann beginnt die Meta- morphose und mit ihr die Veränderung der Lebensweise. Das Wasser- tier wird plötzlich zu einem Landtier. Die Lungen, die sich schon vor der Verwandelung neben den Kiemen entwickelt haben, treten neben der Kiemenatmung gleichzeitig mehr und mehr in Funktion und ersetzen sie schließlich vollständig. Die Kiemen verschwinden, die Schlundspalten schließen sich. Die Skeletteile der Schlund- bögen beginnen zu verkümmern und bleiben in veränderter Form und Funktion, verglichen mit dem mächtigen Visceralskelett der Fische, nur als unscheinbare Skeletteile beim Landtier fortbestehen. Mit dem Lungenkreislauf beginnen sich Hand in Hand auch die Scheidewandbildung im Herzen und die zugehörige Umwandlung im Bereich der Schlundbogengefäße einzustellen. Die Metamorphose der Kaulquappe zum Frosch wirkt auf den Beobachter besonders überraschend noch dadurch, daß der kräftig entwickelte Schwanz, der als Ruderorgan beim Wasserleben eine wichtige Rolle gespielt hat, in kurzer Zeit fast vollkommen zurückgebildet wird. Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. 197 Noch merkwürdiger und nicht minder beweisend ist ein zweiter Vorgang, die embryonale und die phyletische Entwicklung der Kauwerkzeuge und der Gehörknöchelchen der Säugetiere und des Menschen. Sie macht uns zugleich auch mit dem zur Erklärung vieler Verhältnisse wichtigen Prinzip des Funktionswechsels be- Fig. 25. Frimordialcranium eines menschlichen Embryos von 8 cm Steiß-Scheitellänge aus dem 3. Monat der Schwangerschaft von der linken Seite gesehen. Ansicht des Kopfskeletts von der Seite. Nach O. Hertwig. Auf der linken Hälfte des Schädels sind alle Belegknochen entfernt, mit Ausnahme des Tränenbeins, des Pflugscharbeins und des Gaumenbeins. Das Visceralskelett, bestehend aus Amboß ( Incus ), Hammer (Man. mall.), MECKELschen Knorpel (Cart. Meckel), Pro- cessus styloiueus, Zungenbein, Kehlkopf, ist mitdargestellt. Auf der rechten Seite des Schädels, von der man einzelne Teile noch überblickt, sind die Belegknochen nicht entfernt worden. Man sieht daher den Zwischen- und Oberkiefer (Maxillare) und das Gaumenbein der rechten Seite; ferner den knöchernen Unterkiefer (Dentale), an dessen Innenfläche der dazu gehörige, ihm dicht anliegende MECKELsche Knorpel seinen Weg nimmt. kannt. Wie schon früher erwähnt wurde (S. 180), lassen sich in der Ent- wicklung des Kopfskeletts bei den Säugetieren drei aufeinander- folgende Stadien, das häutige, das knorpelige und das knöcherne, unterscheiden. Zuerst wird das Gehirn von einer häutigen, darauf von einer knorpeligen Kapsel, dem Primordialcranium, umgeben (Fig. 25). An die Basis der Knorpelkapsel schließen sich in der Umgebung des Mundes zwei Paar kleine Knorpelstückchen an (Incus, Cart. Meckel.) ; sie werden nach ihrer Lage und ihren For. optic. Aid orbital. Cart thyreoid - Tect synot Fünftes Kapitel. 198 Beziehungen zu den übrigen benachbarten Muskeln, Nerven und anderen Teilen als primäre Ober- und Unterkieferstücke (Palato- quadratum und Mandibulare) in der vergleichenden Anatomie be- nannt Knorpelige Ober- und Unterkiefer sind untereinander im pri- mären Kiefergelenk verbunden. Hinter ihnen liegen, durch die erste Schlundspalte getrennt, zwei kleine Knorpelstückchen un- mittelbar der Ohrgegend des knorpeligen Primordialcraniums an. Sie bilden den obersten Teil des knorpeligen Zungenbeinbogens (Fig. 25, Proc. styloid.). -ZV Au Tr LaFaOcGl Va rb rb rb rl Ik Ik 0 U zb zb kb Fig. 26. Schematische Darstellung- der knorpelig-en Schädelkapsel und des knorpelig-en Visceralskeletts eines Selachiers und der großen Nerven- stämme des Kopfes. N Nasenkapsel (Ethmoidalregion des Primordialcranium), Au Augenhöhle (Orbitalregion), La Labyrinthregion, Oc Occipitalregion des Schädels, 0 Palatoquadratum, U Unterkiefer, Ik Lippenknorpel, zb Zungenbeinbogen, kb erster bis fünfter Kiemenbogen, Tr Nervus trigeminus, Fa Facialis, Gl Glossopharyngeus, Va Vagus, rl Ramus lateralis des Vagus, rb Rami branchiales des Vagus. Dieselben Skelettstücke begegnen dem vergleichenden Morpho- logen bei den Embryonen der Selachier, erreichen aber hier all- mählich feine außerordentliche Größe und werden zu den wirk- lich funktionierenden Kauwerkzeugen der ausgewachsenen Tiere (Fig. 26 0, TJ u. zb). Sie sind auf ihren Rändern mit zahlreichen Ober- und Unterkieferzähnen ausgerüstet und werden durch kräftig entwickelte Kaumuskeln im primären Kiefergelenk gegeneinander bewegt. Hier macht sich nun für den vergleichenden Forscher ein ent- sprechender Unterschied, wie zwischen den Dauereinrichtungen Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. 199 zur Kiemenatmung, dem einfachen Blutkreislauf und dem ein- fachen Herz der Fische, sowie den homologen Anlagen der Em- bryonen von Reptilien, Vögeln und Säugetieren bemerkbar. Denn bei den Selachiern bleiben, wie wir schon früher erfahren haben, das knorpelige Primordialcranium und das knorpelige Visceralskelett als dauernde und in Funktion tretende Einrichtungen erhalten, da- gegen erfahren sie bei den Embryonen der höheren Wirbeltiere schon frühzeitig eine Fortentwicklung in den knöchernen Zustand. Hiermit ist aber bei den Säugetieren eine der interessantesten Metamorphosen verbunden. Knorpelige Ober- und Unterkiefer nehmen über die Größe ihrer ersten Anlage hinaus nur sehr wenig an Umfang zu (Fig. 25) und geraten dadurch bald in den denkbar größten Gegensatz zu den ihnen homologen Skelett- stücken der Selachier (Fig. 26) und, was hier ergänzend noch hinzu- gefügt sein mag, auch der Amphibien, Reptilien und Vögel. Sie finden überhaupt bei den Säugetieren zu keiner Zeit eine Verwen- dung als Kauwerkzeuge, ebensowenig wie ihre Schlundspalten zur Kiemenatmung. Denn andere Skeletteile, die bei der Entwicklung des dritten knöchernen Endstadiums erst neu gebildet werden, treten an ihre Stelle. Unmittelbar nach außen von den Knorpelstücken entstehen nämlich in dem sie bedeckenden Bindegewebe kleine Knochen- plättchen, die sekundären oder wirklichen knöchernen Ober- und Unterkiefer der höheren Wirbeltiere. Sie sind in Fig. 25 auf der linken Kopf hälfte abpräpariert, dagegen auf der rechten in ihrer Lage erhalten und durch einen gelben Farbton kenntlich gemacht (Maxillare und Dentale). Sie wachsen mit der Größenzunahme der Embryonen entsprechend weiter, nehmen die in der benachbarten Schleimhaut entwickelten Zahnanlagen in Alveolen auf und treten mit anderen Knochen, die sich inzwischen noch aus der häutigen und knorpeligen Schädelkapsel entwickelt haben, in eine festere Verbindung. Hierbei bildet sich ein ganz neues Kiefergelenk aus, das man vom primären Gelenk zwischen den knorpeligen Stücken der Selachier und anderer Wirbeltiere als das sekundäre in der vergleichenden Entwicklungslehre unterscheidet. Es entsteht da- durch, daß der knöcherne Unterkiefer (Dentale der Fig. 25) einen Gelenkfortsatz (Processus articularis) nach oben entsendet und sich durch ihn mit der Schuppe des Schläfenbeins, die sich gleichfalls als Belegknochen beim Verknöcherungsprozeß der Schädelkapsel entwickelt hat, zu einem Gelenk verbindet. Infolgedessen verändern auch dieKaumuskeln ihren Ursprung und 200 Fünftes Kapitel. ihren Ansatz. Anstatt wie bei den Selachiern an das embryonal zu- erst angelegte, aber dann in der Entwicklung ganz zurückgebliebene, knorpelige Mandibulare setzen sie sich bei den Embryonen der Säuge- tiere an das nach außen von ihm und kräftiger entwickelte Os dentale an. Dadurch schalten sie die knorpeligen Unterkiefer aus ihren ur- sprünglichen '.funktionellen Beziehungen aus. Als Ersatz sind die sekundär als Belegknochen entstandenen, bleibenden Unterkiefer, an denen sich jetzt auch die Zähne befestigen, für sie eingetreten. Fig. 27. Knöcherner Unterkiefer mit dem Meckelschen Knorpel eines menschlichen Foetus vom Ende des 3. Monats. Nach Kollmann. Der Unter- kiefer ist isoliert, von innen gesehen, so daß der MECKELsche Knorpel der ganzen Länge nach sichtbar wird; der Hammer ist noch mit ihm in kontinuierlicher Verbindung. An dem Amboß ist der kurze und lange Fortsatz deutlich erkennbar. Der MECKELsche Knorpel liegt in einer Furche des Unterkiefers unterhalb der Ansatzlinie des Musculus mylohyoideus. Das Vorderende biegt mit einem hakenförmigen Schenkel um (Hamulus processus Meckelii [Hannover]). Daher finden die Kaubewegungen von jetzt an anstatt im primären im sekundären Kiefergelenk statt. Auf diese Weise sind die funk- tionslos gewordenen und kleiner gebliebenen Knorpelstückchen in die Lage gekommen, einen Funktionswechsel eingehen zu können. Das geschieht, indem sie in den Dienst des Gehörorgans treten und, da auch bei ihnen das Knorpel- durch Knochengewebe später ersetzt worden ist, als Gehörknöchelchen für die Schallüber- tragung vom Trommelfell auf das Labyrinth Verwendung finden. Sie werden zu Hammer (Malleus) und Amboß (Incus), wie Fig. 27 lehrt, in welcher die betreffenden Skelettstücke der Fig. 25 in Ver- bindung mit dem Trommelfell bei etwas stärkerer Vergrößerung Die Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. 201 dargestellt sind. Das zwischen ihnen befindliche Gelenk entspricht also in vergleichend-anatomischer Hinsicht dem primären Kiefer- gelenk der Selachier. Das knorpelige, an die Labyrinthregion un- mittelbar angrenzende, obere Stück des Zungenbeinbogens ist eben- falls im Wachstum zurückgeblieben und wandelt sich in das dritte Gehörknöchelchen, den Steigbügel, um, der in der Fenestra ovalis der Ohrkapsel befestigt ist. Die Fenestra ovalis entspricht daher der Hyoidpfanne der Selachier, an der sich das Hyomandibulare, das Homologon des Steigbügels, mit der knorpeligen Schädelkapsel ge- lenkig verbindet. Die Umwandlung von Kieferstücken in Gehörknöchelchen mag bei manchem Leser berechtigtes Staunen hervorrufen. In der Tat gehört sie zu den interessantesten Veränderungen, mit denen uns die vergleichende Anatomie und Entwicklungslehre bekannt macht. Kann es einen größeren Kontrast als den beschriebenen Wechsel der Funktionen, einen größeren Erfolg vergleichender Forschung als den Nachweis geben, daß wir uns jetzt der Kieferstücke phyle- tischer Ahnen als Hilfswerkzeuge beim Hören bedienen ! Daher mag, um diesen überraschenden Funktionswechsel begreiflicher zu machen, noch bemerkt werden, daß die Vorbedingungen für einen solchen in der anatomischen Anordnung der Teile, wie ein genaueres anatomisches Studium zeigt, doch von vornherein schon gegeben sind. Denn knorpeliger Ober- und Unterkiefer einerseits, oberes Stück des Zungenbeinbogens andererseits begrenzen unmittelbar die erste Schlundspalte, die unter der Ohrkapsel ihren Weg nimmt; sie lagern daher auch unmittelbar der Labyrinthregion des knorpeligen Primordialcraniums an. Aus der ersten Schlundspalte leitet sich die Paukenhöhle und die Eustachische Röhre, aus der Stelle ihres Ver- schlusses aber das Trommelfell her. Es bedarf daher nur geringer Lageveränderungen, um die im Wachstum zurückgebliebenen, ihrer ursprünglichen Funktion beraubten und daher für andere Ver- wertung frei gewordenen Knorpelstückchen in den Dienst des Gehör- organs überzuführen, wie es auch wirklich in späteren Embryonal- stadien beobachtet werden kann. Die Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. Wie die Wirbeltiere, so bieten uns auch die Wirbellosen aus den verschiedenen Stämmen geeignete Beispiele von parallelen Formenreihen dar, von denen die eine aus Stadien, die in der Entwicklung eines Tieres wirklich aufeinander folgen, die andere 202 Fünftes Kapitel. aus aneinandergereihten Dauerzuständen verschiedener Tiere, die nur im System zueinander gehören, besteht. Hierzu mag ein Fall dienen, der uns zugleich mit Eigentümlichkeiten und Folgen einer parasitischen Lebensweise bekannt macht und dadurch wieder auf eine neue Art zum Verständnis der Rekapitulationstheorie bei- trägt. — Der Fall betrifft einen Vertreter der Crustaceen, die Sacculina carcini (Fig. 28, Sacc). Sie lebt als Parasit auf einigen größeren marinen Krebstieren, wie dem Carcinus maenas, auf dessen Bauchseite sie sich mit einem dicken Stiel (S) festheftet. Fig. 28. Fig. 29. Fig. 28. Die parasitische, ausgebildete Sacculina (Sacc) schmarotzend auf Car- cinus maenas, dessen Abdomen (Abd) zurückgeschlagen ist; sie ist durch den Saugstiel (S) in den Körper des Wirts tief eingesenkt und umspinnt seine Eingeweide, mit Ausnahme der Kiemenregion, mit einem Geflecht feiner Wurzelausläufer (W), in welche sich der Stiel (S) verzweigt. Sacc Leib der Sacculina, S sein Stiel, W seine Wurzelausläufer, Au Auge von Carcinus, Abd Abdomen von Carcinus. Fig. 29. Die Metamorphosen des Schmarotzerkrebses Sacculina carcini nach Richard Hertwig. A Das Naupliusstadium. Au Auge, I, II, /// die drei Gliedmaßenpaare. B Das Cyprisstadium. I, II vordere Gliedmaßen, VI — XI Schwimm- füße (Rankenfüße). Sie bildet, wie schon ihr Name sagt, einen unförmlichen Sack (Sacc), der keine Spur von Gliederung, von Extremitäten, von Sinnes- organen aufweist. Auch bei seiner anatomischen Untersuchung werden die sonst überall vorkommenden Organe, wie Magen, Darm und die zu ihnen gehörenden Drüsen, vermißt. Seinen einzigen Inhalt bilden die zu außergewöhnlicher Größe entwickelten Geschlechts- organe. Seine Nahrung erhält der Sack durch den Stiel (S), der in das Innere des Wirtstieres durch eine Öffnung in der Chitinhülle tief hineingedrungen ist, sich zwischen seinen Eingeweiden baumförmig verzweigt und mit feinsten Röhrchen (W), die bis in die letzten Glieder der Extremitäten hineinreichen, alle seine Organe umspinnt. D^e Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. 203 Die Ernährung des Parasiten geschieht also durch Diffusion, indem Körpersäfte des Wirtes durch die dünnen Wandungen der Wurzel- fäden aufgenommen und als Nahrung dem Schmarotzer zugeführt werden. Wegen des eigentümlichen Wurzelwerkes hat die kleine, aus mehreren Arten bestehende Gruppe, der die Sacculina angehört, den gut gewählten Namen der Rhizocephalen erhalten. Nach der eben gegebenen Be- schreibung wird niemand vermuten können, daß die Rhizocephalen zu den Crustaceen gerechnet werden müssen. Aber die Entwicklungsgeschichte liefert hierfür den sicheren Beweis. Denn durch sie erfahren wir, daß sich aus dem Ei zwei aufeinander folgende Larvenstadien entwickeln, wie sie nur bei bestimmten Abteilungen der Crustaceen beobachtet werden und als Nauplius- und Cypris- stadium unterschieden werden. Der Nau- plius (Fig. 29 A), der als Larve auch noch bei manchen anderen Krebstieren, wie bei den Copepoden, den Cirripedien u. a., vorkommt, hat drei Paar Gliedmaßen (J, II, III), mit deren Hilfe er frei im Wasser umherschwimmt. Der Nauplius verwandelt sich dann in das Cypris- stadium (Fig. 29 B), auf dem eine größere Anzahl von Rankenfüßen (VI bis XI) am hinteren Leibesende neu gebildet werden. Dieses Stadium begegnet uns auch in der Familie der Cirripidien oder der Entenmuscheln (Fig. 30). Während nun aber bei diesen die Cyprislarve mit dem Rücken ihres Kopfendes sich an Steine oder andere feste Gegenstände ansetzt und an dieser Stelle einen längeren Haftstiel (Fig. 30) entwickelt und auch noch andere Eigentümlichkeiten der Entenmuscheln, wie zwei mit Kalksalzen imprägnierte Schalen (s und t) zum Schutz ihres Körpers ausbildet, befestigt sich die Cyprislarve der Sacculina an einer größeren Crustacee und wächst mit ihrem Stiel in der schon beschriebenen Weise zwischen die Eingeweide des Wirtes hinein. Infolge dieser parasitischen Lebensweise verliert sie wieder ihre im Larvenleben schon ausgebildeten Organe, weil sie funktionslos geworden sind. Fig. 30. Bau einer Lepa- clide, die durch einen Stiel sich an irgendeinem Gegenstand fest- gesetzt hat und deren rechte Schale und Körperhaut entfernt sind, nach Richard Hertwig. s Scutum, t Tergum, c Carina, m Muskel zum Schließen der Schale, r Ranken- füße, p Penis , l Leberanhänge des Darms, o Ovar, o‘ Oviduct, h Hoden, hl Vas deferens, d Zement- drüse, mündet an der Basis der 1. Antenne. (Nach Claus.) 204 Fünftes Kapitel. Derartige Rückbildungsprozesse von Organen, die schon voll- ständig funktionsfähig im Larvenleben angelegt worden sind, werden sehr häufig bei Parasiten aus sehr verschiedenen Abteilungen des Tierreiches beobachtet, bei anderen Familien der Crustaceen, ferner bei Insekten, bei Mollusken, bei Würmern etc. Auch hier kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die Entwicklung der Sacculina uns einen ziemlich sicheren Einblick in ihre Ahnengeschichte gibt. Ohne Bedenken werden wir dem Ausspruch, den Richard Hertwig in seiner im Kap. XIV zitierten Schrift: „Die Ab- stammungslehre“ (p. 72) tut, zustimmen können: „Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß auch im vorliegenden Fall die Descendenztheorie den ontogenetischen Befund im ph}do- genetischen Sinne umdeutet, daß die Cirripedien Krebse sind, welche infolge ihrer sitzenden Lebensweise ein befremdendes Aussehen an- genommen haben, daß die Rhizocephalen ihrerseits Cirripedien sind, bei denen die sitzende Lebensweise zum Parasitismus führte, indem ihr Stiel in den Körper des Wohntieres eindrang und Nahrung aus ihm saugte. Die parasitische Lebensweise veranlaßt dann die hoch- gradige Rückbildung der Organisation, so daß alle charakteristischen Merkmale der Crustaceen schwanden. Nur die Entwicklung läßt noch den Weg erkennen, auf welchem die absonderlichen Lebe- wesen entstanden sein mögen.“ Die Metamorphose von Sacculina bildet in jeder Hinsicht einen lehrreichen Gegensatz zu allen anderen vorhergehenden Fällen, in denen wir ontogenetische Stadien zur Aufstellung der Ahnen- geschichte verwertet haben. Aus diesen mußten wir schließen, daß die Ahnen der heute lebenden Säugetiere eine einfachere Organi- sation besessen haben, die in mancher Hinsicht an diejenige wasser- bewohnender Wirbeltiere mit Kiemenatmung und mit einfachem Blutkreislauf erinnert, oder wir kamen zur Einsicht, daß die Amni- oten von Vorfahren abstammen, bei denen an Stelle der jetzt vor- handenen knöchernen Wirbelsäule nur eine ungegliederte Chorda als Stütze für die Weichteile ihres Körpers funktionierte. Im Hinblick auf derartige Verhältnisse, welche ja auch die weitaus häufigsten sind, verbindet man in der Regel mit dem Be- griff der Entwicklung, wie schon in der Einleitung zum fünftem Kapitel hervorgehoben wurde, zugleich auch den Begriff des Fort- schritts. Man versteht unter Entwicklung die Entstehung einer Organisation von größerer Kompliziertheit aus vorausgegangenen einfacheren Zuständen. Daß dies nicht überall zutrifft, wurde nicht nur schon früher im allgemeinen bemerkt, sondern jetzt auch an Bedeutung der rudimentären Organe für phylogenetische Schlußfolgerungen. 205 der Metamorphose von Sacculina bewiesen. Neben einer fort- schreitenden gibt es auch eine zum Teil rückwärts gerichtete Ent- wicklung. Neben dem Fortschritt spielt auch der Rückschritt eine bedeutende Rolle in dem Gesamtbild der Organismenwelt. Rück- bildung tritt gewöhnlich ein, wenn ein an kompliziertere Lebens- verhältnisse angepaßter Organismus unter mehr einfache und gleich- förmige Bedingungen gerät, unter denen er von seinen Organen zum Teil keinen Gebrauch mehr machen kann. Denn es ist ein allgemeines Naturgesetz, das uns an anderer Stelle noch näher be- schäftigen wird, daß, wie die Funktion oder der Gebrauch die Or- gane kräftigt und zu ihrer fortschreitenden Entwicklung führt, das Nachlassen oder das Aufhören ihrer Funktion, also der Nichtgebrauch; sie schwächt und auf die Dauer ihre Rückbildung veranlaßt. Am auffallendsten tritt die Wirksamkeit dieses Naturgesetzes in den Folgen der parasitischen Lebensweise hervor, wie schon in dem Fall von Sacculina nachgewiesen wurde. Aber auch durch viele andere Veränderungen der Lebens- bedingungen können Rückbildungsprozesse verursacht werden. Je nach ihrer Natur können sie bald dieses, bald jenes Organ treffen und es von seiner in früheren Perioden erreichten Höhe der Ent- wicklung wieder zurückführen. Rückgebildete oder noch in Rück- bildung begriffene Organe werden in der vergleichenden Anatomie abortive oder rudimentäre genannt. Da nun eine rudimentäre Be- schaffenheit eines Organismus oder auch nur einzelner Organe einen vorausgegangenen Zustand höherer Ausbildung voraussetzt und sich von ihm herleiten muß, so können die rudimentären Organe, wo sie uns überhaupt beim Studium der Organismen entweder in ihrer Entwicklung oder in ihrer Anatomie entgegentreten , ebenso als wichtige Zeugnisse bei der Beurteilung der Ahnengeschichte eines Lebewesens mit Recht betrachtet und benutzt werden. Die Bedeutung der rudimentären Organe für ph)Ho- genetische Schlußf olgerun gen. Die rudimentären Organe können wir in zwei Gruppen sondern, in solche, die sich noch beim ausgebildeten Organismus vorfinden, und in solche, die nur während der Entwicklung beobachtet werden. Aus den zahllosen Beispielen der ersten Gruppe seien einige wenige, besonders instruktive ausgewählt. Ein hervorstechendes Merkmal aller Wirbeltiere, wenn wir von Amphioxus und den Cyclostomen absehen, ist der Besitz von zwei Paar Gliedmaßen, die entweder zur Fortbewegung im Wasser oder 2 o6 Fünftes Kapitel. auf dem Lande oder in der Luft eingerichtet sind. Es gibt aber keine Wirbeltierklasse, in welcher nicht einige extremitätenlose Arten vorgefunden werden: unter den Fischen die Pisces apodes, zu denen die Aale gehören, unter den Amphibien die Coecilien. die wie Regenwürmer in der Erde leben, unter den Reptilien die Schlangen, unter den Säugetieren die Walfische. Daß hierin kein ursprünglicher Zustand vorliegt, könnte wohl schon daraus geschlossen werden, daß mit Ausnahme sehr weniger Arten sonst alle Knorpel- und Knochenfische, alle Amphibien, alle Reptilien, Vögel und Säuge- tiere mit zwei Paar Extremitäten ausgerüstet sind. Doch viel sicherer wird der Schluß, wenn wir einmal die Ursache für die Rückbildung angeben und zweitens nachweisen können , daß sogar noch un- scheinbar gewordene Reste von Extremitäten vorhanden sind. Beides ist bei den Schlangen und Walfischen möglich. Bei den Schlangen sind die Gliedmaßen nutzlos geworden, weil sie mittels ihrer Rumpf- muskulatur durch kräftige, wellenförmig verlaufende Krümmungen ihren außerordentlich langen, runden, glatten Körper auf der Erde rasch vorwärts bewegen können. Ferner finden sich als Rudimente eines Beckengürtels kleine Knochenstücke, wie ein verkümmertes Schambein. Ebenso hat bei den Walfischen die Anpassung an das Wasserleben und die Fortbewegung mit dem zum Ruderorgan um- gewandelten Schwanzende zur Rückbildung der paarigen, zur Fort- bewegung auf dem Land eingerichteten Gliedmaßen geführt. Da- für aber, daß entfernte Vorfahren sie besessen haben, können uns noch in der Bauchwand eingeschlossene Knöchelchen gleichsam als Zeugen dienen. Meist sind es nur die Schamsitzbeine eines rudimentär gewordenen Becken gürtels; bei den Bartenwalen ge- sellen sich zu ihnen noch Rudimente eines Femur oder bei Balaena außerdem noch eine Tibia; dagegen sind auch die letzten Spuren von ihnen bei den Zahnwalen geschwunden. In der Klasse der Vögel sind die Flügel bei allen Laufvögeln, die das Flugvermögen verloren haben, mehr oder minder rück- gebildet; so bei den Straußenarten, noch mehr aber bei Apteryx, bei dem sie nur noch ganz rudimentäre Anhängsel ohne jeden Nuzen für die Fortbewegung sind. In ähnlicher Weise wie die Extremitäten kann uns das Zahn- system der Wirbeltiere durch hier und da eingetretene Rückbildung, noch mehr aber durch Fortbestand als rudimentär gewordenes Organ „von der Geschichte eines früheren Zustandes der Dinge' erzählen. So werden bei den Embryonen der Bartenwale an den Kieferrändern noch Zahnleisten angelegt, an denen sich auch Milch- Bedeutung der rudimentären 'Organe für phylogenetische Schlußfolgerungen. 207 zähne entwickeln. Aber sie bleiben in der Tiefe der Schleimhaut verborgen und treten nie in Funktion, sondern werden später sogar wieder resorbiert. Ihre ganze Entwicklung erscheint so als ein voll- kommen zweckloser Vorgang. Eine Erklärung kann er nur durch iie Ahnengeschichte und in dem Umstand finden, daß durch Ver- hornung der Mundschleimhaut für die Ernährung der Bartenwale besser geeignete Organe, die Barten aus Fischbein, entstanden und als Ersatz an die Stelle der Dentinzähne getreten sind. Zu dem Kapitel der rudimentären Organe liefert einen sehr wichtigen und interessanten Beitrag die Höhlenfauna. Da Rück- bildung von Organen mit ihrer veränderten Gebrauchsweise oder mit Nichtgebrauch infolge anderer Lebensbedingungen ursächlich zusammenhängt, so wird eine solche in allen Fällen zu erwarten sein, wo Tiere von einer oberirdischen zu einer unterirdischen Lebens- weise übergegangen sind. Sie wird sich ferner bei vollständigem Mangel von Licht am meisten an demjenigen Organ einstellen müssen, dessen einzige Aufgabe in der Wahrnehmung des Lichtes besteht. In der Tat ist auch, worin alle Beobachter übereinstimmen, die mehr oder minder starke Rückbildung der Sehwerkzeuge bis zu vollständigem Mangel ein charakteristisches Merkmal aller Tiere, die entweder in selbstgebildeten Gängen in der Erde oder in unter- irdischen Höhlen leben und den verschiedensten Abteilungen des Tierreiches angehören. So finden sich verkümmerte Augen unter den Säugetieren beim Maulwurf und bei Blindmäusen; unter den Reptilien bei Amphisbaena, Typhlops und Typhline, unter den Amphibien bei den Coecilien und bei Proteus. Ein großes Kontin- gent liefern die unterirdisch lebenden Arthropoden. So berichtet Darwin z. B. von einigen Krabben, bei denen der Augen stiel noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist. Er vergleicht es einem Teleskop, bei welchem zwar das Gestell geblieben, aber der wertvolle Teil, das Instrument mit den Gläsern, fehlt. So deuten denn die Augenrudimente der Höhlenbewohner auch darauf hin, daß sie von Vorfahren abstammen, die einstmals im Licht gelebt haben. Denn wie könnten Augenrudimente entstehen, wenn nicht früher einmal Augen vorhanden gewesen wären, die wirklich zum Sehen gedient haben, wenn nicht dem funktionslosen einmal ein funktionierender Teil vorausgegangen wäre? Die Systematiker sind denn auch im allgemeinen der Ansicht, daß die linterirdisch leben- den Tierarten sich von der Fauna ihrer Umgebung abgezweigt und an das Leben in vollkommener Dunkelheit angepaßt haben. Als eine zweite Gruppe rudimentärer Organe lernten wir be- 208 Fünftes Kapitel. reits die in der Ontogenie eines Organismus auftretenden kennen. Sehr häufig sind mit manchen Metamorphosen auch Rückbildungen verbunden ; sie sind meistens sogar notwendige und unmittelbare Begleiterscheinungen der fortschreitenden Entwicklung. Der Über- gang von der Kiemen- zur Lungenatmung, wie er sich bei Amphi- bienlarven vollzieht , hat eine Rückbildung der Kiemenblättchen und großer Teile des Visceralskeletts zur Folge. Von diesem bleiben später nur Rudimente in veränderter Gestalt und Funktion, wie z. B. das Zungenbein mit seinen Hörnern, erhalten. Die Ausbildung eines knöchernen Kieferapparates setzt bei den Säugetieren die entsprechenden knorpeligen Skelettstücke, das Palatoquadratum und Mandibulare, außer Funktion und schafft erst auf diese Weise die Möglichkeit, daß die rudimentär gewordenen Teile eine Verwendung beim Gehörorgan finden können (S. 200). Das Auftreten der bleibenden Niere wird die Ursache für die Verkümmerung der Urniere, die ja bei Fischen und Amphibien allein die Harnabsonderung besorgt. Urnierenreste können dann eine teilweise Verwendung für andere Zwecke finden. Die überwiegende Entwicklung der dritten und vierten Zehe läßt beide allein bei den Wiederkäuern mit der Bodenfläche in Berührung kommen und macht sie so zu den Stützpunkten für die Extremitäten. Infolgedessen verkümmern die funktionslos ge- wordenen Knochenstücke der ersten, zweiten und fünften Zehe und bleiben nur noch als zwecklose Rudimente in den Afterklauen fort- bestehen. Wie derartige Beispiele in überzeugender Sprache lehren, finden sich in der Entwicklung aller höher stehenden Organismen Prozesse der Fortbildung und Rückbildung in innigem Zusammenhang. Alle diese embryonalen Organrudimente aber sind wertvolle historische Dokumente, aus denen wir annäherungsweise einige Einblicke in die Formzustände der Vorfahren kette gewinnen können. In den auf Seite 192 bis 208 besprochenen Schlußfolgerungen finde ich mich in Übereinstimmung mit der Darwinistischen Schule. Insoweit das biogenetische Grundgesetz und die Rekapitulations- theorie in diesem begrenzten Sinne angewandt werden, kann ich ihnen ebenfalls beipflichten. Indessen wird die geforderte Be- schränkung bei weitem nicht überall geübt. Man sucht gewöhnlich dem biogenetischen Grundgesetz eine noch größere Tragweite zu geben. Indem man ganz die Unterschiede übersieht, die zwischen Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 209 Embryonalstadien einer Tierspezies und ähnlichen Formzuständen ausgebildeter Formen der gegenwärtigen Organismen weit bestehen, gibt man sich ohne Beweis dem Glauben hin, mit Hilfe des Grund- gesetzes die Abstammung der Lebewesen der Gegenwart und ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse zueinander mit einem hohen Grad von Sicherheit wissenschaftlich ermitteln zu können. Die hierbei zutage tretende, irrtümliche, schon von C. E. v. Baer beanstandete Denkweise, die sich zum Schaden der Morpho- logie ausgebildet hat, bedarf einer Aufklärung und Richtigstellung, die sich im Interesse einer gesunden Fortentwicklung der Wissen- schaft nicht vermeiden läßt. Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz in seiner alten Fassung. Zur richtigen Abgrenzung unseres Standpunktes haben wir uns jetzt noch über einige Punkte klar zu werden. Der erste Punkt ist der prinzipiell wichtigste. Er betrifft die Frage, von der alle weiteren Entscheidungen abhängen, inwieweit überhaupt ein Stadium in der Entwicklung eines heute lebenden Tieres einer Lebensform aus seiner Ahnenreihe auf Grund logischer Erwägungen entsprechen kann. Die Erörterung führt uns, wenn ich ihr Er- gebnis gleich vorausgreife, zu dem Schluß, daß von einer wirk- lichen Übereinstimmung zwischen den in Vergleich gestellten Ob- jekten nicht die Rede sein kann. Schon der Vergleich der Keim- zelle irgendeines Säugetieres oder Vogels als des ersten Stadiums der Ontogenese mit dem hypothetischen Anfangsglied der Ahnen- kette liefert hierfür den unwiderleglichen Beweis. Denn nach der Deszendenztheorie sind die durch Urzeugung entstandenen, einzelligen Organismen, von denen die Lebewelt ihren Ursprung genommen hat, von einfachstem Bau. Die Keimzellen der Säugetiere und Vögel dagegen sind nichts weniger als einfache Naturprodukte. Nach den früher entwickelten Gesichtspunkten, die uns zu dem Begriff der Artzelle (S. 69) geführt haben, besitzen sie als Anlage eine sehr verwickelte Organisation und eine auf ihr beruhende prospektive Potenz, von der es abhängt, daß aus jeder Art von Keimzelle nur ein Lebewesen ganz bestimmter Art entstehen kann. Sie sind schon selbst die nach allen Richtungen1 spezifisch be- stimmten Organismen, die sich aus ihnen entwickeln, nur im ein- zelligen Zustand. Dagegen haben eine Amöbe, eine Flagellate oder überhaupt alle anderen derartigen niederen, einzelligen Wesen kraft O. Hertwig. Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 210 Fünftes Kapitel. ihrer Organisation keine andere prospektive Potenz als nur wieder Einzellige der gleichen Art hervorzubringen. So führt uns schon gleich bei der ersten Erwägung die Re- kapitulationstheorie in ihrer alten Fassung, wir mögen sie betrachten, von welcher Seite wir wollen, in ein Dilemma: Denn wenn wir behaupten, daß die Eier der Säugetiere und der Vögel einfachste Urzellen sind, wie sie am Anfang der Phylogenese als Lebewesen niederster Art durch Urzeugung einmal entstanden sind, so müßten sie bei der üblichen Annahme einer monophyletischen Deszendenz einander artgleich sein. Wir geraten dann mit der Tatsache in Widerspruch, daß ihre Keimzellen die Anlagen für Säugetiere und für Vögel, also bereits etwas spezifisch genau Bestimmtes sind. Wenn wir dagegen das letztere als Grundlage annehmen und mit ihr die Vorstellung der Rekapitulation verbinden wollen, so be- finden wir uns wdeder mit der Hypothese einer natürlichen Ent- wicklung der Organismen in einem offen zutage tretenden Konflikt. Denn die Vorstellung, daß die Eizelle eine Anlagesubstanz ist, ver- bunden mit der Lehre von der Rekapitulation, führt uns, wie schon gelegentlich hervorgehoben wurde (S. 194), auf den Standpunkt der Anhänger der Präformationstheorie zurück. Wer also an der Theorie einer allmählich erfolgten Entstehung der höher organisierten Lebe- wesen aus niedersten, einfachen Ausgangsformen festhalten will, muß die Behauptung aufgeben, daß durch die Keimzellen das erste Stadium der Phylogenese, das der Einzelligen am Anfang der Ahnen- kette, rekapituliert wird. Denn beide in Parallele gestellten Vergleichs- objekte sind in ihrem Wesen nach ebenso verschieden, wie die ausge- bildeten Organismen der Gegenwart von ihren einzelligen Vorfahren. Wollen wir den Tatbestand, mit dem uns die allgemeine Bio- logie bekannt macht, unter einer Formel züsammenfassen, so können wir nur sagen : Mit der Zelle nimmtdieOntogeneseeines • jeden Lebewesens auch in der Gegenwart nur des- wegen wieder ihren Anfang, weil sie die elementare Grundform ist, an welche das organische Leben beim Zeugungsprozeß gebunden ist, und weil sie für sich schon die Eigenschaften einer Organismenart „der Anlage nach“ repräsentiert. Daher ist sie, losgelöst von der höheren Individualitätsstuf e, die ausder Ver- mehrung der Art zelle hervorgegangen ist, wieder im- stande, das Ganze zu reproduzieren. Die Keimzellen der gegen wä rt igen Lebewesen und ihre einzelligen Vorfahren am Beginn der Stammesgeschichte — mögen Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 2 1 1 wir sie als Amöben oder sonstwie bezeichnen — sind nur, insofern sie unter den gemeinsamen Begriff der Zelle fallen, miteinander vergleichbar, etwa ebenso wie die verschiedenartigsten Bäume unter dem ge- meinsamen Begriff des Baumes; im übrigen aber sind sie in ihrem eigentlichen Wesen als organisierte Naturobjekte so verschieden voneinander, daß man von einer Wiederholu n g der einzelligen Ahnenform durch die Entwicklung eines jetzt lebenden Organis- mus in keiner Weise sprechen kann. Die Erkenntnis des Widerspruchs , zu dem uns die Rekapitula- tionstheorie in ihrer alten Fassung führt, zeigt uns auch den Weg zu seiner Lösung. Wie ich in meinen Elementen der Entwick- lungslehre ausgeführt habe *) läßt sich die Ansicht, daß die Eizelle eine sehr zusammengesetzte Anlagesubstanz für das aus ihr ent- stehende, ausgebildete Geschöpf ist, mit dem die Wissenschaft be- herrschenden Gedanken einer natürlichen Entwicklung der Organis- men nur durch die Annahme verbinden, daß die Eizelle in der Stammesgeschichte ebenfalls eine allmähliche Entwicklung, welche zu dem aus ihr hervorgehenden Endprodukt in Beziehung steht, hat durchmachen müssen. Das heißt: sie ist aus einer Zelle mit wenigen und einfachen Anlagen zu einer unendlich und wunder- bar verwickelten Anlagesubstanz geworden. Oder mit anderen Worten: Wir müssen in der Stammesgeschichte (Phylogenie) einer Organismen art zwei verschiedene Reihen von Vorgängen ausein- anderhalten: i) die Entwicklung der Artzelle, welche sich in einer steten, fortschreitenden Richtung von einer einfacheren zu einer zusammengesetzteren Organisation des Idioplasmas fortbewegt, und 2) die sich periodisch wiederholende Entwicklung des vielzelligen Individuums aus dem einzelligen Repräsentanten der Art oder die einzelne Ontogenese, die im allgemeinen nach denselben Regeln wie in der zunächst vorausgegangenen Ontogenese erfolgt, aber jedesmal ein wenig modifiziert, entsprechend dem Betrag, um den sich die Artzelle selbst in der Weltgeschichte verändert hat. Beide Entwicklungsreihen müssen in einem kausalen Abhängig- keitsverhältnis stehen und einen vollständigen Parallelismus zuein- ander zeigen. Denn einmal muß jede Veränderung in der Anlage der Artzelle notwendigerweise einen entsprechend abgeänderten 1) O. Hertwig, Elemente der Entwicklungslehre, 6. Aufi., 1920. Schlußkapitel: Das ontogenetische Kausalgesetz. I45 2 12 Fünftes Kapitel. Verlauf der Ontogenese zur Folge haben. Und umgekehrt kann eine Veränderung, die auf späteren Stadien und im Endprodukt der Ontogenese durch äußere und innere Faktoren bewirkt worden ist, nur dann zu einem bleibenden Erwerb der Art werden und sich nur dann in der Folge immer wieder geltend machen, wenn sich das Idioplasma der Artzelle für die nächste Generation in ent- sprechender Weise abgeändert hat. Ich habe dieses Abhän gig- keits Verhältnis zwischen dem Eizustand einerseits und dem Verlauf und Endresultat der Ontogenese andererseits als das ontogen etische Kausalgesetz und als den Parallelismus zwischen Anlage und Anlage- produkt bezeichnet (s. meine Allgemeine Biologie, 5. Aufl., 1920, Kap. 27). Nach dem ontogenetischen Kausalgesetz schließt demnach das Entwicklungsproblem zwei Aufgaben in sich: Erstens ist zu unter- suchen, wie und durch welche Mittel die in der Keimzelle gegebene Anlage mittels der Ontogenese in die ausgebildete Endform über- geht, wie also das innere Entwicklungsgesetz, welches uns in ihrer unsichtbaren, ultramikroskopischen Or- ganisation gegeben ist, verwirklicht wird.. Hierin be- steht die vornehmste Aufgabe der vergleichend -deskriptiven und experimentellen Entwicklungslehre und vergleichenden Anatomie. Zweitens muß erforscht werden, wie in der Ahnengeschichte die Eigenschaften und Anlagen des befruchteten Eies entstanden sind, durch welche es wieder der Ausgangspunkt eines bestimmt ge- richteten, komplizierten ontogenetischen Prozesses wird. Hier liegen die Hauptaufgaben der exakten Vererbungswissenschaft. Ihre Untersuchungsobjekte sind die heute lebenden Organismen; ihre Methoden sind das biologische Experiment und die Beobachtung von Kultur versuchen, die unter abgeänderten Bedingungen über Jahrzehnte auszudehnen sind. Hier liegen die schwierigsten und höchsten Probleme, welche der biologischen Forschung in Gegen- wart und Zukunft gestellt sind, die Frage nach der Veränderlich- keit der Organismenwelt unter dem Einfluß äußerer Faktoren, die Frage, was man sich unter Anlage in der Eizelle vorzustellen hat, wie Anlagen (Gene) entstehen und schwinden, und in welcher Weise sie überhaupt den gesetzmäßigen Ablauf der Entwicklung be- stimmen. Nach diesem Programm ist auch die Disposition über das Werden der Organismen im III. bis XIII. Kapitel entworfen worden. Aus denselben logischen Gründen, die für das erste Stadium der Entwicklung, für die Eizelle, geltend gemacht werden müssen, Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 213 können auch alle übrigen aus dem Ei hervorgehenden Entwick- lungsstadien nicht als Wiederholungen einer Reihe aus gestorben er Ahnenformen bezeichnet werden. Denn jede Veränderung, welche die Keimzelle einer Spezies als Anfang einer Ontogenese in ihren Anlagen im Vergleich zu früheren Perioden der Vorfahren geschichte erfahren hat, muß nach der schon früher gegebenen Begründung auch eine entsprechende idioplasmatische Veränderung aller von ihr abstammenden Embryonalzellen zur Folge haben. Daher tragen die Gastrulae eines Echinodermen, eines Cölenteraten, eines Brachio- poden, eines Amphioxus trotz aller äußeren Ähnlichkeit stets der Anlage nach und als solche für uns nicht erkennbar, die Merk- male ihres Typus, ihrer Klasse, ihrer Ordnung und ihrer Spezies an sich; alle Gastrulastadien sind also in Wahrheit ebensoweit vonein- ander unterschieden, wie die nach allen ihren Merkmalen aus- gebildeten, ausgewachsenen Repräsentanten der betreffenden Art. Es kann daher auch eine Gastrula der Ontogenie nicht als Wieder- holung einer Dauerform bezeichnet werden, wie sie uns bei der vergleichend-anatomischen Betrachtung des Tierreiches als Polyp entgegentritt, und dieser kann nicht als Vorfahre heute lebender höher organisierter Tierarten gelten, auch wenn er rein morphologisch betrachtet, die Form eines Bechers mit Urdarm und Urmund hat und aus Ektoderm und Entoderm zusammengesetzt ist. Dieselben Erwägungen wie bei der Beurteilung eines Gastrula- stadiums sind ebenso maßgebend, wenn es sich um die Ver- gleichung eines Säugetierembryos, der noch Schlundspalten, ein- faches Herz und einfachen Kreislauf besitzt, mit einem kiemen- atmenden Fisch oder einem perennibranchiaten Amphibium handelt. Ebensowenig wie durch das Gastrulastadium eines Amphioxus ein Hydroidpolyp aus dem Stamm der Cölenteraten, wird durch den Säugetierembryo mit Schlundspalten eine kiemenatmende Dauer- form aus der Klasse der Fische oder Amphibien rekapituliert. In dieser Feststellung liegt kein Widerspruch zu unserer früheren Äußerung, daß man aus dem Auftreten von Kiemenspalten bei den Säugetierembryonen auf eine Kiemenatmung und auf ein Wasser- leben der Vorfahren der Säugetierklasse schließen könne. (Vgl. S. 195.) Denn nicht dagegen wenden wir uns, daß die jetzt lebenden Tierarten von niedriger organisierten Vorfahren unbe- kannter Art abstammen, sondern gegen das unbegründete Beweis- verfahren, nach welchem diese hypothetischen Vorfahren in Stämmen und Klassen des ge gen w är ti gen Tier- systems aufgesucht und ihm eingeordnet werden. Es scheint uns wissenschaftlich nicht zulässig, zu schließen, daß die Fünftes Kapitel. 114 Säugetierembryonen, weil sie vorübergehend eine Chorda bilden, deswegen von Amphioxus- oder Cy clostom en-artigen Vorfahren ab- stammen, oder weil sie in einer Embryonalperiode mit Schlund- spalten ausgestattet sind, ihre Ahnen in der Klasse der Fische ge- sucht werden müssen. Denn die Fähigheit zur Entwicklung einer Chorda oder das Vermögen, Schlundspalten etc. zu bilden, sind überhaupt allgemein systematische Merkmale des ganzen Wirbeltierstammes. Wenn man auch gewöhnlich bei der Bestimmung der Or- ganismen die Merkmale zu ihrer Charakteristik behufs Einordnung in Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten dem völlig ausgebildeten Tier zu entnehmen pflegt, so ist vom rein wissen- schaftlichen Standpunkt doch nicht zu bestreiten, daß zu einer er- schöpfenden systematischen Charakteristik einer Art auch die Auf- zählung aller ihrer embryonalen Merkmale ebensogut hinzugehört (Man vergleiche hierzu das VII. Kap.) Denn das Wesen einer Art findet seinen vollen Ausdruck doch erst in der lückenlosen Formen- reihe vom befruchteten Ei bis zur ausgebildeten Endform. Daher konnten wir auf einer der vorausgehenden Seiten den Grundsatz aussprechen, daß, wenn wir einen vollen Einblick in den unserer Kenntnis verborgenen, ultramikroskopischen Bau der Eizellen aller Tiere besitzen würden, die Systematiker allein schon auf Grund dessen die Eizellen der verschiedenen Tierarten nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit in Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Arten, Unterarten etc. würden einteilen können. Im übrigen erkennen die Systematiker den Grundsatz, embryo- nale Merkmale zur systematischen Charakteristik zu benützen, mehr oder minder unbewußt schon seit geraumer Zeit an. So teilen die Botaniker die Phanerogamen nach einem onotgenetischen Merkmal in Monocotylen und Dicotylen ein die Zoologen benutzen die An- wesenheit embryonaler Eihüllen zur Einteilung der Wirbeltiere in Anamnia und Amnioten. Medusen und Hydroidpolypen, Blasen und Bandwürmer, die einstmals als Arten beschrieben und zu ver- schiedenen Familien gerechnet worden waren, mußten nach Ent- deckung des Generationswechsels als verschieden gestaltete Reprä- sentanten einer Art im System vereint werden. Alle Formen vom befruchteten Ei bis zu der aus ihm entwickelten Endform sind eben spezifisch bestimmt. Daher kann man aus dem Auftreten von einer Chorda und von Schlundspalten in der Ontogenese der Säugetiere im Verein mit anderen Merkmalen doch nur schließen, daß die Säugetiere zu Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 215 den Wirbeltieren gehören, für deren Ontogenese die Bildung von Chorda und von Schlundspalten ein allgemein zutreffender Charakter- zug ist, daß also auch ihre Ahnen Wirbeltiere gewesen sind. Da- gegen liegt kein Grund vor, ihre Ahnen unter einer Klasse des Wirbeltierstammes wie der Fische zu suchen, welche von den Säugetieren wegen ihrer abweichenden systematischen Merkmale mit Recht unterschieden werden. Zwar ist es richtig, daß Amphioxus und die C}rclostomen, oder die Fische, Dipneusten und Amphibien im Vergleich mit den Säuge- tieren, was die oben besprochenen Organe betrifft, niedriger organi- sierte Wirbeltiere sind. Denn während bei den Säugetieren Chorda und Schlundspalten nur vergängliche embryonale Organe sind, die durch andere Bildungen fortschreitender Differenzierung ersetzt werden, stellen die Chorda bei Amphioxus und den C}'clostomen, oder die Schlundspalten bei den Fischen etc. Dauerorgane vor. Sie schreiten also, wie man auch sagen kann, über ein bestimmtes em- bryonales Stadium der Säugetiere nicht hinaus oder sind auf ihm stehen geblieben. Aus diesem Umstand läßt sich aber ebensowenig folgern, daß die Vorfahren der Säugetiere einstmals zur Amphioxus- oder Fischgruppe gehört haben, als man annehmen wird, daß nach abermals Millionen Jahren Nachkommen unserer heutigen Am- phioxus- oder Fischgruppe sich zu Angehörigen der Säugetierklasse fortentwickelt haben werden. „Im Grunde ist also nie der Embryo einer höheren Tierform“ — wie schon C. E. v. Baer ganz richtig bemerkt hat - — einer anderen Tierform gleich.“ Zu den Fehlschlüssen der Rekapitulationslehre hat nicht wenig auch das bis zu Meckels Zeiten zurückgehende Verfahren beige- tragen, aus den entwicklungsgeschichtlichen und aus vergleichend- anatomischen Befunden zwei parallele Formenreihen zu konstruieren und ihre einzelnen Glieder miteinander zu vergleichen. Man pflegt hierbei mit Stillschweigen darüber hi nwegzu sehen, daß „die Formen- reihe, welcher der individuelle Organismus während seiner Ent- wicklung von der Eizelle bis zu seinem ausgebildeten Zustand durch- läuft“, sich in sehr wesentlichen Punkten, sowohl in morphologischer wie in physiologischer Hinsicht von der langen Formenreihe unter- scheidet, welche die tierischen Vorfahren desselben Organismus repräsentieren würden, wenn wir sie uns als A, B, C, D 00 hinter- einandergereiht vorstellen. Denn die Stadien einer Ontogenese lassen sich, da es sich bei ihnen um einen in kontinuierlichem Fluß befind- lichen Prozeß von gestaltlichen Umwandlungen handelt, streng ge- nommen, überhaupt nicht als getrennte Formen gegeneinander ab- Fünftes Kapitel. 2 16 grenzen. Ein Stadium geht unvermittelt und ohne Grenze in das andere über. Mögen wir eine befruchtete Eizelle, eine Keimblase, eine vierblätterige Keimscheibe, einen Embryo mit Schlundspalten etc. von einem bestimmten Tier vor uns haben, so ist es doch immer ein und dasselbe tierische Individuum , nur in verschiedenen Stufen seiner Ausbildung. Die von uns vorgenommene Trennung und Unterscheidung einzelner Stufen ist durchaus eine künstliche und willkürliche. Umgekehrt besteht die Formenreihe, zu der wir uns die von- einander abstammenden Ahnen aneinandergereiht vorstellen, aus wirklich getrennten und in ihren Merkmalen vollkommen ausgebil- deten Individuen. Infolgedessen können sich diese auch, wie ja jedermann weiß, auf direktem Wege gar nicht ineinander um- wandeln, sie treten nur dadurch in einen genetischen Zusammen- hang, daß sie sich durch Keimzellen fortpflanzen, welche erst auf Grund sich immer wieder neu wiederholender, ontogenetischer Prozesse die ausgebildeten Individuen liefern. Aus diesem Grunde ist die ganze Voraussetzung des biogene- tischen Grundgesetzes eine logisch unhaltbare. Es lassen sich keine zwei Reihen von Formen, eine ontogenetische und eine phylo- genetische Formenkette konstruieren, die sich in einer Parallele einander gegenübersteilen lassen und deren aufeinanderfolgende Glieder einander entsprechen und vergleichbar sind. Wenn man z. B. in der Ahnenreihe die Urgroßeltern, Großeltern, Eltern eines menschlichen Kindes D mit den Buchstaben A, B, C be- zeichnet, so kann man doch in der Entwicklung des Kindes D kein Stadium von A, B und C verfolgen, vielmehr geht das Kind D aus seiner eigenen Anlage hervor und wird zum Erwachsenen, ohne erst A, B und C zu werden. Wenn hierbei auch D diese und jene spezielle Eigenschaft von den ihm vorausgegangenen Generationen erbt, so kann man doch nicht sagen, daß es in seiner Entwicklung die Ahnenreihe: Urgroßeltern, Großeltern, Eltern durchlaufen oder rekapituliert habe. Doppelt unmöglich wird diese Vorstellung bei der geschlechtlichen Zeugung, da bei ihr das Zeugungsprodukt gleichzeitig zwei nebeneinander geordnete Formen, die väterliche und die mütterliche etc., rekapitulieren müßte. Der Fehler, der im biogenetischen Grundgesetz verborgen ist, tritt sofort zutage, wenn man sich vorstellen wollte, daß ein Kind die Vorfahren, Vater und Mutter, Großeltern und Urgroßeltern väterlicher und mütterlicher Seite in irgendeiner Weise als Formen durchlaufen oder irgendwie rekapituliert habe. Im Lichte der Geschichte der Wissenschaft betrachtet, bietet das Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 217 biogenetische Grundgesetz in mancher Hinsicht ein Gegenstück zu der Einschachtelungstheorie, zu welcher sich einst die Evolutionisten durch die Annahme einer Präformation genötigt sahen (Vgl. S. 6). In dem einen Falle werden die Nachkommen (Descendenten) des von Gott geschaffenen ersten Exemplars der verschiedenen Tierarten gleich mitgeschaffen in der Weise, daß sie in diesem als Miniatur- keime mit ein geschachtelt sind; in dem anderen Falle wTerden die Vor- fahren (Ascendenten) in die Ontogenese des sich entwickelnden Geschöpfes als ineinander sich umwandelnde Formen mitaufge- nommen. Auch in der Theorie des Ahnenplasma, welche uns im VI. Kapitel noch beschäftigen wird, tritt uns diese umgekehrte Form der Einschachtelung der Vorfahren in den Keim der Nach- kommen wieder entgegen (S. 249). Wenn schon das eben angeführte Argument allein zwingen würde, die ganze Lehre von zwei Formenreihen, einer phylogene- tischen und einer ontogenetischen, deren einzelne Glieder direkt vergleichbar sein sollen, aufzugeben, so mögen doch bei der großen Tragweite des Gegenstandes auch noch weitere gegen sie sprechende Gesichtspunkte erwähnt werden. In physiologischer Hinsicht ist ein embryonales Stadium etwas ganz anderes als eine ausgebildete Tierform. Diese setzt sich aus funktionierenden Organen und differenzierten Geweben zusammen. Es überwiegen in ihr die Substanzen, welche man in der Histologie als Protoplasmaprodukte, Interzellularsubstanzen, Muskel- und Nerven- fibrillen etc. zusammenfaßt, gegenüber den formativen Substanzen, dem Idioplasma und Protoplasma. Embryonale Organe und Zellen dagegen sind etwas Werdendes. Sie sind daher, je näher sie sich noch am Anfang des Entwicklungsprozesses befinden, um so mehr un- differenziert, und in demselben Maße treten die Protoplasmaprodukte gegenüber den formativen Substanzen zurück. Auch wenn sich Ge- hirn, Rückenmark, Sinnesorgane, Magen, Darm und Drüsen schon durch die Anordnung der Embryonalzellen gut erkennen und auf spätere funktionierende Organe beziehen lassen, bleiben sie doch meist noch längere Zeit in einem funktionslosen Zustand und müssen auch in der Regel noch mehr oder minder tiefgreifende Umwand- lungen erfahren, ehe sie wirklich funktionsfähige Dauergebilde werden. Vorher sind sie nur vorbereitende Durchgangsbildungen. Aus diesem Grunde können alle Embryonalformen , wenn wir sie mit den fertigen Einrichtungen niedriger entwickelter Tier- arten vergleichen wollen, zu ihnen nur in sehr unvollkommener Weise Vergleichspunkte darbieten. Am klarsten läßt sich dies an den schon früher erwähnten 2 I 8 Fünftes Kapitel. Organen mit Funktionswechsel erkennen. Nicht selten bieten in der Entwicklung eines Tieres einzelne, schon deutlich unterscheidbare Organanlagen morphologische Beziehungen (Homologien) zu fertigen Organen von systematisch tiefer stehenden Tieren dar, sind aber trotzdem von vornherein für ganz andere Zwecke bestimmt als die mit ihnen verglichenen Bildungen. Es sei nur an die schon früher (S. 195) besprochenen Schlundbögen der Säugetierembryonen er- innert, welche schließlich zu rudimentären Skeletteilen von ganz an- derer Form und Funktion als die mächtigen Kiefer- und Kiemen- bögen der Fische und der perennibranchiaten Amphibien, nämlich zu Hammer, Amboß und Steigbügel werden. Während sie vom ver- gleichend-anatomischen Standpunkt aus als Homologa von Palato- quadratum, Mandibula und Hyomandibulare der Selachier bezeichnet werden müssen und bei philosophischer Naturbetrachtung uns auf ein Ahnenstadium hinweisen können, wo sie auch wirklich als Kiefer funktionierten, kommen sie in der Ontogenie gar nicht in die Lage, ein solches funktionelles Stadium zu durchlaufen, sondern tragen von vornherein die Entwicklungsrichtung oder die prospektive Potenz zu Gehörknöchelchen in sich. Wie sehr dem biogenetischen Grundgesetz ein fester Boden fehlt, geht auch aus folgender Erwägung hervor. Die als phylogenetisch bezeichnete Reihe der Tierformen, die man der Reihe embryonaler Stadien eines Säugetieres oder des Menschen in Parallele zu stellen und zu Vergleichen zu benutzen pflegt, also die Reihe: Amphioxus, Cyclostomen, Selachier, Amphibien, Reptilien, ist in ziemlich will- kürlicher Weise aus Tierformen konstruiert worden, die als Zeit- genossen der Säugetiere selbstverständlich in gar keinem Ahnen- verhältniss zu ihnen stehen können. Man glaubt sie nur nach dem Ausbildungsgrad und der Beschaffenheit einzelner ihrer Organe zu einer scheinbar genetischen Reihe anordnen zu können. Gegenüber solchem willkürlichen Verfahren ist aber nichts gewisser, als daß die Fische und Amphibien in den Formen, wie sie heute leben, nicht die Vorfahren der Säugetiere gewesen sind. Durch die abschwächende Bezeichnung „amphibienähnlich“ oder „fischähnlich“, wie man gewöhn- lich sagt, ist für ein besseres Verständnis der wirklichen Ahnenreihe nichts gewonnen. Denn in der unmeßbar langen Zeit, die seit der Ent- stehung der Säugetiere aus kiemenatmenden, im Wasser lebenden Wirbeltieren verflossen ist, werden sich Fische und Amphibien unseres heutigen Systems wohl auch entsprechend stark in ihrer Vorfahren- reihe verändert haben müssen. Denn diese Annahme darf jedenfalls für die Fische und Amphibien der Gegenwart mit demselben Recht wie für die Säugetiere gemacht werden. Unser Tiersystem, das mit Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 2 19 seiner Einteilung und Diagnose nur auf die Gegenwart berechnet ist, würde überhaupt in der Vorzeit, wo die Säugetiervorfahren noch keine Säugetiere gewesen sind und dementsprechend überhaupt die ganze Fauna eine andere gewesen ist, gar nicht mehr anwendbar sein. Der Systematiker, der sich in die Vorzeit zurückversetzen könnte, würde auf Grund der in ihr bestehenden, ganz veränderten Verhältnisse der Lebewelt eine von der jetzigen entsprechend abweichende Klassi- fikation vornehmen und die Vorfahren der heutigen Amphibien und Fische eventuell zu ganz anderen systematischen Gruppen zusammen- fassen, wie er es mit den Vorfahren der Säugetiere tun müßte, da sie als „Säugetiere“ noch nicht existierten. Somit schwindet hier der Boden für ein wissenschaftliches Beweisverfahren und für ein me- thodisch geordnetes Vorgehen vollkommen. Man muß Carl Gegenbaur zustimmen, wenn er in einer seiner kleineren kritischen Schriften die Ontogenie als ein Gebiet bezeichnet, „auf dem beim Suchen nach phylogenetischen Be- ziehungen eine rege Phantasie zwar ein gefährliches Spiel treiben kann, auf dem aber sichere Ergebnisse keineswegs überall zutage liegen“, und wenn er „vor den Irrwegen warnt, die zur Konstruktion fiktiver Zustände, ja ganz fiktiver Organismen führen“, da un- kritisches Verhalten zu den „ontogenetischen Ergebnissen den Boden der Erfahrung verlasse und in bodenlose Spekulation verfalle“. Wenn die Vorstellung, daß die Keimformenreihe eine Wieder- holung der Stammformenkette ist, sich in dieser Form nicht auf- recht erhalten läßt, was sollen wir dann an ihre Stelle setzen? Eine richtigere Vorstellung der ursächlichen Beziehungen, die zwischen Ontogenese und Ahnengeschichte bestehen, gewinnen wir. wenn wir den ganzen Formenkreis, der von der befruchteten Ei- zelle zum ausgebildeten Repräsentanten der Art führt, zum Aus- gangspunkt unserer Betrachtung wählen und zu einer begrifflichen Einheit, einer Ontogenie, zusammenfassen. Dann setzt sich die Ahnengeschichte jedes Individuums einer Tierart aus zahllosen Onto- genien zusammen, die sich wie die Glieder einer Kette aneinander- schließen. Der Vorzug unserer Betrachtungsweise ist ein doppelter. Denn einmal sind die Glieder der genealogischen Kette, wie man sich bildlich ausdrücken kann, Größen, die sich wirklich unter- einander vergleichen lassen , und zweitens stehen die einzelnen Glieder auch wirklich in einem genetischen . und ursächlichen Zu- sammenhang untereinander, da die Endform einer Ontogenie, das ausgebildete Individuum, wieder die Eizelle liefert, welche der Aus- gangspunkt der nächstanschließenden Ontogenie wird. Wer nun, wie ich, der Lehre von der natürlichen Schöpfungs- 220 Fünftes Kapitel. geschichte der Organismen anhängt, wird annehmen, daß die ein- zelnen Glieder der genealogischen Kette in geringem Grade veränderliche Größen sind, trotzdem in den unmittelbar an- einanderschließenden Entwicklungskreisen der Ablauf ein sehr gleich- artiger ist und gewöhnlich auffälligere Differenzen nicht erkennen läßt. Er wird ferner annehmen, daß die einzelnen Glieder, je weiter wir sie historisch nach rückwärts verfolgen, in sehr langen Zwischen- räumen allmählich immer einfacher werden, daß sowohl die End- formen in ihrer Organisation als auch gleichzeitig die Eizellen in ihrer Anlage sich vereinfachen, und daß Hand in Hand hiermit der Ablauf einer Ontogenie mit ihren Zwischenformen und Übergangs- stadien ein weniger komplizierter und dementsprechend auch ein kürzerer wird. Das Gesetz in der Entwicklung würde sich daher jetzt etwa in folgende allgemeine Fassung bringen lassen. Jede einzelne Ontogenie ist im Vergleich zu der ihr vorausgegangenen, wenn wir sie in der Sprache der Physik als ein Kräftesystem auffassen, um ein Differential verändert; niemals beginnt daher ein späteres Glied einer phylogenetischen Kette bei einer aufProgression beruhenden Entwicklung auf dem Aus - gangspunkt eines weiter zurück gelegenen Gliedes. Ei- und Samenzelle werden, je mehr wir uns in der Phylogenese der Gegenwart nähern, um so reicher an neuen Anlagen und dadurch in ihrem Wesen von den Keimzellen entfernter Ahnen generationen immer mehr verschieden. Mit jeder neuen Anlage in der Art- zelle wird aber zugleich der ganze Ablauf der Onto- genie in allen ihren Stadien mehr oder minder ver- ändert. Denn alle'vom befruchteten Ei abstammenden Zellen sind um ein Differential gegen früher ver- schieden geworden und müssen sich dementsprechend in dem aus ihnen entstehenden System in ein neues Gleichgewicht zueinander setzen. Daher befindet sich während der Ontogenie die Artumbildung im leb- haftesten Fluß, während sie im ausgebildeten Indi- viduum mehr stabil geworden ist In welcher Weise, sich dies äußert, soll an drei Verhältnissen embryonaler Organisation noch etwas näher besprochen werden- Wenn wir ihnen einen Namen zur kurzen Unterscheidung und besseren Orientierung geben wollen, so können wir sie bezeichnen Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 22 1 i) als innere ontogenetische Anpassung, 2) als Interpolation larvaler Organe, die auf ontogenetischer Anpassung an äußere Bedingungen beruht, 3) als Heterochronie. 1. Innere ontogenetische Anpassung. Eins der schönsten und lehrreichsten Beispiele hierfür ist die Ansammlung einer größeren Menge von Deutoplasma in der Ei- zelle während ihrer Oogenese im Eierstock. Bekanntlich unter- scheiden sich in dieser Beziehung die Eier in den verschiedensten Tierklassen in sehr erheblicher Weise. Auch bei der Dotterbildung handelt es sich in bezug auf Menge, Qualität und Verteilung seiner einzelnen Bestandteile um besondere Anlagen der Artzelle, die in jeder Tierart verschieden und erst allmählich in der Phylogenese erworben worden sind. Indem das embryonale Urei entsprechend seiner besonderen Beanlagung Dotter im Eierstock erwirbt, geht es bereits, wie von mehreren Forschern mit Recht geltend gemacht worden ist, eine Art Vorentwicklung ein, durch welche der nach der Befruchtung beginnende, eigentliche Entwicklungsprozeß außer- ordentlich beeinflußt und in seinem Verlaufe in artspezifischer Weise abgeändert wird. Ein Vergleich der Entwicklung von Eiern, die verschiedene Verhältnisse der Ansammlung und Verteilung des Deutoplasmas darbieten, gibt uns hierüber die lehrreichsten Auf- schlüsse. Ich verweise zur Erläuterung auf die sehr dotterreichen Eier der Reptilien und Vögel. Aus der gewöhnlichen ursprüng- lichen totalen Teilung ist bei ihnen eine partielle geworden. Sie findet ihre einfach mechanische Erklärung in dem großen, durch die Dotteransammlung entstandenen Mißverhältnis zwischen dem Protoplasma als der aktiven, die Teilung bewirkenden Substanz und dem passiven Deutoplasma, das von ersterem nicht mehr be- herrscht und in zwei Hälften geteilt werden kann. Durch den in der Phylogenese der Reptilien und Vögel allmählich erworbenen Dottergehalt des Eies wird aber ein eigenartiges Gepräge nicht allein dem Ablauf des Furchungsprozesses aufgedrückt, sondern auch später der ganzen Bildungsweise der Keimblase, der Gastrula und der Keimblätter. So entstehen zahlreiche unterscheidende Merk- male im Vergleich zur Entwicklung der dotterarmen Eier des Am- phioxus oder der mit reicherem Gehalt an Deutoplasma ausgestatteten Eier der Amphibien. Und noch auf viel spätere Stadien des Ent- wicklungsprozesses erstreckt sich der Einfluß des während der Oo- genese vermehrten Dottermaterials im Ei der Reptilien und Vögel. Denn auch die Bildung der Körperformen, z. B. des Darm- und 222 Fünftes Kapitel. Rumpfrohrs durch Abfaltung aus einem kleinen Bezirk der zuerst flach ausgebreiteten Splanchnopleura und Somatopleura, ebenso die abweichende Entstehung des Herzens aus zwei getrennten Hälften an den Firsten der Darmfalten steht in ursächlichem Zusammen- hang mit der reicheren Ansammlung von Deutoplasma im Ei. End- lich ist auch eine Folge desselben die Ausbildung einer besonderen sackförmigen Erweiterung am Darmrohr zur Aufnahme des Dotters, und dies macht dann wieder einen besonderen Dotterkreislauf mit Venae und Arteriae omphalomesentericae und mit einem Sinus ter- minalis notwendig, damit der Dotter allmählich resorbiert und zum embryonalen Wachstum verwendet werden kann. In dieser Weise, die durch das angeführte Beispiel am besten erläutert wird, ist überhaupt die Entwicklung aus dem Ei von An- fang bis zu Ende eine korrelative; sie beruht auf einer innerem stets von neuem durchgeführten, ontogenetischen Anpassung (vgl. auch S. 167). Von der Anlage der Eizelle, Dotter in sich auszu- bilden, und von ihren Folgen kann man aber wohl mit Recht sagen: kleine Ursachen, große Wirkungen. Es ist dies eine Erfahrung, die man in der Ontogenese in dieser oder jener Form häufig machen kann. 2. Interpolation larvaler Organe, die auf onto- genetischer Anpassun g an äußere Bedingungen beruht. Wie jedem Embryologen bekannt ist, gibt es in den ver- schiedensten Tierklassen ontogenetische Bildungen, die nur für be- sondere Anforderungen des embryonalen und des larvalen Lebens auf einem bestimmten Stadium vorübergehend erworben sind. Sie haben in den ausgebildeten Individuen der Vorfahrenkette über- haupt nicht existiert und werden auch jetzt, weder in dieser oder jener Form, in den ausgebildeten Zustand mitübernommen. Sie sind also in die Reihenfolge ontogenetischer Stadien ganz neu und auch nur vorübergehend eingeschoben oder interpoliert worden. Sie lehren uns, daß wie der ausgebildete, so auch der in Entwick- lung begriffene Organismus sich in allen seinen Teilen unter den Einwirkungen seiner Umgebung befindet und auf sib reagiert, sich ihnen daher zu jeder Zeit ebensogut wie später anpassen muß. Man kann sogar von vornherein erwarten, daß eine Anpassung während der Anfangsstadien der Ontogenese viel leichter als später beim ausdifferenzierten Individuum erfolgen wird, da der Embtyo aus einem viel plastischeren Material, nämlich aus den für vielseitige Verwendung mehr geeigneten Embryonalzellen besteht. Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 223 Bekannt sind in der Entwicklung der wirbellosen Tiere cha- rakteristische Larvenformen, die nach Verlassen der Eihüllen ent- weder im Wasser oder auf dem Lande sich selbst ernähren, mit besonderen Organen hierfür während eines längeren Zeitraums ihres Larvenlebens ausgerüstet sind, diese aber später durch Metamorphose verlieren und durch definitive Organe des ausgebildeten Zustandes ersetzen. Ich erinnere an den Pluteus und die Auricularia der See- igel und Seesterne, oder an den Nauplius und die Zoea, welche in der Entwicklung vieler Crustaceen als eigentümliche Larvenformen auftreten und mit besonderen, zum Teil vergänglichen Kauwerk- zeugen und Extremitäten ausgerüstet sind. Ich verweise ferner auf die Insekten, besonders auf die Abteilungen mit vollkommener Meta- morphose, mit den Stadien der Raupe, der Puppe und der Imago. Auch in einzelnen Abteilungen der Wirbeltiere treten besondere, nur für einzelne Perioden des embryonalen Lebens vorübergehend erworbene Organe auf. So entwickeln z. B. die Kaulquappen an ihren Mundrändern Hornplatten und Hornzähnchen als einen provi- sorischen Kauapparat. Während der Metamorphose wird er mit manchen änderen Teilen rückgebildet und durch ein Gebiß von echten Dentinzähn chen ersetzt. Namentlich aber sind bei den Wirbel- tieren die verschiedenen Eihüllen, wie Amnion, seröse Hülle resp. Chorion und Allan tois zu nennen, durch deren Besitz sich die Em- bryonalstadien der Amnioten in so auffälliger Weise von den ent- sprechenden Stadien der systematisch tiefer stehenden Anamnia unterscheiden. Ein sehr wichtiges, aber vergängliches und nur für die Entwicklung berechnetes Organ ist die Placenta der Säuge- tiere. Sie entsteht durch Anpassung der äußeren Eihaut an die Schleimhaut der Gebärmutter im Dienst der embryonalen Ernährung. Nur durch den Placentarkreislauf wird es ermöglicht, daß bei den Säugetieren, zumal in den höheren Ordnungen, die Nachkommen- schaft schon bei der Geburt eine so stattliche Größe und hohe Aus- bildung erreicht. Obwohl die Placenta nur ein vergängliches An- hangsgebilde des Embryos ist, läßt sich doch auch bei ihrer Ein- schaltung der korrelative Charakter aller Entwicklungsprozesse in ihrem gegenseitigen Verhältnis deutlich erkennen. Es ist ja be- kannt, wie ihr Vorhandensein beim Menschen vorübergehend einen umgestaltenden Einfluß auf das Herz, die großen Gefäßstämme und den Blutkreislauf bis zur Geburt ausübt. Erst mit dem Aufhören des Placentarkreislaufs beginnt sich ja das Foramen ovale zu schließen, beginnen der Ductus Botallii, die beiden Arteriae um- bilicales und die Vene gleichen Namens zu obliterieren und sich zu den gleichnamigen Ligamenten umzubilden. 224 Fünftes Kapitel. 3. Die Heterochronie in der Anlage der Organe. Wenn man die Embryonen bei verschiedenen Wirbeltieren unter dem Gesichtspunkt miteinander vergleicht, in welcher zeitlichen Folge bei ihnen die einander entsprechenden Organe angelegt werden und welchen Entwicklungsgrad sie auf einem bestimmten Stadium erreicht haben, so begegnet man oft erheblichen Unterschieden, selbst zwischen Arten, die sich im System sehr nahestehen. Zugleich gelangt man hierbei bei Anstellung phylogenetischer Spekulationen zu der Überzeugung, daß das Auftreten einzelner Organe im Laufe der Ontogenese im Vergleich zu anderen nicht der Reihenfolge entspricht, in der sie in der Stammesgeschichte nach wohlbegründeter Annahme müssen erworben worden sein. Derartige Verhältnisse sind es, welche unter dem Namen der Heterochronie zusammen- gefaßt worden sind 1). Hierfür einige Beispiele. So werden die echten Dentinzähne bei den Larven der Tritonen und wohl der meisten geschwänzten Amphibien auf einem sehr viel früheren Entwicklungsstadium ge- bildet, als bei den Kaulquappen. Bei diesen entsteht ja vorher erst ein provisorischer, längere Zeit funktionierender Kauapparat in Form der Hornzähne, die während des Kaulquappenstadiums zur Nahrungs- aufnahme dienen. Hier liegt also eine Heterochronie in der An- lage der Zähne beim Vergleich der Entwicklung der Tritonen mit derjenigen der Anuren vor. Oder nehmen wir einen anderen Fall. Wenn man das Alter der Organe nach ihrem Auftreten in der Tierreihe oder, wie man auch sagen kann, im Hinblick auf ihre Stammesgeschichte abzu- schätzen versucht, so sind ohne Zweifel die Dentinzähne viel ältere Gebilde als die Lungen der Säugetiere. Denn mit Zähnen sind schon alle kiemenatmenden Wirbeltiere, wie Selachier und Teleostier, bei denen es überhaupt nicht zur Entwicklung von Lungen kommt, oft sehr reichlich ausgerüstet, nicht nur an den Kieferrändern, sondern auch auf vielen anderen Belegknochen der Mundhöhle. Trotzdem entwickeln sich bei den Embryonen der Säugetiere die Lungen sehr viel früher als die Zähne, also in umgekehrter Reihen- folge als man es auf Grund der Phylogenese, d. h. nach der Zeit ihres Erwerbs in der Ahnenreihe erwarten sollte. Derartige Inkongruenzen in der zeitlichen Anlage einzelner Organe oder Heterochronien sind häufig nachzuweisen. Sie er- 1 J Keibel, F., Über den Entwicklungsgrad der Organe in den verschiedenen Stadien der embryonalen Entwicklung der Wirbeltiere. Handbuch der vergleich, und experim. Entwicklung sg es ch. der Wirbeltiere, Bd. 3, Teil 3, 1906. Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 225 schweren, wie sich leicht verstehen läßt, noch mehr als es schon ans früher angeführten Gründen der Fall ist, die Einteilung des Entwicklungsprozesses in einzelne Stadien, sofern sie sich bei ver- schiedenen Tieren einander genau entsprechen sollen. Nicht minder stehen sie in teilweisem Widerspruch zu der Ansicht, nach welcher die embryonalen Formen in der Reihenfolge entstehen sollen, wie sie in der Ahnenreihe erworben worden sind. Dagegen lassen sie sich leicht erklären nach dem Prinzip, daß bei allen Entwicklungs- prozessen überall und zu jeder Zeit innere Anpassungen aller Teile, aller Organe und Gewebe, zueinander stattfinden. In dieser Weise aufgefaßt, gesellen sich auch die Heterochronien zu den Beweisen für den korrelativen Charakter des Entwicklungsprozesses (S. 167). Damit sich Heterochronien ausbilden, müssen zwei Bedingungen Zusammentreffen. Erstens muß es sich um funktionell verschieden- artige Organe handeln, die mit zunehmender Komplikation der tierischen Organisation aus verschiedenen Keimblättern und Körper- regionen gebildet werden. Zweitens dürfen die Anlagen dieser verschiedenen Organe untereinander in keinem allzu festen Ab- hängigkeitsverhältnis stehen derart, daß das eine die Vorbedingung für das andere ist. Lungen- und Zahnentwicklung sind z. B. sehr unabhängig voneinander. Daher ist es ganz gleichgültig, soweit es sich beurteilen läßt, ob Lunge oder Zähne zuerst angelegt werden. In solchen Fällen pflegt gewöhnlich das funktionell wichtigere Organ dem minder wichtigen in seiner Entwicklung vorauszueilen. In ähnlicher Weise sind bei den Säugetieren häufig auffällige Heterochronien in der Zeit des Auftretens der Embryonalhüllen und in dem Grad ihrer Ausbildung im Vergleich mit der Organent- wicklung des Embryos zu beobachten. So beginnt beim Menschen eine reiche Zottenbildung des Chorions schon zu einer Zeit, wo die Embryonalanlage sich eben erst in Medullarrinne und Chorda ge- sondert hat. Entsprechend der späteren Mächtigkeit der mensch- lichen Placenta setzt die Vorbereitung zu ihrer Entwicklung auch viel frühzeitiger ein als bei anderen Säugetieren nach dem schon einmal hervorgehobenen Gesichtspunkt. Trotz der abändernden, in den Abschnitten 1 — 3 besprochenen Verhältnisse, denen die Ontogenien in der phylogenetischen Kette immer wieder von neuem ausgesetzt sind, ist gleichwohl eine ge- wisse Konstanz und Übereinstimmung in dem Ablauf und in der geordneten Wiederkehr bestimmter embryonaler Stadien bei syste- matisch verwandten Tierklassen wahrzunehmen. Es liegt dies haupt- sächlich daran, daß die Entwicklungsprozesse vieler und gerade der O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 15 226 Fünftes Kapitel. wichtigsten Organe im Körper der Wirbeltiere aus inneren, in ihnen selbst gelegenen Gründen eine regelrechte Aufeinanderfolge ihrer embryonalen Stadien auf das strengste einhalten müssen. Sie lassen sich gewissermaßen Leitmotiven vergleichen, die in jeder Entwick- lung in stereotyper Weise wiederkehren und eine Einteilung in aufeinanderfolgende embryonale Stadien in den verschiedenen Tier- klassen ermöglichen. Eine feste Reihenfolge aber muß überall da eingehalten werden, wo das vorausgehende Stadium die unerläßliche Vorbedingung für das nächstfolgende ist. Unter diesen Umständen darf denn mit Recht erwartet werden, daß die Entwicklung der Anlagen während der Ontogenese auch in derselben Reihenfolge geschieht, in welcher sich die ihnen entsprechenden Organe in der Ahnenreihe ausgebildet haben. Der einzellige Organismus kann sich seiner Natur nach in einen vielzelligen nur auf dem Wege der Zellteilung umwandeln. Daher muß bei allen Tieren die Onto- genese mit einem Furchungsprozeß der Eier beginnen. Aus einem Zellenhaufen können nur durch festere Zusammenordnung der Zellen embryonale Grundformen entstehen, welche die Grundlage für weitere Gestaltungsprozesse abgeben. Das Gastrulastadium setzt als Vor- bedingung die einfachere Keimblase voraus, in welcher der Haufe der Embryonalzellen seine erste regelmäßige Anordnung erfahren hat. Erst müssen die Keimblätter gebildet sein, ehe aus ihnen neue Organe durch ungleichmäßiges Wachstum in einzelnen Be- zirken entweder durch Faltung oder durch Einstülpung ihren Ur- sprung nehmen können. In ähnlicher Weise erscheint die Aufeinanderfolge der Stadien in der Entwicklung des Zentralnervensystems und der knöchernen Wirbelsäule als eine natürlich begründete, so daß sie einer Abände- rung nicht unterliegen kann. Wenn aus dem äußeren Keimblatt ein aus nervösen Elementen zusammengesetztes, in größerer Tiefe gelegenes Rohr entstehen soll, so ist der einfachste Weg, der uns in der Entwicklung fast aller Wirbeltiere entgegentritt, daß sich zuerst das nervöse Zentralorgan von den übrigen Bezirken der Oberhaut als Nervenplatte sondert, daß diese sich zur Rinne ein- krümmt, die Rinne sich hierauf durch Verwachsung ihrer Ränder zum Rohr schließt, sich vom oberflächlich gelegenen Mutterboden abspaltet und sich in größere Tiefe des Körpers zum Schutz ein- senkt, indem es von anderen Geweben umwachsen wird. In der Entwicklung der knöchernen Wirbelsäule der Säuge- tiere ist die Aufeinanderfolge eines häutigen, eines knorpeligen und eines knöchernen Stadiums in der Histogenese der Grundsubstanz- Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 22 7 gewebe begründet. Denn das einfachste und ursprünglichste Stütz- gewebe, das sich aus Embryonalzellen bildet, ist die Gallerte, .sie findet sich daher nicht nur bei den Wirbellosen und bei diesen auch im fertig differenzierten Zustand ihrer Vertreter, sondern auch überall bei den Embryonen aller Wirbeltiere. Erst aus dem Gallert- gewebe beginnen sich faseriges Bindegewebe und Knorpel zu differenzieren. Daher muß der knorpeligen eine häutige Wirbel- säule vorausgehen. Das Knochen gewebe differenziert sich wieder als die höchste und leistungsfähigste Form der Stützsubstanz aus den niedriger stehenden Geweben dieser Gruppe, und zwar entweder aus faserigem Bindegewebe oder aus Knorpel. Somit setzt das knöcherne Endstadium des Achsenskeletts, das erst bei den höher organisierten Wirbeltieren auftritt, wieder das knorpelige Stadium als seinen Vorläufer voraus. Wie uns die Erörterungen über verschiedene strittige Fragen gelehrt haben werden , sind vergleichende Anatomie und ver- gleichende Entwicklungsgeschichte Forschungsgebiete der Biologie, deren Studium uns wichtige und reiche Erkenntnis geliefert hat und noch weitere für die Zukunft verspricht. Sie ermöglichen ‘es dem Forscher, aus dem Bau und der Entwicklung der gegen- wärtigen Organismenwelt auch allgemeine Schlüsse auf ihre Ahnen- geschichte zu ziehen und dem Gedanken einer natürlichen Ent- stehung der Lebewesen aus einfacheren Vorfahren durch allmäh- liche Umbildung eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Die hohe Aufgabe der beiden Schwesterwissenschaften besteht aber hierbei weniger in der Konstruktion hypothetischer Stammbäume, als in der Feststellung der allgemeinen Bildungsgesetze, von denen das Werden der Organismen beherrscht wird. Ihre Aufgabe ist also prinzipiell dieselbe wie in den exakten Natur- wissenschaften der Chemie und Physik. Nur ist in der Biologie die Erforschung des Gesetzes in der Entwicklung in dem- selben Maße schwieriger, als die Lebewesen die allerkompliziertesten Naturprodukte sind, die auf Grund einer unermeßlich langen, im Dunkel der Vorzeit sich verlierenden Ahnengeschichte entstanden sind. 5: Sechstes Kapitel. Die Erhaltung des Lebensprozesses durch die Generationsfolge. Alle Lebewesen verfallen früher oder später dem physiologischen Tod, ihre Art aber bleibt durch das Mittel der Fortpflanzung, durch Abgabe von Keimzellen, in der Reihenfolge der Generationen er- halten. Mit den sich hieraus ergebenden Verhältnissen beschäftigt sich die Wissenschaft von der Genealogie. Nach der De- finition von Lorenz ist sie die „Lehre von dem Zusammenhang- lebender Wesen infolge von Zeugung der einen und Abstammung der anderen. Sie fußt daher auf dem Individualbegriff im Gegen- satz zu dem Gattungsbegriff und seiner Evolution “ 1). Wenn man bei der genealogischen Forschung aus der Reihe der Generationen ein einzelnes Individuum herausgreift, so kann man, um seine Stellung in der Reihe zu bestimmen, zwei Wege zur Untersuchung einschlagen. Je nachdem man seine Blicke nach vorwärts oder nach rückwärts richtet, kann man entweder nach der Nachkommenschaft forschen, die durch wiederholte Fortpflanzung von dem betreffenden Individuum abstammt, oder man sucht die Reihe seiner Vorfahren festzustellen, die ihm vorausgegangen und die Vorbedingungen für seine Existenz gewesen sind. Beide in der genealogischen Wissenschaft ausgebildeten Betrachtungsweisen bedienen sich zweier verschiedener graphischer Methoden zur bild- lichen Darstellung ihrer Ergebnisse, des Stammbaums und der Ahnentafel. Der Stammbaum soll uns über die Zahl, die Ver- hältnisse und Schicksale der Nachkommen oder Deszendenten des 1) Lorenz, Ottokar, Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie , Stammbaum und Ahnentafel etc. Berlin 1898. — Sommer, Robert, Familien- forschungs- und Vererbungslehre. Leipzig 1907. — Crzellitzer, Methoden der Fa- milienforschung. Zeitschr. f. Ethnologie, Bd. XLI, 1909. — Derselbe, Der gegen- wärtige Stand der Familienforschung. Zeitschr. f. Sexualwissensch. 1912, 8. Jahrgang. Hertwig, O., Das genealogische Netzwerk und seine Bedeutung für die Frage der monophyletischen oder der polyp hylelischen Abstammungshypothese. Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 89, 1916. Die Stammtafel. 22g aus der Generationsreihe herausgegriffenen Stammelters, die Ahnen- tafel dagegen über die Vorfahren oder Aszendenten einer Person (des Probandus) Aufklärung verschaffen. 1. Die Stammtafel. In der Form eines Baumes läßt sich die Stammtafel nur bei der ungeschlechtlichen Vermehrung der Lebewesen darstellen. Wenn es auch bei der geschlechtlichen Erzeugung, wie beim Menschen, geschieht, so wird es in diesem Fall nur dadurch ermöglicht, daß man die Abstammungsverhältnisse einseitig vom Vater aus beurteilt und die weiblichen Linien unberücksichtigt läßt. Das einseitige Verfahren erklärt sich aus sozialen und rechtlichen Verhältnissen. Darum muß aber um so schärfer betont werden, daß der natur- wissenschaftliche Tatbestand bei der geschlechtlichen Zeugung sich, streng genommen, überhaupt nicht als Stammbaum, sondern nur in einer Form darstellen läßt, die auf einer Verbindung von Stamm- und Ahnentafel beruht (Fig. 35) und uns noch besonders in einem dritten Abschnitt als das genealogischeNetzvrerk beschäftigen wird. Wenn wir von dieser Einschränkung vorläufig noch absehen, so ergibt sich die Form eines Baumes, indem wir den gemeinsamen Elter als den Stamm und die auf ihn zurückzuführenden Reihen von Generationen als seine Äste und Zweige auch bildlich darstellen (Fig. 31). Man ist übereingekommen, den zum Ausgangspunkt ge- wählten Ahnen durch den Buchstaben P (Pater) kenntlich zu machen. Die von ihm abstammende zweite, dritte, vierte und x-Generation von Deszendenten werden dann durch die Buchstaben F (Filius) mit den Reihenzahlen 1, 2, 3, 4 ... x, also als Flt F2, Fs, F± . . . Fx bezeichnet F1 bilden bei der graphischen Darstellung die Haupt- äste des Baumes, F2 die weiteren Verästelungen eines jeden der- selben, F3 , die von den Nebenästen entspringenden Zweige usw. Somit lassen sich alle Deszendenten durch eine gerade oder minder gebrochene Linie mit dem Stammelter in Verbindung setzen. Nach diesen Prinzipien ist der Stammbaum von dem 4 Gene- rationen zurückliegenden Ahnherrn Pc (Fig. 31) rekonstruiert auf Grund der Verhältnisse, die in dem genealogischen Netzwerk (Fig. 35) über die geschlechtlichen Verbindungen und die Vermehrung von 16 verschiedenen, mit den Buchstaben a bis r an Stelle der Ge- schlechtsnamen bezeichneten Familien schematisch zusammen gestellt sind. Aus der Ehe des Ahnen Pc gehen 4 Kinder hervor, von denen 2 entweder vor dem zeugungsfähigen Alter oder ohne Nach- kommen gestorben und daher durch blind auslaufende Linien kennt- 230 Sechstes Kapitel. lieh gemacht sind. Von den beiden anderen Kindern ist das eine eine Tochter, das andere ein Sohn. Die Tochter hat in das Ge- C Fig. 31. Stammbaum von 4 Generationen ( Fx — F4 ) eines als c bezeich- nten Ahnherrn ; zusammen- gestellt auf Grund der im Schema eines genealogischen Netzwerkes (Fig. 35) ge- gebenen verwandtschaftlichen Beziehungen von 16 Familien a — r. Die männlichen Glie- der des Stammbaums und des Netzwerks sind als schwarze Quadrate , die weiblichen Glieder als weiße Quadrate kenntlich gemacht. schlecht b geheiratet und ist selbst noch im Stammbaum in der ^-Generation als bc aufgeführt. Dagegen ist ihre Deszendenz, weil sie einen anderen Familiennamen trägt und dadurch aus dem Stamm Pc ausscheidet, nicht weiter berücksichtigt worden, wie man bei der streng gehandhabten Stammbaum- form zu verfahren pflegt. Der Sohn hat als Stammhalter, wie Fig. 31 weiter lehrt, die Familie cd gegründet, aus der als F2- Generation ein Sohn und eine Tochter mit den von ihnen herrührenden Familien cg und ac hervorgegangen sind. Von cg stammen dann außer einem weiblichen 3 männliche Nachkommen ab, die in der F73-Generation den Grund zu den Familien co1, co 2 und cp legen. Hierbei haben zwei Brüder zwei Schwestern aus dem Geschlecht 0 geheiratet, was sich aus dem genealogischen Netzwerk (Fig. 35) sicher feststellen läßt. Die drei Familien der Fs - Generation haben sich in der i^-Generation auf fünf vermehrt, wie aus der Verzweigung des Stammbaums her- a Fig. 32. Auf Grund des genealogischen Netzwerks der Fig. 35 kon- struierte Ahnentafel des Probandus a. Die männlichen und die weiblichen Personen der Ahnentafel sind als schwarze und als weiße Quadrate kenntlich gemacht. Die Ahnentafel des Probandus a ergibt keinen Ahnenverlust. Die Stammtafel. 231 vorgeht, (ck — cc—ci — cn — ce). Hierbei hat ein Sohn der Familie co 1 seine Cousine aus der Familie co 2 geheiratet, so daß die Eheschließenden cc sowohl von väterlicher als von mütterlicher Seite, also doppelt untereinander blutsverwandt sind. Wie sich diese Verwandtschafts- verhältnisse aus der von uns durchgeführten Form des Stamm- baumes ablesen lassen, so wird es später bei der von cc konstru- ierten Ahnentafel (Fig. 34) noch viel deutlicher sein. Auch hier wird als weiter sich ergebende Konsequenz der sogenannte Ahnen- verlust noch zu besprechen sein. Da bei der ungeschlechtlichen und parthenogenetischen Fort- pflanzung alle Keimzellen der aufeinander folgenden Generationen sich durch Teilung direkt von den Zellen des Stamm elters herleiten, so müssen seine Eigenschaften durch Vererbung in der Fx- bis Fx Generation am getreuesten festgehalten werden. Wenn nicht durch äußere Eingriffe Mutationen des Idioplasmas hervorgerufen worden sind, was ja nur selten vorzukömmen pflegt, werden auch entfernte Deszendenten sich noch als Abbilder der vorausgegangenen Ahnen bezeichnen lassen. Johannsen hat für dieses Verhältnis den Aus- druck einer „Vererbung in reinen Linien“ eingeführt. Von einer solchen kann man außerdem auch noch bei geschlechtlicher Zeugung hermaphroditer Lebewesen in den Fällen sprechen, in denen Fremdbefruchtung ausgeschlossen ist. Bei Pflanzen kann dies ja leicht erreicht werden, wenn bei einer hermaphroditen Blüte der Fruchtknoten durch ihren eigenen Pollen befruchtet wird. Denn weibliche Keimzellen sind hier ebenfalls Abkömmlinge einer ge- meinsamen Mutterzelle und müssen daher in ihrem Idioplasma gleich sein. Zwischen vegetativer Fortpflanzung und Selbstbefruchtung liegt mithin wohl kaum ein irgendwie erheblicher Unterschied in idio- plasmatischer Hinsicht und daher auch in der Vererbung in reinen Linien vor. Die durch Selbstbefruchtung entstandene Nachkommen- schaft eines Stammelters muß dem Beobachter einen uniformen Charakter darbieten im Gegensatz zu den Deszendenten eines Ahnen- paares, welche durch stets wiederholte, geschlechtliche Zeugungen hervorgegangen sind. Denn hier finden von Generation zu Genera- tion stets neue Kombinationen individuell verschiedener Keimzellen statt. Wenn man auch in diesem Fall beim Menschen sich des Stammbaumes zur Darstellung der Deszendenz bedient, so geschieht es, wie schon früher hervorgehoben wurde, unter einseitiger Berück- sichtigung der männlichen und unter Ausschaltung der weiblichen Linie. 232 Sechstes Kapitel. Beim Studium der Deszendenz einer Organismenart gehören die Zahlen Verhältnisse, unter denen seine Vermehrung vor sich geht, zu den wichtigsten und interessantesten Problemen. Drei Punkte hat man hierbei zu berücksichtigen: erstens die Anzahl der Keim- zellen, die alljährlich von den verschiedenen Lebewesen gebildet werden und das Maximum der Vermehrungsfähigkeit einer Art darstellen würden, wenn alle Keime auch wirklich zur Entwicklung kämen. Zweitens ist festzustellen, wie viele unter diesen Keimen sich zwar zu entwickeln beginnen, aber absterben, ehe sie das Alter erreicht haben, um sich selbst wieder durch Zeugung vermehren zu können. Drittens endlich ist das wirkliche Zahlenverhältnis zu ermitteln, welches sich bei einer bestimmten Art im Ersatz der sterbenden durch jüngere, wieder zur Fortpflanzung dienende Generationen herausgebildet hat. Was den ersten Punkt betrifft, so zeigen sich die Lebewesen zu Leistungen befähigt, die, wenn ihrem Fortpflanzungsvermögen nicht Schranken durch Gegenwirkungen gesetzt wären, in kürzester Zeit das ganze Weltbild von Grund aus verändern würden. Denn wie schon Darwin in seinem Buch von der Entstehung der Arten mit Recht betont, gibt es keine Ausnahme von der Regel, daß „jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in einem so hohen Maße vermehrt, daß, wenn nicht Zerstörung einträte, die Erde bald von der Nachkommenschaft eines einzigen Paares be- deckt sein würde“. Bei verschiedenen Lebewesen haben einzelne Biologen sich die Mühe gegeben, durch zahlenmäßige Berechnungen ihr Zeugungs- vermögen annähernd festzustellen, und sind hierbei zu Ergebnissen gelangt, die wahrhaft staunenerregend und daher wohl einer kurzen Mitteilung wert sind 1). Der Botaniker Cohn hat zur Grundlage einer Berechnung das Bacterium termo gewählt, welches zu den kleinsten, uns bekannten Mikroorganismen gehört. Er nimmt an, daß sich dasselbe je nach Ablauf einer Stunde durch Teilung- in zwei vermehrt. Dann würden bei ungestörtem Fortgang seiner Vermehrungsweise nach 24 Stunden schon 16 Millionen Deszen- denten des einen Exemplars, nach 2 Tagen 280 Billionen und nach 3 Tagen, was kaum glaublich klingt, 4772 Trillionen entstanden sein. — Noch lehrreicher aber werden die Ergebnisse, wenn 1) Leucteart, Artikel ,, Zeugung“ in Wagners Handwörterbuch der Physiologie , Bd. IV, 1858. — Hensen, Die Physiologie der Zeugung. Hermanns Handbuch der Physiol., Bd. VI , 1881. — Colin, F., Die Pflanze. Vorträge. 1882, S. 483 — 458. Die Bakterien. Die Stammtafel. 233 man Volum und Gewicht von der Substanzmasse zu berechnen sucht, die in so kurzer Zeit durch fortgesetzte Teilung eines so unendlich kleinen Körperchens geliefert wird. Das Fäulnisbakterium ist ein kurzer Zylinder, der nach Cohns Messung Vsoo mm Länge und V1000 mm Dicke besitzt. Um ein Kubikmillimeter zu füllen, sind etwa 636 Millionen Bakterien erforderlich. Daher nehmen die nach 24 Stunden durch Teilung entstandenen 16 Millionen erst den 40. Teil eines Kubikmillimeters ein. Von hier ab geht die Volums- zunahme in wahren Riesenschritten vor sich. Die nach 2 Tagen entstandenen 280 Billionen füllen schon 442 000 cmm oder 442 ccm, also nahezu ein halbes Liter aus. Nach 4 oder gar 5 Tagen aber würde die in gleichmäßig fortschreitender Vermehrung begriffene Bakterienmasse das ganze Weltmeer für sich in Anspruch nehmen. Bei dieser Berechnung wird angenommen, daß das Meer 2/3 der gesamten Oberfläche unserer Erde überzieht und im Mittel eine halbe geographische Meile tief ist. Sein Gesamtinhalt würde 3 Millionen Kubikmeilen betragen. Ihm würde die in fünf Tagen entstandene Bakterienmasse gleichkommen. Wenn man weiter das Gewicht eines Bakteriums dem spezi- fischen Gewicht des Wassers gleichsetzt, wie es im ganzen auch wirklich der Fall sein wird, so kann man sich bei diesen Berech- nungen auch eine Vorstellung von den Gewichtsverhältnissen machen, welche die sich vermehrenden Bakterien massen repräsentieren. Dann würden 636 Milliarden Bakterien ein Gramm und 636000 Milliarden schon ein Kilogramm wiegen. Die nach 2 Tagen entstandene Bak- terienmenge macht fast 1 Pfund aus; nach 3 Tagen beträgt sie schon 15000 Zentner. Ohne eine Berechnung angestellt zu haben, wird niemand es für möglich halten, daß durch stündlich erfolgende Zwei- teilung eines Bakteriums derartige riesige Zahlen, was die Menge der Individuen, das Volumen und das Gewicht der durch sie reprä- sentierten lebenden Substanz betrifft, zustande kommen. Aber auch bei vielen Pflanzen und Tieren ist das Fortpflanzungs- vermögen durch Keimzellen geradezu staunenerregend. Obenan in der Reihe stehen besonders parasitische Organismen. Nach Schätzun- gen von Leuckart produziert ein Bandwurm (Taenia solium) jährlich etwa 40 Millionen, ein Spulwurm sogar 60 Millionen Eier. Viele Arten von Seeigeln werden an Zahl der jährlich abgelegten, mikroskopisch kleinen Eier nicht hinter ihnen Zurückbleiben, vielleicht sie sogar übertreffen. Aber auch unter den hochorganisierten Wirbeltieren gibt es Arten mit außerordentlicher Fruchtbarkeit, besonders unter den Amphibien und Fischen. Ein 4Y2 Zentner schwerer Stör legt in einem 234 Sechstes Kapitel. Jahr 5 — 6 Millionen Eier ab, ein Kabeljau 4 Millionen. Noch sehr viel größer ist bei denselben Tieren die Zahl der Keimzellen im männ- lichen Geschlecht, da man auf 1 Ei wenigstens 4, in Wirklichkeit aber noch viel mehr Samenzellen wird rechnen müssen. Da nun die meisten Tiere viele Jahre zeugungsfähig bleiben, so kann man mit der Annahme nicht fehlgehen, daß besonders fruchtbare Arten während ihres Lebens Hunderte und Tausende Millionen weiblicher oder männ- licher Keimzellen hervorbringen, und man kann sich eine Vorstellung davon machen, auf welche Riesenzahlen ihre Deszendenz anwachsen würde, wenn auch alle Keime sich entwickelten und wenn die nach einigen Jahren zeugungsfähig gewordenen Individuen zweiter und dritter Generation sich wieder, ein jedes um das Vielmillionenfache, vermehren würde. Im Hinblick auf diese ungeheuere Produktivität der Lebewesen wird man auch verstehen, wie zeitweise unter geeigneten Bedingungen eine Tier- und Pflanzen art vorübergehend in großer Individuenzahl im Haushalt der Natur auftreten und dann wieder verschwinden kann. Man wird es begreiflich finden, wie durch Bakterien erzeugte Infektions- krankheiten sich ausbreiten und verheerende Wirkungen in kürzester Zeit ausüben können. Wenige Milzbrandbazillen, die durch eine kleine Stichwunde in die Saftbahnen des menschlichen Körpers ge- raten sind, können sich in wenigen Tagen durch fortgesetzte Tei- lungen in so unzählige Millionen vermehren, daß jeder Blutstropfen von ihnen übersät und der Tod des Erkrankten nicht mehr aufzu- halten ist. Wenn im Sommer manche Sträucher und Bäume plötzlich Blatt für Blatt mit unzähligen Blattläusen bedeckt sind, so hat man ein Beispiel, wie sich das große Zeugungsvermögen der Tierart auch in Wirklichkeit geltend machen kann. Die Blattläuse pflanzen sich in den Sommermonaten durch Parthenogenese fort; sie bringen aus unbefruchteten Eiern lebendige Junge in großer Zahl hervor, die schon nach wenigen Tagen bei reichlicher Ernährung ausgewachsen sind und nun ihrerseits wieder Junge gebären. Auf diese Weise kann, wie schon der Schweizer Zoologe Bonnet berechnet hat, die Nachkommenschaft von einer einzigen Blattlaus nach einigen Wochen sich auf 1000 Millionen belaufen (Leuckart 1. c. p. 709). Unter den Säugetieren sind die Kaninchen nicht nur sehr fruchtbar, sondern sie entwickeln sich auch sehr rasch. Ihre Jungen werden schon nach einem Jahre selbst wieder fortpflanzungsfähig. Nimmt man die mittlere Zahl der Jungen an, die von einem träch- tigen Kaninchen geboren werden, und nimmt man ferner an, daß diese und ebenso ihre Nachkommen am Leben bleiben und sich in Die Stammtafel. 235 demselben Verhältnis fortpflanzen, so beträgt nach Burdach die gesamte Nachkommenschaft des einen Stammelters nach 4 Jahren bereits eine Million (Leuckart 1. c. p. 70g). Man kann hieraus die Lehre ziehen, daß selbst bei einer Ent- wicklung von wenigen Eiern, die im Verhältnis zur Produktion eines Störs eine verschwindend kleine ist, sehr hohe Deszendenzziffern er- reicht werden, wenn nur diese wenigen Keime am Leben bleiben und wenn die Vermehrung in derselben Weise stetig weiter vor sich sfeht. Es wird von Interesse sein, dies noch an 2 Fällen nachzu- weisen, 1. für den Elefanten, der sich nach der Ansicht von Darwin unter allen lebenden Tieren am langsamsten vermehrt, und 2) für den Menschen, über dessen Vermehrungsweise wir durch statistische Erhebungen von Jahr zu Jahr unterrichtet werden. Vom Elefanten hat Darwin das wahrscheinliche Minimalverhältnis seiner natür- lichen Vermehrung zu berechnen gesucht. Er macht hierbei die Voraussetzung, daß seine Fortpflanzung erst mit dem 30. Jahre beginnt und bis zum 90. Jahre währt, daß er in dieser Zeit 6 Junge zur Welt bringt und daß er 100 Jahre alt wird. „Ver- hält es sich so, dann würden nach Verlauf von 740 — 750 Jahren nahezu 19 Millionen Elefanten als Nachkömmlinge des ersten Paares am Leben sein.“ Um einen Begriff von dem Anwachsen der Deszendenten eines Menschenpaares in den aufeinanderfolgenden Generationen (t lt E 2 . . . F9) zu bekommen, macht der Psychiater Sommer in seinem Buch: „Familienforschung und Vererbungslehre“ die Annahme, daß aus einer Ehe drei Kinder hervor gehen und in gleicher Weise auch bei ihren Deszendenten. Dann ergibt die Stammreihe F± = 3, F2 = 32 = 9. Fs = 33 = 27. Fi = 31 = 81, Fs = 35 = 243, F6 = 36 = 729 . . ., Fq = 39 = 19683 Nachkommen des Stamm- elternpaares. Nach der Schätzung genealogischer Schriftsteller, wie Lorenz, Sommer u. a., füllen 3 Generationsreihen des Menschen ein Jahrhundert mit ihrer Lebenswirksamkeit und Zeugungskraft aus, so daß durchschnittlich 33 Jahre bis zum Einsetzen der nächsten Generation zu rechnen sind. Demnach würden 9 Generationen drei Jahrhunderten entsprechen. Nach ihrem Ablauf würden dann vom Stammpaar sich ungefähr 20000 Nachkommen herleiten. Und nun überlege man, welche Riesenzahl von Nachkommen für das Eltern - paar, von dem wir ausgegangen sind, sich ergeben würde, wenn jeder der 20000 Nachkommen sich in abermals 3 Jahrhunderten in gleicher Weise in der Generationsreihe vermehren und ebenfalls wieder 20000 Nachkommen in 9 Generationen hervorbringen würde. 236 Sechstes Kapitel. Hierbei sind allerdings die weiblichen Deszendenten und ihre Nach- kommenschaft mitgerechnet, obwohl sie infolge ihrer Verheiratung- unter dem Namen ihres Mannes weitergeführt werden. Wird von ihnen abgesehen, so verringert sich natürlich die oben errechnete Zahl der Deszendenten um ein erhebliches. Aber in biologischem Sinne kommt dieser Abzug nicht in Betracht, da es hier ja nicht auf die Namengebung, sondern nur auf die Erbmasse ankommt, die in der weiblichen und männlichen Deszendenz selbstverständlich die gleiche ist. Angesichts solcher Zahlen bemerkt Sommer, „kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein wirkliches Aussterben einer Familie, wie es so oft angenommen wird, im entwicklungs- geschichtlichen Sinne ein fast unglaubliches Ereignis darstellt. Denn wenn auch die Deszendenz eines vor einigen Jahrhunderten lebenden Elternpaares scheinbar erlischt, ganz abgesehen von dem meist übersehenen Weiterbestehen der weiblichen Deszendenz, so braucht man den Blick nur wieder einige Jahrhunderte rückwärts zu richten und sich zu überlegen, daß dieses Urelternpaar seinerzeit Hunderte von Blutsverwandten gehabt hat. So erscheint das Er- löschen einer Familie nur als Absterben von einem Ast des auf dem Urgründe weiter wachsenden Stammbaums.“ Die Ahnentafel. Als Ahnen oder Aszendenten werden die Glieder der Gene- rationsreihen bezeichnet, wenn man sie von einer zum Mittelpunkt der Betrachtung gewählten Ausgangsform nach rückwärts in die Ver- gangenheit verfolgt. Aszendenten gibt es daher sowohl bei der un- geschlechtlichen als bei der geschlechtlichen Vermehrung. Bei jener macht man sie aber für gewöhnlich nicht zum Gegenstand besonderer Untersuchungen, da in der „reinen Linie“ ein Glied dem andern gleicht. Wenn man daher in der Genealogie von Ahnentafeln spricht, so nimmt man von vornherein an, daß durch sie Verhält- nisse, die für die geschlechtliche Zeugung eigentümlich sind, zum Aus- druck gebracht werden sollen. Das Bild eines Baumes läßt sich auch für die Ahnentafel verwerten, und zwar in der Form eines umgekehrt orientierten Baumes. Hierfür ist aber besser der Vergleich mit einem Wurzelwerk geeignet, und zwar mit einer Stammwurzel, die sich fortgesetzt streng dichotomisch rückwärts in die Vergangenheit verzweigt. Wie im Bilde des Baumes sich nach oben als verzweigtes Astwerk die Generationen von Deszendenten folgen, so schließen sich nach abwärts die Generationen der Ahnen als dichotom verzweigtes Wurzelwerk aneinander. Da bei der geschlechtlichen Zeugung jedes Die Ahnentafel. 237 Individuum einen väterlichen und einen mütterlichen Erzeuger hat, von dem es abstammt, so muß sich in der Reihe der Generationen die Zahl der Ahnen mit jeder weiter entfernten Generation verdoppeln (Fig. 32). Wenn also die erste Ahnengeneration, von dem gewählten Ausgangspunkt aus gerechnet, nur aus Vater und Mutter besteht, so beträgt sie in der zweiten Ahnengeneration Ä2 = 2 2 = 4, in A3 = 2 3 = 8, in A4 — 24 = 16, in A5 = 2 5 — 32, in A6 — 2 6 = 64, in A9 = 2 9 = 512, in A10 = 2 10 = 1024 oder all- gemein in ix = 2X, Rein mathematisch betrachtet, muß daher die Zahl der Ahnen jedes heute lebenden Menschen vor 3 Jahrhunderten ungefähr 512 betragen haben, wenn wir wieder auf jedes Jahrhundert, wie wir es für den Stammbaum getan haben, drei Generationen rechnen. Infolgedessen steigt die Zahl der Ahnen , je weiter wir zurück- gehen, bald ins Ungeheure an. In der 12. Generation berechnet sie sich bereits auf 4096 und in der 20., die vor etwa 7 Jahr- hunderten gelebt haben würde, auf weit über eine Million Personen ; gehen wir aber gar auf den Anfang der christlichen Zeitrechnung zurück, so erhalten wir schon eine so hohe Zahl von Ahnen, daß sie die Zahl der Menschen, welche damals die Erde bevölkert haben, weit übertrifFt. Denn wenn man 3 Generationen auf ein Jahrhundert annimmt, so würden nach einer Berechnung von Plate auf jeden jetzt lebenden Menschen 2 57 = 130 000 000 000 000 000 Ahnen kommen . Was aber bedeutet die kurze Spanne der christlichen Zeitrechnung im Vergleich zum Alter des Menschengeschlechts, in dessen un- bekannte Urzeiten die Ahnengenerationen der heute lebenden Menschen uns schließlich zurückführen? Daher ist, wie Lorenz sehr treffend hervorhebt, die A h n e n taf el ihrem Wesen nach ohne erdenklichen Endpunkt; sie reicht in die Unendlichkeit zurück, während der Stammbaum, wo er auch angefangen wurde, in den heute lebenden Nachkommen eines Stammvaters einen zeitlichen und in dem Fall des etwa eingetretenen Aussterbens eines Ge- schlechtes seinen dauernden Abschluß findet. Die bei jeder weiter zurückliegenden Generation erfolgende Verdoppelung der Ahnen hat uns zu dem Ergebnis geführt, daß durch Summation bald Zahlen erreicht werden, in denen die Menschen überhaupt nicht Platz nebeneinander auf unserer Erde finden würden. Diese Schwierigkeit ist aber nur eine scheinbare und erklärt sich leicht durch eine einfache Überlegung. Unsere vorausgehende Betrachtung ist nämlich nur eine rein mathematische gewesen und als solche auch nicht anfechtbar. Ihr Ergebnis gewinnt aber einen 238 Sechstes Kapitel. anderen Charakter, wenn man ein Verhältnis, das wir jetzt noch als Ahnenverlust kennen lernen werden, bei der Aufmachung der Rechnung mitberücksichtigt. Denn so unanfechtbar es ist, daß in jeder Generation die Zahl der Ahnen sich verdoppeln muß, weil jede Person einen Vater und eine Mutter hat, so brauchen doch deswegen nicht die auf einer Ahnentafel in den Generationsreihen aufgeführten Personen stets verschieden voneinander zu sein. Es wrerden vielmehr bei Verwandtenheiraten dieselben Namen mit ihren Aszendenten mehrfach aufgeführt. Dadurch erfährt die Summa- tion der Ahnen, wie sie mathematisch sich ergibt, in Wirklichkeit eine sehr erhebliche Einschränkung. Wie groß diese sein kann, läßt sich an einem konkreten Fall leicht ersehen. Es gibt abge- legene Gebirgsdörfer, deren Bewohner, zumal wenn sie noch durch Sprache und Rasse von der Umgebung geschieden sind, jahr- hundertelang nur untereinander geheiratet haben. Da infolgedessen hier alle mehr oder minder miteinander verwandt sind, muß der oben erwähnte Fall eintreten, daß auf einer Ahnentafel dieselben Namen häufig wiederkehren. In der Wissenschaft der Genealogie hat man das Verhältnis, durch welches die rechnerisch gefundene Ahnenzahl eine erhebliche Beschränkung erfährt, den Ahnen verlust genannt. Die Ahnen- tafel hat daher nicht nur die Aufgabe, die Zahl der Ahnen, als vielmehr auch ihre Qualität zu ermitteln. Das kann in den ver- schiedensten Richtungen und zu verschiedenen Zwecken geschehen, von dem Naturforscher zum Studium des Problems der Erblich- keit, vom Historiker und Juristen zur Entscheidung von sozialen, rechtlichen und Standesfragen. In letzterer Hinsicht hat man schon früh die vorgenommene Qualitätsprüfung als Ahnenprobe be- zeichnet. Auch für das Verfahren des Naturforschers in Erblich- keitsfragen kann dieser Ausdruck als ein recht passender beibe- halten werden. Zur Erleichterung der Ahnenprobe und zur besseren Ver- ständigung über ihre Ergebnisse sind die Genealogen übereinge- kommen, die Ahnentafeln nach einem gleichen Schema auszuführen und gleichlautende Bezeichnungen zu gebrauchen (Fig. 32, 33, 34). Die einzelnen Generationen werden nach der in Fig. 32 — 34 dar- gestellten Weise in Reihen untereinander geschrieben. Die Reihen werden mit Zahlen von 1 an als A1, A2, A3, A 4 etc. aufgeführt, wo- bei man mit dem ersten Elternpaar als der ersten Ahnenreihe be- ginnt. Um väterliche und mütterliche Ahnen auch für das Auge im Schema sofort unterscheidbar zu machen, sind die einen durch Die Ahnentafel. 239 schwarze, die anderen durch helle Quadrate bezeichnet. Ferner sind als Ersatz für die Namen der Familien, zwischen denen Ehe- schließungen stattgefunden haben, die kleinen Buchstaben des Alpha- bets a—r benutzt worden. Um bei der Aufzählung der Personen in der Ahnenreihe A2 oder A3 oder A4 etc. nach einer bestimmten Ordnung vorzugehen, ist man in der genealogischen Wissenschaft übereingekommen, auch stets die Väter den Müttern voranzustellen. Dann erhält jede Person in jeder Reihe eine Ordnungszahl mit 1, 2, 3, 4 etc., so daß auf die Väter stets die ungeraden Zahlen (1, 3, 5 etc.), auf die Mütter die geraden (2, 4, 8 etc.) fallen, wie dies in der Ahnenreihe A4 der Fig. 32 durchgeführt ist. Die Stellung einer jeden Person im System der Ahnen läßt sich daher durch einen Bruch ausdrücken, in welchem die Anzahl der zu einer Generationsreihe gehörigen Ahnen den Zähler und die Ordnungs- zahl, welche ein Ahn in der Reihe führt, den Nenner liefert. Der Bruch 8/s bedeutet also die achte Person in der Generation von 8 Ahnen, 16/5 die fünfte Person in der Generation von 16 Ahnen. Man kann bei einer solchen Bezeichnung sich schon über vieler- lei Verwandtschafts Verhältnisse des betreffenden Ahnen unterrichten. Man erkennt an der geraden oder ungeraden Zahl des Nenners, da sie der Ordnungszahl der Ahnen entspricht, daß es sich bei dem Bruch 8/8 um eine weibliche, beim Bruch 16/5 um eine männ- liche Person handelt. Ebenso ist sofort ersichtlich, ob die be- treffenden Ahnen zur väterlichen oder zur mütterlichen Linie ge- hören, da erstere die linke, letztere die rechte Hälfte der Ahnen- tafel ein nehmen. Daher gehören alle durch den Nenner des Bruches charakterisierten Personen, je nachdem dieser in der ersten oder zweiten Hälfte der Zahlenreihe des Zählers liegt, zur männlichen oder zur weiblichen Linie der Aszendenz. Also ist von den zwei oben angeführten Beispielen 8/8 zur weiblichen, 16/s zur männlichen Aszendenz zu rechnen. Oder die Ahnen 16/1, 16|2, 16/3 — 16/s gehören zum Vater, 16/9 — lfi/16 zur Mutter. Indem man in dieser Weise die in den Ahnenreihen bestehenden inneren Gesetzmäßigkeiten zur Grundlage einer Zeichensprache macht, kann man durch eine kurze Formel schwer zu beschreibende Verwandtschaftsverhältnisse zum Ausdruck bringen. So kann man mit Hilfe der Ahnentafel, welche für alle Kinder ein und desselben Elternpaares in selbstverständlicher Weise genau die gleiche ist, und vermittels der durch sie ermöglichten Zeichensprache nun auch das schon oben erwähnte wichtige Problem des Ahnen- verlustes besser erklären. Sechstes Kapitel. 240 Zu dem Zwecke sind auf Grund der Verwandtschaftsverhält- nisse, über welche uns das genealogische Netzwerk der Fig. 35 sichere Auskunft gibt, die Ahnentafelen für die 3 Personen a, b, und c der i^-Generation von Schema Fig. 35 in der üblichen Weise zusammengestellt worden (Fig. 32, 33 und 34). Sie lassen uns 3 ver- schiedene Fälle von Ahnenverlust erkennen. In der Ahnentafel von a ist ein Verlust nicht eingetreten (Fig. 32). Die 15 Ehen, die zwischen den Aszendenten in der A1- b bis .44-Generation geschlossen wurden, sind frei von Verwandten- heiraten. In der A4-Generation ergibt die Ahnenprobe die volle Zahl von 16 Ahnen, die 16 verschiedenen Familien angehören und durch die Buchstaben a bis r charakterisiert worden sind. Bei den Verheiratungen in dem von 4 Generationen ausgefüllten Zeitraum haben unter den Aszendenten immer neue Kombinationen — und zwar im ganzen 15 — zwischen den Geschlechtern a bis r statt- gefunden, nämlich in A4 die 8 Kombinationen ab — cd — ef—gh — ik — Im — no — pr\ in A3 die 4 Kombinationen ac — eg—il—np , — in A2 ae und in, in Al die Kombination ai, welche der Probandus vertritt. Wenn wir dagegen die Ahnentafel von b (Fig. 33) durchgehen so finden wir, daß in der dAGeneration die beiden Großväter b und i zwei Schwestern n , die durch einen Stern * hervorgehoben sind, geheiratet haben; oder mit anderen Worten, der Probandus b weist in seiner Ahnentafel 2 Großmütter n * auf, die Schwestern sind. Denn sie sind, wie sich aus den Deszendenzlinien des genealogischen Netzwerks ergibt, aus der mit einem Stern bezeichneten Familie no * (Fig. 35) hervorgegangen und haben sich mit den Großvätern b Die Ahnentafel. 241 und i zur Begründung der Familien bn und in verbunden, denen Vater und Mutter des Proban dus ( b ) an gehören. Da nun die beiden Schwestern n * dieselben Vorfahren haben, kehren dieselben Buch- stabenbezeichnungen auf jeder Seite der Ahnentafel wieder, in der Reihe A3, n und 0, in der Reihe A 4 die Buchstaben n — p—o — r. Wenn wir die Aszendenten nach ihrer Stellung in der Ahnentafel in der früher erklärten Weise durch Brüche kenntlich machen, so erhalten die beiden Schwestern n * die Zahlenzeichen 4/2 und 4/4 Ihre Ahnen in der Reihe A3 , auf der einen Seite 8/3 und 8/4, auf c der anderen Seite 8/7 und 8/8, sind dieselben Personen; und ebenso sind in der J4-Generation die Brüche 16/5, 16/6, 16/7, 16|8 dieselben Personen wie 16/13, 16/14, 16|15, 16/i6- Folglich hat die nur rechnungs- mäßig festgestellte Zahl der Ahnen einen Verlust erfahren. Es sind von ihr die doppelt aufgeführten Personen in jeder Reihe in Abzug zu bringen. In der JAGeneration verringert sich daher die Zahl 8 auf 8 — 2 = 6 wirkliche Ahnen, in AA die Zahl 16 auf 16 — 4 = 12 oder, in einer allgemeinen Formel ausgedrückt, beträgt in jeder folgenden Generation der Ahnenverlust das Doppelte wie in der vorhergehenden: in A5 ist die Zahl 32 auf 32 — 8 = 24, in A6 die Zahl 64 auf 64 — 16 = 48 etc. herabzusetzen. In der dritten Ahnentafel von dem Probandus c (Fig, 34) er- gibt sich noch ein viel größerer Ahnenverlust Derselbe ist hier dadurch entstanden, daß in der A2- Generation sich 2 Brüder c+ mit 2 Schwestern 0* verheiratet haben und daß unter ihren Kindern, also zwischen Vetter und Base, die doppelt miteinander verwandt sind, eine Ehe stattgefunden hat, deren Abkömmling der Proban- dus c ist. Die 2 Brüder sind Deszendenten aus der Familie cg, die O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. l6 242 Sechstes Kapitel. 2 Schwestern aus der Familie ol, wie sich aus dem genealogischen Netzwerk ablesen läßt. Die Vorfahren der beiden Großväter einer- seits, der beiden Großmütter andererseits sind ein und dieselben Personen, sie mußten in der Ahnentafel doppelt aufgeführt werden. Daher ergeben sich in der H3-Generation anstatt 8 nur 4 Ahnen, nämlich c—g — o — 1} und in der H4-Generation anstatt 16 nur 8 Ahnen, nämlich c, d, g, h, 0, r, l, m. Der Verlust ist in unserem dritten Fall doppelt so groß als im zweiten. Das Hauptergebnis unserer Untersuchung über Ahnenverlust läßt sich jetzt in dem Satz zusammenfassen: Je größer die Anzahl der Verwandtenheiraten, um so größer ist in der Ahnenreihe der „Ahnen Verlust“. Dadurch werden die mathematisch ermittel- ten, ins Unendliche anwachsenden Ahnenzahlen wieder auf die wirklichen in der Natur vorkommenden Verhältnisse zurückgeführt. Es dürfte nicht ohne Interesse sein, den Ahnen verlust noch an einem konkreten Beispiel nachzuweisen. Die sicherste Auskunft erhält man hierüber aus dem Studium der Ahnentafeln von re- gierenden Häusern. So hat Lorenz (1. c. p. 305) die Ahnentafel von Kaiser Wilhelm II. zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht und zuletzt in Form der beifolgenden Tabelle für 12 Gene- rationen die theoretisch berechnete Zahl der Ahnen und die wirk- lich gefundenen Personen zusammen gestellt. Ahnenreihe I II III IV V vT VII VIII IX X XI XII Theoretisch be- rechnete Zahl der Ahnen 2 4 8 16 32 64 128 256 512 1024 2048 4096 Wirklich ge- fundene Per- sonen 2 4 8 14 24 44 74 1 1 1 162 206 225 275 Die Tabellle gibt in sehr anschaulicher Weise einen Einblick in den mit jeder älteren Generation immer größer werdenden Ahnen- verlust. Während in der neunten Generation an Stelle von 512 nur 162 verschiedene Ahnen nachgewiesen werden konnten, findet sich in der zwölften Generation schon eine Differenz von 4096 zu 275. 3. Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. Bei der geschlechtlichen Zeugung gibt uns weder die Stamm - noch die Ahnentafel, wenn sie nur für sich betrachtet werden, einen erschöpfenden Einblick in die sehr verwickelten Verwandtschafts- Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. 243 Verhältnisse, die durch die geschlechtlichen Verbindungen, durch die aus ihnen entstehenden Kinder und durch die von diesen wieder- um neu eingegangenen Ehen in einer Bevölkerung geschaffen werden. Bei der Stammtafel müßten auch die weiblichen Linien Pr sind die Deszendenzlinien von a als dickere Striche, von c als feinere Striche, von b als gestrichelte Linien hervoigehoben. Alle übrigen Linien des Netzwerks sind punktiert gezeichnet. mit ihrer Deszendenz in die Darstellung hineingezogen und mit ihr müßte noch die Ahnentafel kombiniert werden. Daraus aber er- geben sich so schwer zu überblickende Verhältnisse, daß sie sich sowohl bildlich als auch durch Beschreibung nicht leicht darstellen lassen, auch dann, wenn wir nur einen enger begrenzten Kreis von Personen derselben Art nehmen. Denn in der Folge der Gene- rationen bestehen zwischen den einzelnen Individuen zwei Arten von Zusammenhängen, solche, die auf der Abstammung beruhen 16* 244 Sechstes Kapitel. und die Glieder der aufeinanderfolgenden Generationen als Ahn und Erbe verbinden, und solche, die durch Ehe zwischen den gleich- zeitig lebenden Individuen einer Gesellschaft geknüpft werden. Zusammen aber ergeben diese doppelten Verbindungen, wenn wir sie uns in Linien zwischen Quadraten, welche die einzelnen Indi- viduen repräsentieren, dargestellt denken, ein Netz- oder Maschen- werk, das im Raum nach allen Richtungen ausgebreitet ist. Ich habe versucht, ein solches in einem Schema darzustellen, in welchem die männlichen Personen durch ein schwarzes, die weiblichen durch ein weißes Quadrat bezeichnet sind (Fig. 35). Zum Ausgang habe ich 16 Geschlechtsstämme gewählt, die mit den Buchstaben a bis r bezeichnet sind und von denen an- genommen wird, daß sie in keiner nachweisbaren Verwandtschaft zueinander stehen. Von ihnen leiten sich 4 Generationen von Nach- kommen ab, die im Schema gleichsam wie 4 Stockwerke über ihrem Fundament angeordnet sind. Auf der linken Seite sind die einzelnen Generationen nach der Weise des Stammbaums als P, F1? P2, P3, P4 und auf der rechten Seite nach dem Verfahren der Ahnentafel als Pr (Probandus) A\ A2, A3, A 4 benannt worden. Denn das genealogische Netzwerk ist ja eine Kombination der Ergebnisse von Stammbaum und Ahnentafel. Die von den Buch- staben a bis r aufsteigenden Linien bezeichnen die in einer Familie erzeugten Kinder, die in der nächsten Generation (FJ wieder zur Eheschließung gelangen. Sie enden hier in einem schwarzen oder weißen Quadrate, je nachdem sie einen männnlichen oder einen weiblichen Deszendenten repräsentieren, und sie sind so geführt, daß die zu Paaren sich verbindenden Sprößlinge aus den ver- schiedenen Familien a bis r in der Ebene, welche der neuen ge- schlechtsreif gewordenen Generation F1 entspricht, direkt neben- einander zu stehen kommen. Hier sind sie zu einem Paar durch ein ^\-Zeichen verbunden, von dessen Spitze wieder die neuen Deszendenzlinien der F2 Generation ausgehen. Die meisten Linien sind in Punkten ausgeführt; einige dagegen, welche der Konstruktion der drei oben besprochenen Ahnentafeln Fig*. 32 — 34 zugrunde liegen, sind in dreifach verschiedener Weise bes nders her vor gehoben, um die Deszendenzlinien rascher überblicken und verfolgen zu können. Da die ehelichen Verbindungen zwischen den 16 zum Aus- gang genommenen Familien und ebenso zwischen ihren späteren Deszendenten bald in dieser, bald in jener Richtung regellos er- folgen, müssen sich die Deszendenzlinien in verschiedenen Richtungen schneiden. An Stelle des aufrechten oder des umgekehrten Baumes der Stamm- oder der Ahnentafel erhalten wir daher in der bild- Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. 245 liehen Wiedergabe dieser Verhältnisse ein Geflechtwerk, welches, je mehr die Zahl der Familien zunimmt, um so komplizierter und schwieriger entwirrbar wird. Gleichsam die Knoten des Netzwerks bilden die einzelnen Geschlechtspaare, in denen sich zwei Familien der vorausgehenden Generation verbinden und von denen dann wieder mehr oder weniger zahlreiche neue Deszendenzlinien zu den Knotenpunkten der nachfolgenden Generation ausstrahlen. Das Bild des Netzes drückt auf diese Weise die wirklichen Verhältnisse der Genealogie sehr viel vollkommener und umfassender aus als der Stammbaum und die Ahnentafel, welche nur zur Veranschau- lichung eines bestimmten genealogischen Verhältnisses, dort der Deszendenz, hier der Aszendenz, geeignet sind. Aus dem Schema (Fig. 35) lassen sich noch manche andere Tatsachen aus der Genealogie der mit den Buchstaben a bis r zu- sammengefaßten Bevölkerungsgruppe ablesen und statistisch be- arbeiten. So kann man die Zu- und Abnahme der Personen und die Zahl der Eheschließungen in einzelnen Generationen P, .P4 bis P4 berechnen (Tabelle I). Die Zahl der Familien hat sich von der ursprünglichen Zahl 16 in P4 auf 20 erhöht. Ihre Qualität hat sich dabei verändert. Denn einzelne Geschlechter von den 16 zum Aus- gang gewählten sind in der männlichen Linie ausgestorben, und zwar d , f, h , k, l , r, während andere jetzt in mehreren Familien vertreten sind: i und m 2 mal, a und g 3 mal, ferner c 5 mal. Es läßt sich feststellen, in welcher Generation und auf welche Weise das Aussterben einer Familie erfolgt ist. So sind d und r schon in der P-Generation in männlicher Linie erloschen, weil in jeder Familie nur Töchter geboren worden sind. Die Familie oi ist in der P2~G'eneration ausgestorben, weil die Ehe kinderlos geblieben ist, doch hat sich das Geschlecht in der Seitenlinie ob bis in P4 erhalten. T ab eile I. 246 Sechstes Kapitel. Ferner gibt Fig. 35 Auskunft über den Reichtum der ein- zelnen Ehen an Kindern, welche wieder zur Eheschließung ge- langen, und über ihre Zugehörigkeit zum männlichen oder weib- lichen Geschlecht, das man an der schwarzen oder hellen Farbe der eingezeichneten Quadrate erkennt. Wenn man in die Über- sicht auch die Kinder aufnehmen will, welche entweder vor der Tabelle II. a b c d e f g h 1 ‘ 1 k 1 m | n 0 P r a aa ba ca da ea fa ga ha ia ka la ma na oa pa ra b ab bb cb db eb fb gb hb ib kb lb mb nb ob pb rb c ac bc cc de ec fc gc hc ic kc lc mc nc oc pc rc d ad bd cd dd ed fd gd hd id kd ld md nd od Pd rd e ae be ce de ee fe ge he ie ke le me ne oe pe re f af bf cf df ef ff gf hf if kf lf mf nf of P^ rf g ag bg Cg dg eg ~fg gg bg ig* kg lg mg ng 1 °g Pg rg h ah bh ch dh • eh fh gh hh ih kh lh mh nh oh ph rh i ai bi ci di ei fi gi 1 hi ii ki li mi ni oi pi ri k ak bk ck dk ek fk g-k hk ik kk lk mk nk | ok "pk" rk 1 al bl cl dl el fl gl |^T il kl 11 ml nl 1 ol Pl rl m am bm cm dm em fm gm j hm im km lm mm nm om pm rm n an bn cn dn en fn gn hn in kn ln mn nn on pn rn 0 ao bo CO do eo fo g° ho io ko lo mo no j 00 po ro P ap bp cp dp ep ~fp~ gP hp ip kp lp mp np op PP rP r 1 ar br ! er dr er fr gr hr ir kr lr mr nr or pr rr Tabelle II. Kombinationsschema der Verbindungen, die zwischen den 16 Ge- schlechtern des genealogischen Netzwerks der Fig. 35 möglich sind. Die im Laufe von 5 Generationen wirklich stattgefundenen Verbindungen zwischen den Geschlechtern sind durch fetten Druck der Buchstaben hervorgehoben. Geschlechtsreife oder unverheiratet gestorben sind, so braucht man nur ihre Deszendenzlinien in der Weise, wie es als Beispiel bei c in der P-Reihe geschehen ist, noch einzutragen und in verschiedener Höhe frei auslaufen zu lassen. Endlich läßt sich verfolgen, in welchen Kombinationen und in welchen Generationen sich die 16 Geschlechter untereinander ehelich verbunden haben. Nach dem Kombinationschema (Tabelle II) sind unter 16 Familien 256 Kombinationen möglich. Dieselben würden sich Das Problem des Ahnenplasma. 247 in dem Zeitraum einer Generation mathematisch nur durchführen lassen, wenn jede Familie 16 männliche und 16 weibliche Kinder hervorbringen \vürde, die entsprechend dem Kombinationsschema Ehen schließen. Von diesen würden 16 (aa, bb bis rr) in der ersten Generation unter den Begriff des Incests fallen, von der zweiten Generation aber Verwandtenheiraten mit entsprechendem Ahnenverlust bedeuten. Man kann schon daraus ersehen, daß es eine größere Zahl von Generationen und einen längeren Zeitraum erfordern würde, ehe unter 16 Familien mit der üblichen beschränkten Kinderzahl die verschiedenartigen Kombinationen erfolgt sind. Bei der Zusammen- stellung des Schemas (Fig. 35) wurde ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, eine möglichst hohe Zahl verschiedener Kombi- nationen zu erzielen. Dieselben sind ebenfalls aus Tabelle I nach ihrer Verteilung auf die 4 Generationen leicht zu übersehen. Sie bleiben noch weit hinter der Zahl zurück, die nach dem Kombi- nationsschema möglich ist. Mit der Zunahme der Individuenzahl einer in sich abgeschlossenen Population aber steigt bald die Zahl der mathematisch ausführbaren ehelichen Kombinationen in das Riesenmäßige. Daraus läßt sich ersehen, wie beschränkt die in einer Population stattfindende Durchmischung in Wirklichkeit ist. 4. Das Problem des Ahnenplasma. Die genaue Ausarbeitung von Stamm- und Ahnentafeln und das kritische Studium derselben sind von großer Wichtigkeit für das Problem der Vererbung. Eine Hauptfrage hierbei ist: welche Vorstellung können wir uns von den Veränderungen bilden, welche bei geschlechtlicher Zeugung das Idioplasma eines Kindes dadurch erfahren hat, daß in seiner Ahnenreihe sich fortgesetzt väterliche und mütterliche Ahnenplasmen verbunden haben? Hierüber sind zwei entgegengesetzte Hypothesen, die GALTONsche und die MENDELsche auf gestellt worden. Die Hypothese Galtons kann jetzt wohl als aufgegeben betrachtet werden, verdient aber wegen ihrer historischen Bedeutung und als erster mit exakten Unter- suchungen verbundener, wichtiger Versuch eine kurze Erwähnung. Nach seinem „law of ancestral inheritance“ steuern die beiden Eltern zu dem kompliziert zusammengesetzten 'Erbteil der Kinder zu- sammen die Hälfte (jeder %), die 4 Großeltern zusammen V4 (jeder V16), die 8 Urgroßeltern zusammen 1/s (jeder l/6i), deren Eltern zusammen Vi6 usw. 'm abnehmender Progression bei. Man kann dies Erblichkeitsverhältnis also durch die Zahlenreihen V2 + 1/4 -j- f/8 -f- Vie + . . . = 1 (das ganze Erbe) ausdrück en. 248 Sechstes Kapitel. Die Annahme, daß die Vorfahren je nach ihrer Stellung in der Ahnenreihe mit abnehmender Potenz an dem Zustandekommen der erblichen Eigenschaften des Kindes teilnehmen, hat Galton durch statistische und messende Untersuchungen auch wirklich zu beweisen versucht; er ist dadurch im Verein mit Pearson und anderen Forschern, die sich solchen Bestrebungen angeschlossen haben, der Begründer der biometrischen Schule geworden, die besonders in England und Amerika zu Einfluß gelangte. A1 A 2 A3 A4 A5e tc. Fig. 36. Graphische Darstellung des Gesetztes vom Ahnenerbe. Nach Galton. Aus A. Lang. Die sehr komplizierte Zusammensetzung, welche bei Galtons Hypothese das kindliche Erbteil gewinnt, läßt sich durch eine graphische Darstellung (Fig. 36) deutlich machen, welche Lang nach Galton und Meston in sein Lehrbuch der Vererbungs- wissenschaft aufgenommen hat. Ein Quadrat, welches das kind- liche Idioplasma (= 1) bezeichnet, ist in größere und kleinere Quadrate abgeteilt. Ihre Größe bezeichnet das Maß des Erban- Das Problem des Ahnenplasma. 249 teils, welches die 2 Eltern A\ die 4 Urgroßeltern A2, die 8 Urur- großeltern As usw. zum Gesamterbe beisteuern. Also bedeutet die erste, mit Al bezeichnete Reihe der übereinanderstehenden großen Quadrate die Erbanteile der beiden Eltern (jeder zu V4 vom Gesamterbe); die zweite Reihe A2 stellt die Ahnenplasmen der 4 Großeltern (jedes zu V16), ferner A3, A4, A5 diejenigen der dritten, vierten, fünften Ahnengeneration dar. Am rechten Rand des Schemas ist noch ein heller, vertikaler Streifen frei geblieben. In ihn würden noch für die weiter folgenden Generationen A6 bis An die ihnen zukommenden Erbanteile iü immer kleiner und zahl- reicher werdenden Quadraten in entsprechender Weise einzutragen sein. Die weißen Quadrate, welche bei der Zählung von oben nach unten in jeder Reihe die ungeraden Zahlen erhalten würden (s. S. 238), stellen die männlichen, die schwarzen Quadrate die weib- lichen Erbanteile dar, mithin umgekehrt wie in den Fig. 31 bis 35. Das kindliche Erbe würde sich auf diese Weise in seiner Zu- sammensetzung einem wahren Mosaik vergleichen lassen, wie die graphische Darstellung klar veranschaulicht. Man könnte daher auch das GALTONsche law of inheritance wohl in zutreffender Weise als die Mosaiktheorie der Vererbung bezeichnen. Die gleiche Bezeichnung läßt sich auch auf die in eine etwas andere Fassung gebrachte, sonst aber an Galtons Lehre sich an- lehnende Ahnenplasma theorie von Weissmann an wenden l). Beide Lehren der Erblichkeit haben, wie schon auf Seite 215 kurz angedeutet worden ist, manche Züge mit der Einschachtelungs- theorie der alten Evolutionisten gemein, nur mit dem Unterschied, daß hier die Einschachtelung, durch welche das Mosaik entsteht, in entgegengesetzter Richtung vorgenommen wird. Galtons und Weismanns Vorstellungen vom Ahnenerbe und vom Ahnenplasma sind jetzt wohl allgemein, teils infolge der ergebnisreichen cytologischen Untersuchungen der letzten Jahr- zehnte, teils infolge der von Mendel eingeschlagenen experi- mentellen Forschungsrichtung verlassen worden. Denn die Zell- forschung lehrte, daß neben der Verschmelzung zweier Ahnen- plasmen und der durch sie herbeigeführten Summation der Erb- masse ein entgegengesetzter Prozeß einhergeht, durch den die verdoppelte Erbmasse wieder in 2 Hälften zerlegt oder reduziert wird (vgl. Kap. III 4). Ob das Idioplasma bei diesen Vorgängen der Verschmelzung oder Summation und der nachfolgenden 1) Weismann. 1) Das JZeimplasma , eine Theorie der Vererbung. JenajL892. 2) Vorträge über Deszendenztheorie. 1. Aufl. 1902, 8 . Au fl. 1918. 250 Sechstes Kapitel. Trennung oder Reduktion zweier verschiedenen elterlichen Erb- massen in seinen Eigenschaften verändert wird und in welcher Weise, kann freilich die rein cytologische Forschung für sich allein nicht lösen; aber sie hat in diesem Punkte eine wichtige Ergänzung durch die MENDELsche Forschungsrichtung gefunden. Denn einer- seits ist die durch sie ermittelte Spaltungsregel eine physiologische Bestätigung der cytologisch nachgewiesenen Reduktion, auf der anderen Seite ist durch die MENDELsche Analyse der Nach- kommenschaft der Bastarde in zweiter, dritter und vierter Gene- ration der experimentelle Nachweis erbracht worden, daß zwei durch Zeugung verbundene Idioplasmen bei ihrer später wieder eintretenden Trennung Veränderungen in ihrer Zusammensetzung erleiden. Die Veränderungen aber lassen sich durch die Annahme einer Zusammensetzung des Idioplasma aus Erbeinheiten (Genen), ferner durch die Annahme einer gewissen Selbständigkeit der- selben und eines wechselseitigen Austausches zwischen ihnen, der teilweise und in verschiedener Form erfolgen kann, gut erklären. Es sind daher die durch Befruchtung zusammengebrachten Idio- plasmen nach ihrer später wieder erfolgten Trennung nicht mehr die gleichen, die sie vor ihrer Verschmelzung waren, sondern in- folge der Befruchtung und eines hierbei stattgefundenen teilweisen Austausches von Genen in ihrem Wesen bald mehr bald weniger verändert. Genaueres über diese wichtige Erkenntnis ist schon in einem früheren Kapitel mitgeteilt worden (Kap. III, S. 72); auch sei auf das XII. Kapitel, welches noch besonders über das schwie- rige Problem der Vererbung handelt, gleich hier verwiesen. Das kombinierte Studium der Stamm- und Ahnentafel, ver- bunden mit dem Studium der cytologischen und MENDELschen Forschungsrichtung kann uns noch zur Grundlage für die Beant- wortung der Frage dienen, in welcher Weise die geschlechtliche Zeugung schließlich den Gesamtcharkter einer in sich abgeschlos- senen Bevölkerung von nicht zu großem Umfang beeinflussen muß. Wie wir oben an der Hand einer bildlichen Darstellung (Fig. 35) sahen, finden infolge der geschlechtlichen Verbindungen zwischen den Individuen der aufeinanderfolgenden Generationen Zusammenhänge statt, die sich als ein in Raum und Zeit aus- gebreitetes, kaum entwirrbares Netzwerk darstellen lassen. In diesem müssen die Folgen aller Mischungen und Entmischungen, die durch geschlechtliche Zeugung veranlaßt werden, von doppelter Art sein. Einmal werden um so zahlreichere Varianten durch neue Kombinationen nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen ge- Unwissenschaftliche Verwendung des Begriffes „Stammbaum“. 25 schaffen, je mehr die miteinander kombinierten Idioplasmen sich durch eine größere Zahl von Erbeinheiten voneinander unter- scheiden. Die Zahl der kleinen Unterschiede muß zunehmen, so daß fast jedes Individuum vom anderen, wie es in der mensch- lichen Gesellschaft der Fall ist, in unbedeutenden Merkmalen bald mehr bald minder abweicht. Auf der anderen Seite aber müssen größere Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen, wenn sie einmal bestanden haben, ebenso notwendig abnehmen und aus- geglichen werden. Denn auf einen Ausgleich wirkt ja schon das Auftreten vermittelnder Zwischenglieder durch neue Kombinationen der unterscheidenden Merkmale hin. Ferner müssen die extremen Differenzen allmählich auch in dem Fall verschwinden, wenn sie auf einem Komplex selbständiger Gene beruhen, die sich nach der Spaltungsregel voneinander trennen lassen. Denn dann können bei wiederholten geschlechtlichen Zeugungen in der Folge der Generationen diese Komplexe durch den Prozeß der Mischung und Entmischung in ihre Erbeinheiten zerlegt und letztere wieder zu den verschiedensten Neukombinationen verwandt werden. Somit kann die geschlechtliche Zeugung zu keinem anderen End- resultat führen, als daß durch ihre Vermittlung eine in sich abge- schlossene Gesellschaft von Individuen, die miteinander kreuzungs- fähig sind, artgleicher gemacht wird, daß dabei aber ein Fort- bestehen und sogar eine Zunahme in der Zahl geringfügiger Va- rianten nicht ausgeschlossen ist. Endlich geht aus unserem Schema und den an dasselbe angeknüpften Erörterungen noch hervor, wie außerordentlich langsam eine vollkommene Vermischung durch eheliche Verbindungen selbst bei einer beschränkten Zahl von Individuen vor sich geht, und wie lange Zeiträume erforderlich sind, um die zahlreichen Kombinationen durch Kreuzung durchzu- führen und durch sie das Auf gehen eines fremdrassigen Bestand- teils in einer Bevölkerung zu ermöglichen. Hiermit scheinen auch die zahlreichen Erfahrungen übereinzustimmen, die man machen kann, wenn im Staate zwei oder mehr Rassen der Bevölkerung beim Schwinden von sozialen Hindernissen und von Rassengegen- sätzen häufiger eheliche Verbindungen untereinander schließen und so allmählich das Material für einen neuen Mischtypus schaffen. 5. Unwissenschaftliche Verwendung des Begriffes „Stammbaum“. Außer zur Darstellung von Generationsfolgen der Organismen^ die auf Zeugung beruhen, und daher ein wirkliches Verwandtschafts- verhältnis ausdrücken, bedient man sich des Wortes und des Bildes 252 Sechstes Kapitel. eines Stammbaums auch noch in vielen anderen Fällen in einer mehr übertragenen und allegorischen Bedeutung. Anstatt einer auf Zeugung beruhenden Folge versucht man auch unter dem Bilde eines Baumes oder in der Form sich verzweigender Linien, die von einem gemeinsamen Stamm ausgehen, überhaupt Verhältnisse dar- zustellen, die sich entweder zeitlich auseinander entwickeln oder in irgendeiner Weise unter den Begriff der Entwicklung gebracht und aus ihm erklärt werden können. So bedienen sich die Sprach- forscher des Bildes eines Stammbaumes als eines Hilfsmittels für leichtere Verständigung, um zu zeigen, wie sich aus einer Ursprache verschiedene Volkssprachen der Gegenwart und unter diesen wieder verschiedene Dialekte ausgebildet haben. Unter der Herrschaft des Darwinismus war es ferner in der Zoologie und Botanik vorüber- gehend sehr beliebt geworden, zoologische und botanische Stamm- bäume zu entwerfen Man übersetzte hierbei die Ergebnisse der Systematik in das Genealogische und ordnete die systematischen Begriffe der Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Species in der Form eines Baumes an. Dabei wurde der all- gemeinste Begriff zum Stamm und die ihm untergeordneten Be- griffe je nach ihrer Rangordnung zu Haupt- oder Nebenästen, zu feineren und feinsten Zweigen angeordnet. Es bedarf wohl kaum einer näheren Begründung, daß hier ein großer Unterschied in der Verwendung des Begriffs und des Bildes eines Stammbaumes vorliegt. In dem einen Fall drückt man, wie in den Betrachtungen im ersten Teil unseres Kapitels (S. 229), ein wirklich genealogisches, auf Zeugung beruhendes Verhältnis aus, das zum Gegenstand einer streng wissenschaftlichen, methodischen Untersuchung gemacht werden kann. In allen anderen Fällen wendet man das Bild des Stammbaumes auf Beziehungen von Begriffen an, die sich zwar in Reihen anordnen lassen, aber doch in keinem Ahnenverhältnis zueinander stehen, da sie sich nicht fortpflanzen können. Ahnentafeln und Stammbäume lassen sich in naturwissen- schaftlichem Sinne nur von den Generationsreihen konkreter, pflanz- licher und tierischer Individuen aufstellen, nicht aber von den syste- matischen Begriffen der Art, Gattung, Familie und Klasse, unter denen man zur besseren Orientierung Gruppen von Lebewesen, je nach der Ähnlichkeit in ihrem Bau, in engerem und in weiterem Sinne zusammengeordnet hat. Später wird bei der Besprechung der Entstehung der Arten auf diesen Punkt noch einmal genauer eingegangen werden. In gleichem Sinne hat sich schon LORENZ in seinem Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie ausgesprochen. Auch Tod und Verjüngung. 253 er wünscht, daß bei der methodologisch so verschiedenartigen Ver- wendung der Stammbäume „die Dinge etwas sorgfältiger auseinander- gehalten würden“, und er fügt noch weiter zur Erläuterung hinzu: i,Man bedient sich des Ausdrucks Stammbaum in den verschiedenen, Wissenschaften gewiß nur im Sinne eines Bildes, aber die Schlüsse die zuweilen aus dieser tropischen Redewendung gezogen werden, sind bedenklich, weil Begriffe zwar nach Analogie eines Stamm- baumes fortschreiten können, aber doch nie einen wirklichen Vater haben. Ebenso verwirrend ist es, wenn man etwa von einem Stammbaum der Menschheit oder von einem Stammbaum der Tiere spricht, weil nur der Mensch oder das Tier in seiner Besonderheit, nicht aber der abstrakte Mensch und der Begriff vom Tier Kinder erzeugt. Die Genealogie muß sich mithin gegen den Gebrauch des Wortes Stammbaum in jeglichem tropischen Sinne verwahren und kann ebensowenig die , Sprachenstammbäume4 wie die zoolo- gischen Stammbäume4 zu Darstellungen des wirklich genealogischen Stoffes rechnen, weil sie sich nur mit den wirklich nachweisbaren Zeugungen bestimmter Individuen beschäftigt.“ 6. Tod und Verjüngung1). Es ist ein wunderbarer Kunstgriff der Natur, im Wechsel von Leben und Tod den Lebensprozeß selbst auf unserer Erde zu einem ewigen für menschliche Vorstellung zu machen. Wenn auch nach unabänderlichem Naturgesetz die einzelnen Tier- und Pflanzen- individuen sterben müssen, so blicken doch die Lebewesen der Gegenwart auf eine uralte Ahnengeschichte zurück und sind 'die Glieder einer unendlich langen Kette, in welcher der Lebensprozeß durch Zeugung von einem auf das ihm folgende Individuum stets wieder übertragen und dadurch erhalten wird. Auf diese Weise ist das leicht zu schädigende, zarte Protoplasma einer Zelle mit dem in seinem Innern eingebetteten Kern, obwohl es nur unter ge- eigneten Bedingungen der Außenwelt zu bestehen vermag, doch mit mehr Mitteln zur Selbsterhaltung ausgerüstet, als alle un- organischen und organischen Verbindungen der Chemie. Denn diese zerfallen und vergehen im Laufe der Zeiten durch die chemischen Angriffe der Außenwelt, ohne in derselben Form gleichzeitig wieder ersetzt zu werden. 1) Minot, Charles S., The problem of age, growth and death, a study of cyto- rnorphosis. New York 1908. — Weismann , Aug.} Ueber die Dauer des Lebens. Vortrag 1881. — Derselbe, Ueber Leben und Tod. Jena I884. — Korschelt, E., Lebensdauer, Altern und Tod. Zieglers Beiträge z. path. Anat. u. Pliys., Bd. 68. 254 Sechstes Kapitel. Das Thema „Tod und Verjüngung“ kann dem Biologen zu mancherlei Betrachtungen Veranlassung geben. An erster Stelle verdient erwähnt zu werden, daß sich von vornherein zwei Reihen von verschiedenen Todesursachen unterscheiden lassen. Die einen beruhen auf der Konstellation zufälliger, ungünstiger Bedingungen. Aus diesem Grunde verfallen fortwährend unzählige pflanzliche und tierische Keime, Milliarden von Eiern und Samenfäden dem Unter- gang und verfehlen so ihre Bestimmung, zu Ausgangspunkten neuen Lebens zu werden (vgl. 232). Denn wie viele Keime, die schon ihre Entwicklung begonnen haben, sterben während derselben und oft auch kurz vor ihrer vollen Reife und vor dem Besitz der Fort- pflanzungsfähigkeit ab, bald durch Krankheiten der verschiedensten Art, bald durch Nahrungsmangel , bald im Kampf mit anderen Organismen, denen sie zur Nahrung dienen, oder aus vielen anderen Ursachen! Was für die Keime der vielzelligen Organismen, gilt in demselben Maße auch für alle Einzelligen. Denn wenn sie nicht fortwährend eine Beute des Todes würden, müßte ihre Nachkommen- schaft bald keinen Raum mehr auf unserer Erde finden. Sie würden dann auch auf diesem Wege, gleichsam durch die Überfülle des Lebens, aus Mangel an Raum und Nahrung zugrunde gehen bis auf eine dem Gesamthaushalt der Natur angepaßte Individuenzahl. Außer dem eben besprochenen, mehr „zufälligen Tod“, wenn man mit WEISMANN so sagen will, gibt es noch eine zweite Gruppe von Todesursachen, die im Wesen des Organismus selbst begründet, mit innerer Notwendigkeit den Lebensfaden zerschneiden, wenn die Zeit gekommen ist. Sie sollen uns jetzt noch etwas weiter beschäftigen ; denn in diesem Fall läßt die Dauer des Lebens bei den einzelnen Pflanzen- und Tierarten ein gewisses Maß von Ge- setzmäßigkeiten erkennen. Zwar sind unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete noch gering, doch liegt immerhin eine Anzahl von Be- obachtungen vor, die Weismann zum Teil in einem Vortrag zu- sammengestellt hat. In der Klasse der Säugetiere, wie auch in anderen Klassen des Tierreichs, schwankt die natürliche Dauer des Lebens bei ver- schiedenen Arten innerhalb weiter Grenzen, ist aber bei den In- dividuen einer Art von ziemlicher Konstanz. Die Körpergröße scheint hierbei die Unterschiede zum Teil mitzubedingen. So schätzt man die normale Lebensdauer bei der Maus auf etwa 6 Jahre’ beim Hasen auf 10, beim Schaf auf 15, beim Pferd auf 40 — 50, beim Menschen auf 70 — 100, beim Elefanten auf 200 Jahre. Sehr langlebig sind im allgemeinen die Vögel. Die einheimischen Sing- Tod und Verjüngung. 255 vögel werden 8 — 18 Jahre, Kanarienvögel selbst in der Gefangen- schaft 12 — 15, Hühnerarten 18 — 20 Jahre alt; noch viel älter werden die größeren Raubvögel, wie Falken und Adler. In zoologischen Gärten ist beobachtet worden, daß ein Steinadler ein Alter von 104 und ein weißköpfiger Geier sogar von 118 Jahren erreicht hat. Durch ihre Kurzlebigkeit zeichnen sich die meisten Insekten aus. Lepidopterologen halten es für unwahrscheinlich, daß irgend- ein Schmetterling im Imagozustand ein volles Jahr am Leben bleibt. Papilio Ajax soll etwa 6 Wochen alt werden, andere Arten nach dem Ausschlüpfen aus der Puppenhülle noch früher sterben; häufig tritt der Tod bald nach der Eiablage ein. Ähnlich verhält es sich mit den Käfern, unter denen man genauere Beobachtungen beim Maikäfer (Melolontha vulg.) angestellt hat. Exemplare, die in einem geräumigen Zwinger unter günstigen Bedingungen gezüchtet wurden, lebten nicht über 39 Tage. Nach den Erfahrungen, die Bienen- züchter gesammelt haben, schätzt v. Berlepsch die Lebensdauer bei der Königin auf 2 bis höchstens 5, bei den Arbeiterinnen auf 6 bis 7 Jahre und bei den Drohnen nur auf 6 Monate. Ja, es gibt Insekten, die im Imagozustand nur einige Stunden leben. Bekannt in dieser Beziehung ist die Eintagsfliege (Ephemera vulgata). Nach- dem sie die letzte Metamorphose bestanden hat, erfolgt die Be- gattung und auf diese die Eiablage, nach welcher das erschöpfte Tier 4 — 5 Stunden nach dem Ausschlüpfen abstirbt. Eine in ihrer Art einzig dastehende Erscheinung bieten uns viele Insekten dadurch dar, daß, während ihr Leben als Imago so außerordentlich kurz bemessen ist, ihr Larvenleben im Unterschied hierzu sehr in die Länge gezogen ist. Der Maikäfer, der nur einen Monat alt wird, nährt sich als Engerling, in der Erde vergraben, 4 Jahre lang von pflanzlicher Kost. Die Larvenzeit der Eintags- fliege währt 2 — 3 Jahre. Dagegen beträgt sie bei den Bienen, die als Imago 1 — 5 Jahre leben, nur 5 — 6 Tage. Ein entsprechendes Wechsel Verhältnis zwischen der Dauer der Larven- und Imago- periode ist noch in vielen anderen Fällen beobachtet worden. Während über die Lebensdauer der Würmer, der Echinodermen und Cölenteraten fast gar keine Beobachtungen vorliegen, ist über sie von den Mollusken schon mehr bekannt. Einen Anhaltspunkt, um ihr Alter abzuschätzen, bietet die Beschaffenheit ihrer Schalen dem Forscher dar. So sind nach den von Weismann zusammen- gestellten Angaben von CLESSIN die Vitrinen einjährig, die Suc- cineen zweijährig, die Heliceen, Lymnaceen, Paludineen, Planorbis und Ancylus 2 — 4-jährig. Noch älter werden nach der Anzahl der 256 Sechstes Kapitel. Jahresringe ihrer Schalen die Najaden, von denen Unio und Ano- donta erst im 3. — 5. Jahre geschlechtsreif werden. Auch unter den Mollusken scheint wieder die Körpergröße einen Einfluß auf die Lebensdauer auszuüben. L. Agassiz gibt dieselbe bei einer großen Meeresschnecke, Natica heros, auf 30 Jahre an; nach Brehm soll „die Riesenmuschel, Tridacua gigas, sogar 60 — 100 Jahre alt werden“. Auch im Pflanzenreich ist ähnlich wie im Tierreich die Lebens- dauer häufig für einzelne Arten eine streng normierte, und auch hier zeigen die kleineren Gewächse, wie die Getreidearten, Kräuter und Stauden eine viel kürzere Lebensdauer als die größeren Sträucher und Bäume. Bei den einjährigen und zweijährigen Gewächsen er- streckt sich ihre Lebensdauer nicht über einen, resp. zwei Sommer. Den Winter vermögen die einjährigen nur als Samen zu über- dauern. Im Gegensatz hierzu wird das Alter von manchen Baum- riesen, das sich nach der Zahl der Jahresringe im Holz des Haupt- stammes mit ziemlicher Genauigkeit berechnen läßt, auf viele Jahr- hunderte geschätzt. Wie sich aus diesen spärlichen Mitteilungen, die ein noch wenig durchforschtes Gebiet betreffen, wohl erkennen läßt, ist die Lebens- dauer der einzelnen Pflanzen und Tiere ebensogut eine charakteristische Eigenschaft der Species wie andere Merkmale morphologischer und physiologischer Natur. Schon öfters ist die Frage aufgeworfen worden, warum sich bei den vielzelligen Repräsentanten der Art der Lebensprozeß mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit allmählich abschwächt und schließ- lich erlischt, während doch die Keimzellen in der Ahnenkette das Vermögen haben, sich durch Teilung ins Unendliche zu vermehren und so eine Reserve des Lebens bilden, aus der sich immer wieder aufs neue sterbliche Wesen entwickeln. So gering auf diesem Ge- biet unser derzeitiges Wissen auch anzuschlagen ist, so läßt sich doch mit guten Gründen die Behauptung aufstellen und rechtfertigen: die Ursache des Todes ist in der Art der Organisation der vielzelligen Lebewesen zu suchen. Ihre Organisation beruht auf Arbeitsteilung und Differenzierung für die verschieden- artigsten Zwecke; hierbei werden von der Zelle besondere Plasma- produkte gebildet, wie Grundsubstanzen, Muskel- und Nervenfibrillen, die verschiedenartigsten Sekrete und chemischen Substanzen, die alle nur für ganz spezialisierte Aufgaben bestimmt sind. Mit der Entstehung zahlreicherer Organe und Gewebe und mit der dadurch hervorgerufenen größeren Komplikation der ganzen Organisation und des Lebensprozesses wird jedes Organ, jedes Gewebe, jede Zelle Tod und Verjüngung. 257 in der schon früher besprochenen Weise von allen anderen abhängig, bei den höheren Organismen entsprechend mehr als bei den niederen. Bleibt das Herz z. B. Stillstehen, so wird die Ernährung aller Zellen mit dem Aufhören des Blutkreislaufs auf einen Schlag unterbrochen. Langsamere Schädigungen treten ein, wenn andere Organe, wie Drüsen, Nerven, Blutgefäße aus den mannigfaltigsten Ursachen nicht mehr in normaler Weise funktionieren. In diesem Fall ist zu beachten, daß eine Störung fast stets sehr viele andere Störungen bald in diesen bald in jenen voneinander abhängigen Teilen zur Folge hat. Schließlich bringen die sich vermehrenden und sich gegenseitig steigernden Störungen den ganzen Betrieb in Unordnung und zum Stillstand. Das Leben ist dem Tode erlegen. Nun besitzen allerdings alle lebenden Wesen in mehr oder minder hohem Grade eine erstaunliche Fähigkeit, die meisten Schädigungen, die sich im Betrieb einstellen, wieder vollkommen auszubessern. Die überangestrengten Muskeln ersetzen nach einiger Zeit der Ruhe wieder die verbrauchte, quergestreifte Substanz. Ebenso erholt sich wieder das tätig gewesene Nervengewebe nach einiger Zeit der Ruhe. Zerstörte rote Blutkörperchen werden durch die Tätigkeit des Knochenmarks, Lymphocyten in den lymphoiden Organen wieder erneuert. Was an der Oberfläche der Haut durch Abstoßung verhornter Zellen verloren geht, regeneriert sich wieder durch Vermehrung der Zellen im Stratum germinativum. Wunden werden durch die Tätigkeit des benachbarten Gewebes geheilt. Bei vielen Tieren können sogar größere in Verlust geratene Organe durch Regeneration oft in Staunen erregender Weise durch ent- sprechend neue ersetzt werden. Und doch liegen hier die Angriffspunkte des Todes, teils in dem Unvermögen, immer wieder neu eintretende Betriebsstörungen auszugleichen, teils in dem Erlahmen der Regeneration verbrauchter Teile. Offenbar ist bei Zellen, die für besondere Arbeitszwecke spezialisiert sind, das Vermögen, die bei der Funktion eingetretenen Verluste fortwährend in der gleichen Weise zu ersetzen, nicht so vollkommen ausgebildet, wie das Vermögen der undifferenzierten Keimzellen sich durch Teilung wieder aufs neue zu vermehren und auf diese Weise den Lebensprozeß selbst zu erhalten. Wie der Mensch aus Erfahrung weiß, macht sich das Heran- nahen des Alters in einer allmählichen Abnahme der Leistungs- fähigkeit vieler einzelner Organe bemerkbar, der Muskeln, der Hirn- tätigkeit, der Verdauungsorgane, des Herzens und der Gefäße. Viele Alterserscheinungen an Organen und Geweben sind schon bei O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 1 7 Sechstes Kapitel. 258 mikroskopischer Untersuchung vom pathologischen Anatomen leicht zu erkennen. Fast alle beruhen sie auf Veränderungen der für spezielle Arbeitszwecke gebildeten Plasmaprodukte. Die Knochen werden brüchiger durch schädliches Überwiegen der erdigen Be- standteile im Verhältnis zur organischen Grundsubstanz. Die Knorpel zeigen verminderte Biegsamkeit durch Ablagerungen von kohlen- saurem Kalk. Bei den Gefäßen treten Veränderungen durch Arterio- sklerose ein, wodurch die für eine normale Zirkulation erforderliche Elastizität und Dehnbarkeit ihrer Wandung stark vermindert wird. Daher kann man wohl sagen: gerade die Vorgänge, durch welche die Zellen in den vielzelligen Repräsentanten der Art vermöge der Arbeitsteilung und der Bildung der verschiedenartigsten Plasma- produkte zu den höchsten Leistungen des Lebens befähigt werden, schaffen auch die Verhältnisse, welche den Alterstod durch Ab- nutzung und Erschöpfung herbeiführen. Und noch in einer zweiten Weise wirkt der Prozeß, welcher in den Lebewesen die in ihren Keimen schlummernden Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung bringt, der Dauer ihres Lebens entgegen. Denn er schwächt in ihren Zellen in demselben Maße, als sie durch irgendeine Funktion intensiver in Anspruch genommen sind, ihr Vermögen, sich durch Teilung zu vermehren. Es gilt dies für Pflanzen wie für Tiere in gleicher Weise. Hier wie dort bildet sich infolge der Arbeitsteilung bald ein Gegensatz aus zwischen den Zellen, die irgendeine Funktion übernommen und ein Gewebe gebildet haben, und solchen, die indifferent und auch später noch gleichsam embryonal geblieben sind. Bei den Pflanzen sind die letzteren an allen den Orten anzutreffen, von denen die Anlage neuer Organe oder das fortgesetzte Wachstum bereits vorhandener ausgeht. Sie stellen die Vegetationskegel an den Spitzen der Wurzeln und der oberirdischen Zweige und die Cambiumschichten dar; es sind Teile, die nur aus kleinen, protoplasmatischen Zellen von em- bryonalem Charakter bestehen. Hier allein vermehren sich die kleinen Zellen durch Teilung in reicherem Maße und bilden die Stätten, an welche die Anlagen neuer Organe gebunden sind. In einem Kubikmillimeter dieser Substanz findet sich 100- bis 1000 mal soviel Kernsubstanz wie in einem entsprechend großen Stück voll- ständig ausgewachsenen Parenchymgewebes. Im Parenchym ge webe dagegen, in welchem die Prozesse der Assimilation und des Stoff- wechsels energischer vor sich gehen, oder in den mechanischen Geweben, in welchen dickere Wandungen aus Zellulose durch die formative Tätigkeit des Protoplasmas entstanden sind, ist das Tod und Verjüngung. 259 Teilungsvermögen erloschen. Pflanzenblätter verändern daher ihre Form nicht mehr, nachdem ihre Zellen ausgewachsen sind. Ebenso bei den Tieren. Zellen, die durch eine Funktion in bestimmter Richtung in Anspruch genommen werden und mit ihrem ganzen Stoffwechsel hierfür gleichsam eingestellt sind, Drüsen- zellen, Knochenzellen, Sehnenzellen, rote Blutkörperchen der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel, glatte und quergestreifte Muskel- fasern lassen beim erwachsenen Tier Kernteilungsfiguren fast voll- ständig vermissen. Die Ganglienzellen mit ihren großen bläschen- förmigen Kernen teilen sich überhaupt nicht mehr; ja selbst die Eizelle hat in der Periode, wo sie im Ovarium ein Sitz gesteigerter nutritorischer Vorgänge geworden ist und Dottermaterial in sich aufspeichert, die Fähigkeit zur Teilung vorübergehend vollkommen verloren. Auch ihr Kern hat als Keimbläschen eine Beschaffen- heit angenommen, die ihn besonders in den dotterreichen Eiern der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel zur Teilung ganz un- geeignet macht. Er muß daher auch, nachdem die Wachstums- periode beendet ist, und bevor mit der Bildung der Polzellen die Vermehrungsperiode wieder neu beginnt, einer teilweisen Auflösung und vollständigen Umbildung unterworfen werden. So scheint offenbar der ganze Stoffwechsel einer Zelle, wenn er in einseitiger Weise für eine spezifische Tätigkeit gesteigert ist, ihr Vermögen zur Fortpflanzung in ungünstiger Weise zu beeinflussen, es ent- weder ganz zu unterdrücken oder wenigstens zu schwächen. Wenn auch nicht in der ausgesprochenen Weise, wie bei den Pflanzen, bleibt das Wachstum vieler Organe bei den Tieren gleich- falls nur auf besondere Lagen von Zellen mit embryonalem Cha- rakter beschränkt, so auf das Stratum cylindricum in der Tiefe der Epidermis, auf die Haarzwiebel, auf Gruppen von Ersatzzellen im Zy linder epithel des Darmes, auf die Osteoblasten des Periosts, auf Zellen des Perichondrium, auf die Neubildungsstätten von Lymph- und Blutkörperchen in den Lymphfollikeln und im roten Knochenmark. Zu den beiden schon besprochenen Momenten gesellt sich end- lich noch ein drittes hinzu. Ist doch mit jeder Organisation und dem auf ihr begründeten Maße von Leistungen auch ein gewisser Nachteil verbunden. Und dieser besteht in einer Abnahme der Anpassungsfähigkeit. Durch die Bildung von Organen und Geweben, die nur für bestimmte Funktionen eingestellt sind, wird der Lebensprozeß in feste Bahnen gelenkt. Er muß sich in ihnen in stets gleich bleibender Weise abspielen, wie bei einer zusammen- gesetzten Maschine das ganze Getriebe seinen gleichmäßigen, aber 17* 2ÖO Sechstes Kapitel. auch unabänderlichen Gang geht, wenn alle Teile ihre ursprüng- liche Form und Anordnung in unbeschädigter Weise beibehalten und von außen keine störenden Faktoren auf sie ein wirken. Kein schöneres und überzeugenderes Beispiel gibt es wohl hierfür, als der gebildete Mensch mit seiner geistigen Tätigkeit. Im reifen Mannesalter erreicht er, geübt durch langjährige Schu- lung in Denkprozessen und ausgerüstet mit der größten Summe von Kenntnissen und Erfahrungen, wohl das höchste Maß geistiger Leistungsfähigkeit. Aber unter Gewöhnung an bestimmte Gedan- kenrichtungen, bei der Ausübung einseitig gesteigerter Berufstätig- keit und aufgewachsen in den Überlieferungen und den Gedan- kenkreisen seiner Zeit, verliert er allmählich auch die Aufnahme- fähigkeit und zum Teil auch das vorurteilslose Verständnis für neue Wandlungen auf geistigem Gebiete, für Fortschritte in Wissen- schaft, Kunst und Technik, für soziale und politische Neuerungen. So bleibt er in bestimmten Richtungen hinter jugendlichen, in Entwicklung begriffenen Geistern zurück, die noch mit größerer Empfänglichkeit das Neue in sich aufnehmen und eventuell als Grundlage weiterer Fortschritte für sich verwerten. Daher er- scheint es begreiflich, daß, wer als Reformator auf irgendeinem Gebiet zu wirken sich berufen fühlt, vor allen Dingen die Jugend als die bestimmenden Männer der Zukunft für sich zu gewinnen sucht. In ähnlicher Weise ist schließlich überall im Reich der Lebewesen die noch werdende Organi- sation der schon fest gewordenen überlegen. Nicht nur ist sie schon an sich berufen, einmal im Wechsel der Generationen an ihre Stelle zu treten, sondern sie kann sich auch, gerade weil sie sich noch ent- wickelt, den Bedingungen der Außenwelt stets wieder aufs neue anpassen. In der Keimzelle ist ja nur die Anlage für den vielzelligen Organismus gegeben, das heißt etwas, das nach vorausbestimmten Grundzügen erst durch den Ent- wicklungsprozeß im Detail ausgeführt werden soll. Auszuführende Teile aber sind leichter Veränderungen zugänglich als die bereits fertig gebildeten. Dort hat man es gleichsam noch mit flüssigen, hier mit erstarrten Zuständen der lebenden Substanz zu tun. Während der Entwicklung kann sich das Prinzip der Korrelation der Teile in viel höherem Grade Geltung verschaffen als beim aus- gebildeten Organismus. Bei diesem wird die funktionelle Verände- rung eines Organs viel schwieriger zu angepaßten Veränderungen auch an anderen Organen, die zu ihm in Beziehungen stehen, führen. Tod und Verjüngung. 2 6 Dagegen wird jede Veränderung, welche eine Keimzelle erfahren hat, durch den Teilungsprozeß ein Gemeingut aller Zellen des aus ihr entstehenden Organismus. Daher bietet der Entwicklungs- prozeß aus Keimzellen die beste Gelegenheit, sowohl alle Organe und Gewebe des werdenden Organismus untereinander als auch zu den herrschenden Bedingungen der Außenwelt immer von neuem wieder in Einklang zu bringen. Wie große Unterschiede in der Form von Lebewesen der gleichen Art auf diesem Wege durch Entwicklung unter verschiedenen Bedingungen hervorgerufen werden können, werden uns noch die im VIII. Kapitel zu be- sprechenden Standorts- und Ernährungsmodifikationen bei Pflanzen und bei Tieren lehren. So dient im großen Haushalt der Natur der all- mächtige Tod, indem er die Organismen, welche der Lebensprozeß aus den Artzellen her vorgebracht hat, nach unabänderlichem Gesetz und nach Vollendung ihrer Zeit auch wieder ausnahmslos vernichtet, mit als ein unentbehrliches und wichtiges Mittel zum Fortschritt der Organ ismen weit. Er schafft erst die Möglichkeit, daß im Wechsel der hi n s t e r b e n d e n Generationen die aus ihren Keimen neu entstehenden Organismen sich b e.i ihrem Werdeprozeß den Da- seinsbedingungen stets wieder neu und in vollkom- menerer Weise allmählich und kaum wahrnehmbar anpassen können. Von unserem Standpunkt aus betrachtet spielen somit der Tod und der ihm als Ergänzung hinzugesellte Verjüngungsprozeß der Lebewesen im Gesetz der Entwicklung einen wesentlichen Teil der Rolle, die Darwin dem Kampf ums Dasein und der Selektionstheorie mit ihrer negativen und positiven Auslese zuge- schrieben hat. Daher dürfte es am Schluß des Kapitels nicht über- flüssig sein, obwohl wir uns mit der DARWiNschen Theorie erst später (Kap. XV und XVI) beschäftigen werden, schon jetzt kurz auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen der hier vorgetragenen Auffassung von der Bedeutung der Generationsfolge für das Werden der Organismen und der Auffassung der DARWiN- schen Schule besteht. Nach unserer Ansicht ist das nach dem Naturgesetz erfolgende Absterben der Organismen und ihr Ersatz durch verjüngte Generationen schon an sich ein stets wirksames und allgemeines Mittel, um die Eigenschaften der Art all- mählich und sicher zu verändern; es vermag sowohl die vorher 2Ö2 Sechstes Kapitel. einfachere Organisation komplizierter und leistungsfähiger zu machen, als auch umgekehrt vermag es wie beim Parasitismus und infolge des auch sonst noch häufig vorkommenden Nichtge- brauchs von Organen, die einmal unter anderen Bedingungen tätig gewesen sind, früher vorhanden gewesene Organisationen wieder zu vereinfachen oder auch ganz zu zerstören. Denn in jeder Onto- genese bauen sich ja die jungen Lebewesen, die zum Ersatz der alten dienen, aus ihren Artzellen durch das Zusammenwirken von inneren und äußeren Faktoren periodisch wieder neu auf; sie er- 4 halten so Gelegenheit, vermöge der größeren Reaktionsfähigkeit embryonaler Zellen sich der Umwelt vollkommener anzupassen, als es der ausgebildete und starr gewordene Organismus vermag (vgl. Kap. IV). Für die Richtigkeit dieser Auffassung ist die ganze experimentelle Entwicklungslehre ein fortlaufender Beweis. Darwin hat die allgemeine, auf Veränderung hinzielende Wirkung, welche der Generationsfolge der Organismen im Wechsel von Leben und Tod schon an und für sich zukommt, nicht er- kannt und unberücksichtigt gelassen. Anstatt dessen hat er, ver- anlaßt durch die Lehre von Malthcjs und aufgewachsen in den damals herrschenden philosophischen und wirtschaftlichen Gedan- kengängen des Nützlichkeitsprinzips die Hypothese der natürlichen Zuchtwahl zur Erklärung der Veränderung und Anpassung der Organismen an ihre Umwelt aufgestellt. Die Frage nach der Be- rechtigung seiner Auffassung wird uns ausführlicher noch in dem XVI. Kapitel beschäftigen. Siebentes Kapitel. Das System der Organismen. Der Speziesbegriff. In den zahlreichen Schriften die über die Deszendenztheorie und die mit ihr zusammenhängenden Fragen seit 70 Jahren er- schienen sind, steht der Speziesbegriff fast ausnahmslos im Mittel- punkt der Darstellung. Trägt doch das Hauptwerk, durch das der Entwicklungsgedanke wieder zu allgemeiner Geltung in unserer Zeit gebracht worden ist, in bezeichnender Weise den Titel: „On the origin of species“. Warum hat Darwin anstatt über „die Ent- stehung der Arten“ nicht über die Entstehung der pflanzlichen und tierischen Organismen oder über das Werden der Organismen ge- schrieben, in der Weise, wie es die alten Evolutionisten, wie es C. Fr. Wolff in seiner Epigenesis, wie es Buffon und Oken oder in unserer Zeit NäGELI getan haben? Die von Darwin getroffene Wahl des Titels ist gewiß keine zufällige gewesen, sondern wurde durch seine ganze Forschungs- richtung und die ihn hauptsächlich bewegende Ideenwelt bestimmt. Darwin war vorwiegend Systematiker. Anatomie und Physiologie haben als gesonderte Spezialzweige der Biologie sein Ineresse zu allen Zeiten weniger in Anspruch genommen. Dagegen hatte er sich durch seine ausgesprochene Neigung zum- Sammeln von Pflanzen und Tieren und durch eine methodisch geschärfte Beobachtungsgabe auf seiner Reise um die Welt einen umfassenden Überblick über die vielgestaltige Lebewelt, über ihre Verbreitung in zahlreichen Ländern und Meeren, über ihre verschiedenartigen, sehr ver- wickelten ökologischen Beziehungen zueinander und zu ihrer Um- gebung verschafft und daraus die Anregungen zu der wissen- schaftlichen Haupttat seines Lebens erhalten. Denn wie er selbst in einem Brief uns erzählt, waren es drei Klassen von Erschei- nungen, welche beim Besuch von Südamerika . einen tiefen Ein- druck auf ihn machten: erstens die Art und Weise, in welcher 264 Siebentes Kapitel. nahe verwandte Spezies einander vertreten und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; zweitens die nahe Verwandtschaft der Spezies, welche die Südamerika nahe gelegenen Inseln be- wohnen, mit denen, welche diesem Festland eigentümlich sind. Na- mentlich fiel ihm hierbei auf, daß die Lebe weit der kleinen Inseln des Galapagos-Archipels zwar in ihrem allgemeinen Grundcharakter mit derjenigen Südamerikas übereinstimmt, aber doch ein durch- aus eigenartiges Lokalgepräge trägt und außerdem auch von Insel zu Insel lokale Modifikationen erkennen läßt. Drittens setzte ihn bei Durchforschung der Pampas von Südamerika die nahe Be- ziehung der lebenden Edentaten zu den ausgestorbenen Arten in Erstaunen. „Als ich über diese Tatsache nachdachte und einige ähnliche Erscheinungen damit verglich“, bemerkt Darwin hierzu, „schien es mir wahrscheinlich, daß nahe verwandte Spezies von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten.“ Die drei angeführten Klassen von Erscheinungen gehören aber der Systematik und der Ökologie der Organismen an. Auch Lamarck, der große Vorgänger von Darwin, ist bei seinen Er- örterungen über die Entstehung der Organismen in seiner Philo- sophie zoologique hauptsächlich von systematischen Erwägungen geleitet worden. Sein wissenschaftliches Arbeitsfeld ist ebenfalls die Systematik der Pflanzen und wirbellosen Tiere mit Inbegriff der Paläontologie gewesen. Auch seine Theorie handelt von der Abstammung der gegenwärtig lebenden von ausgestorbenen und einfacher gebauten Arten. Da der Speziesbegriff eine so große Rolle bei der Frage nach der Entstehung der Lebewesen seit 100 Jahren gespielt hat, nehme ich ihn zum Ausgangspunkt unserer weiteren Betrachtungen. Der Artbegriff ist gleich den übrigen systematischen Ka- tegorien: Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm, eine reine Abstraktion, die wir uns durch Vergleichung der uns umgebenden Lebewesen gebildet haben. Sie wird von uns in mehr oder minder bewußter Absicht ausgeführt und muß ausgeführt werden, um uns über die Naturobjekte durch ihre nähere Bestimmung oder Spezi- fizierung verständigen und durch Einteilung in kleinere oder größere Gruppen in bequemer und rascher Weise orientieren zu können. Die systematische Bestimmung wird methodisch in der Wissenschaft, unbewußt aber auch seit Urzeiten vom Volksdenken, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, ausgeübt. Daher sind denn auch sehr viele systematische Begriffe so alt, wie überhaupt die Kultur des Menschengeschlechts. Das System aber bildet nicht Der Speziesbegriff. 265 nur in der Biologie, sondern in gleicher Weise auch in vielen anderen Wissenschaften (System der chemischen Elemente, der organischen Verbindungen etc.) eine notwendige Grundlage und ein wichtiges unentbehrliches Hilfsmittel der Forschung. Insofern die Bezeichnungen : Art, Gattung, Familie etc., nur durch vergleichendes Denken gewonnene Abstraktionen sind, haben sie keine reale Existenz; sie sind daher auch nicht selbst Ob- jekte direkter wissenschaftlicher Beobachtung. Solche sind viel- mehr nur die einzelnen lebenden Individuen. Durch ihr Studium, durch ihre Bestimmung (Spezifikation) sind wir zur Aufstellung des Artbegriffes gelangt, von welchem wir durch methodisches Denken dann weiter zu den allgemeinen Begriffen der Gattung, Familie etc. geführt werden. Ich habe diese Erörterung gleich an den Anfang des Kapitels gestellt, weil ich es für wichtig halte, über diesen Punkt wegen mancher aus ihm sich weiter ergebenden Konsequenzen Klarheit zu schaffen. Denn in der Tat ist die Spezies schon häufig als etwas Reales erklärt oder wenigstens unbewußterweise so be- handelt worden. Daher scheint es mir auch nicht überflüssig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die von mir entwickelte Auffassung von Forschern geteilt wird, die auf so verschiedenen Standpunkten, wie Wigand, Louis Agassiz und Haeckel, stehen1). „Wie das Klassifikationssystem“, bemerkt Wigand, „tatsäch- lich in der Wissenschaft zustande gekommen ist, und soweit unsere erfahrungsmäßige Kenntnis reicht, ist es nichts anderes als eine Abstraktion der gemeinsamen Merkmale von einzelnen Gegen- ständen und speziellen Begriffen zu immer allgemeineren Begriffen aufsteigend.“ Er bezeichnet es daher ganz richtig als ein „logisches Produkt“. In seinem Essay of Classification erklärt L. Agassiz: „What really exists, are individuals, not species. We may, at the utmost, consider individuals as representatives of species; but no one individual nor any number of individuals represents its species only, without representing also at the same time, as we have seen above, its genus, its family, its Order, its dass, its branch.“ „No one 1) Lamarck, Jean, Philosophie zoologique, 1809, in deutscher Übersetzung von A. Lang: Zoologische Philosophie , 1876. — Agassiz, L., Essay on classijication. London 1859. — Haeckel, E., Generelle Morphologie, Bd. II, 1866, p. 323. — Wigand, Albert, Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers, 1874 • — Lotsy, J. P., Vorlesungen Über Deszendenztheorien , mit besonderer Berück- sichtigung der botanischen Seiten der Frage. Jena 1906. — Plate, L., Prinzipien der Systematik , mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere. Die Kultur der Gegenwart, Teil III, Abteil. 4i Bd. IV, 1914. — De Vries, Hugo, Die Mutations- theorie, Bd. I, 1901, Bd. II, 1903. 266 Siebentes Kapitel. nor all of them represent fully, at any particular time, their species, inasmuch as each species exists longer in nature than any of its individuals.“ „The species is an ideal entity, as much as the genus, the family, the order, the dass, or the type; it continues to exist, while its representatives die, generation after generation.“ Nicht minder wendet sich auch Haeckel, der sonst in seiner ganzen Auffassung so ausgesprochener Gegner von Agassiz und Wigand ist, gegen das Dogma von der realen Existenz der Spezies, gegen diesen Grundirrtum, der von der großen Mehrheit aller Zoologen und Botaniker noch heute geteilt werde. Nach seinem „Dafürhalten muß jede einigermaßen in die Tiefe des Speziesbegriffes eindringende Untersuchung alsbald zu der klaren Überzeugung führen, daß die Spezies nicht minder ein bloßer Begriff, eine ideale Abstraktion ist, als die höheren übergeordneten Begriffe: Genus, Familie, Ordo etc.“ Aus dieser Sachlage ergibt sich dann aber weiter: Wenn der Speziesbegriff und die anderen übergeordneten Begriffe des Systems nur Abstraktionen sind, so sind sie auch je nach dem Maß der Er- fahrungen und der sich an sie anschließenden Urteilsbildung der Veränderung unterworfen. Dies lehren in unzweideutigster Weise nicht nur der Wechsel, den im Laufe der Zeiten die botanischen und zoologischen Systeme erfahren haben, sondern ebenso auch die endlosen Streitigkeiten, die über den Speziesbegriff bei der Auf- stellung und Abgrenzung mancher Arten von den Systematikern geführt worden sind. So spiegelt sich bis zu einem gewissen Grade in dem zeitweilig herrschenden System das Maß der wissenschaft- lichen Kenntnis ab, welche wir von der Organismenwelt gewonnen haben. Ein absolutes System und ein absoluter Speziesbegriff ist nur denkbar, wenn unsere Erforschung der Lebewesen vollendet und zum Abschluß gekommen ist; denn dann würde ein jedes Einzelindividuum die richtige, ihm entsprechende Stellung zum Ganzen angewiesen erhalten haben. Wie im Kapitel über Variabilität begründet werden wird, sind die unter dem Begriff der Art zusammen gefaßten Einzelwesen bis zu einem gewissen Grade variabele Größen. Dadurch aber, daß diesem Umstand bei der Definition Rechnung getragen und Um- fang und Art der Variabilität gleichsam mit unter die Spezies- merkmale aufgenommen wird, erhält der Artbegriff eine festere Abgrenzung und den Charakter der Konstanz. Mit Recht kann dann der Systematiker die Behauptung auf stellen, däß unter Be- rücksichtigung der Variabilität die Repräsentanten einer Art im Laufe vieler Generationen und während vieler Jahrhunderte, soweit Der Speziesbegriff. 267 historische Dokumente vorliegen, den Charakter der Beständigkeit an sich tragen. An derselben kann der Systematiker mit Recht auch aus der Erwägung festhalten, daß für eine Systembildung und Spezifikation nur der gegenwärtige Zustand der Organismenwelt in Frage kommen kann, da wir nur über sie das erforderliche Maß von Kenntnis besitzen. Auch wird nur für sie ein wirkliches Be- dürfnis nach einer wissenschaftlichen Orientierung empfunden. Wie würde sich überhaupt eine Systembildung durchführen lassen, wenn die Repräsentanten einer Art nicht unter einen einheitlichen Be- griff, aus dem sich die systematische Artkonstanz ergibt, gebracht werden könnten? So wird es denn verständlich, daß die Systematiker von Fach mit so großer Zähigkeit und in gewissem Sinne auch mit Recht an der Konstanz der Arten, wie sie sagen, festhalten. Ver- ständlich wird auch die Behauptung CuviERs: „Die Beständigkeit der Spezies ist eine notwendige Bedingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte.“ Um eine bestimmte Definition, eine wirkliche Spezifikation eines Lebewesens aufzustellen, muß die Möglichkeit zu einer solchen in dem Vorhandensein spezifizierbarer Merkmale gegeben sein. Ferner liegt es auf der Hand, daß die Speziesbestimmung nur insofern von Wert ist, als sie für die Natur- forscher, zumal aber für die Systematiker, auch etwas Bindendes enthält, also gewissermaßen für andere legislatorisch wirkt. Nur unter solchen Umständen erfüllt sie ihren Zweck, zum wissenschaft- lichen Verständnis und zur Orientierung zu dienen, während sie sonst einem Gesetz gleichen würde, das niemand befolgt und daher in Wirklichkeit kein Gesetz mehr ist. Nachdem ich so meinen Standpunkt der Speziesfrage gegen- über im allgemeinen bestimmt habe, gehe ich noch etwas näher auf die Schwierigkeiten ein, die aus leicht verständlichen Gründen eine wissenschaftliche Fassung und Begrenzung des Speziesbegriffes bis in unsere Zeit den Naturforschern bereitet hat. Der große Reformator der wissenschaftlichen Systematik, Finne, der Begründer der binären Nomenklatur, konnte, indem er dem religiösen Vorstellungskreis seiner Zeit folgte, an das Dogma der biblischen Schöpfungsgeschichte bei der Definition der Art an- knüpfen. So fand er keine Schwierigkeit, wenn er erklärte: „Species tot numeramus, quot diversae formae sunt creatae“. Das heißt: die zahllosen Generationen von Individuen, die von einem ersten Schöpfungspaar abstammen, machen in ihrer Gesamtheit „eine Art“ im System aus. Die Definition Linnäs erscheint klar, logisch und 268 Siebentes Kapitel. einfach. Wenn wir unter Voraussetzung der Mosaischen Schöpfungs- hypothese die Abstammung von allen Lebewesen wüßten, würden wir ihre verschiedenen Arten leicht und scharf voneinander ab- grenzen können. Da indessen die einzelnen Lebewesen keine Ur- kunde über ihre Abstammung von einem ersten Schöpfungspaar bei sich tragen, so ist das in LlNNEs Ausspruch enthaltene Kriterium für den zu entscheidenden Spezialfall rein illusorisch und in der Tat auch niemals für den Systematiker, und auch für Linne selbst nicht, ein Einteilungsgrund gewesen. Das Verhältnis hat sich viel- mehr in praxi zu allen Zeiten so gestaltet, daß Lebewesen, die eine Summe übereinstimmender Merkmale untereinander darboten, zu einer Spezies zusammen gefaßt wurden. Es war daher die wichtigste Aufgabe für den Systematiker, nach den besonders in die Augen springenden, spezifischen Merkmalen zu suchen, die sich für eine kurze, den systematischen Zweck erfüllende „ A rtdiagnose“ ver- werten ließen. Was aber sind spezifische Merkmale, die das Wesen einer Art ausmachen? Hier. erheben sich gleich nicht unerhebliche Schwierig- keiten. Denn auf Gleichheit der Organisation und der äußeren Erscheinung läßt sich die Artdiagnose nicht einschränken. Schon durch den weitverbreiteten Dimorphismus der Geschlechter wird der Systematiker zu einer weiteren Fassung der spezifischen Merk- male genötigt. Mit Rücksicht auf die geschlechtliche Zeugung muß er unter dieselbe Art Lebewesen einordn en, die in ihrem äußeren und inneren Bau zuweilen in rein formaler Hinsicht größere Unter- schiede darbieten, als Repräsentanten von zwei scharf getrennten Arten oder Gattungen oder selbst Familien. Ich verweise nur auf die Unterschiede, die zwischen Hirsch und Hirschkuh, zwischen Hahn und Henne, zwischen männlichem und weiblichem Pfau oder auf die noch sehr viel größeren Unterschiede, die zwischen weib- lichen Rotatorien, Gephyreen und Cirripedien und den zu ihnen gehörenden Zwergmännchen bestehen. Hieraus folgt, daß für die Feststellung des Artbegriffes die Ähnlichkeit der Individuen allein nicht ausreicht, daß vielmehr noch ein zweiter Bestimmungs- grund hinzutreten muß. Dieser aber ist die schon von Linne in den Vordergrund gestellte Abstammung, wenn auch nicht vom ersten Schöpfungspaar, so doch von art- gleichen Eltern. Man ging hierbei von dem auf Erfahrung beruhenden Grundsatz aus, daß Eltern nur Kinder ihresgleichen hervorbringen oder, wie es auch heißt, daß Art nur wieder Art erzeugt. Unter dieser Voraus- Der Speziesbegriff. 269 Setzung kann der Artbegriff auch Formen, die einander sehr un- ähnlich sind, unter sich vereinen. Der Systematiker sieht sich durch die Verhältnisse gezwungen, entweder formal verschiedene Individuen als spezifisch zusammengehörig zu erklären oder, was schließlich dasselbe ist, die spezifischen Artmerkmale auf zwei resp. mehrere Individuen zu verteilen, so daß nur zwei oder drei oder mehrere Einzelindividuen in ihrer begrifflichen Vereinigung das Wesen der Art vollständig reprä- sentieren. Die Spezies ist eben, wie sich hier deudich zeigt und schon früher betont wurde, eine Abstraktion, ein Kollektivbegriff ; reelle und wirkliche Objekte der Forschung sind nur die einzelnen Lebewesen. Der Speziesbegriff gründet sich also auf der Feststellung spezifischer Merkmale und auf der Abstammung von gleichartigen Eltern. In dieser Weise wird er denn auch zu verschiedenen Zeiten und von den ver- schiedensten Forschern definiert. Schon vor 100 Jahren erklärte LAMARCK: „Man hat Art jede Gruppe von ähnlichen Individuen genannt, welche von anderen, ihnen ähnlichen Individuen hervor- gebracht werden.“ Ebenso äußert sich auch Wigand (1. c. p. 28) über den Artbegriff: „Wir nennen Spezies jeden Formenkreis, welcher eine gemeinsame, von anderen Spezies verschiedene Ab- stammung hat.“ Ergänzend fügt er zu dieser Definition noch hinzu, daß dieser Formenkreis durch einen bestimmten (in der Regel die gesamten Gestalts- und Organisationsverhältnisse be- herrschenden) Charakter ohne Übergänge zu anderen Formen- kreisen scharf umschrieben ist, — daß sein Charakter unter ver- schiedenen Lebensverhältnissen, sowie im Verlaufe der Gene- rationen, soweit wir überblicken können, gleich bleibt und durch künstliche Einwirkung nicht in den Charakter eines anderen Formen- kreises umgewandelt werden kann ; — daß „seine einzelnen Individuen sich untereinander fruchtbar kreuzen, mit den Individuen einer an- deren Spezies sich aber nicht vollkommen fruchtbar kreuzen lassen“. Noch ausdrücklicher als Wigand u. a. hebt Haeckel in seiner Generellen Morphologie (p. 334) hervor, daß der Speziesbegriff nicht eine einzige Form, sondern eine ganze Entwicklungsreihe verschiedener Formen umfaßt, nämlich den Zeugungs- kreis, die Formenkette, die das Individuum vom Moment seiner Entstehung an bis zu seinem Tode durchläuft. Seine kurz gefaßte Definition lautet (1. c. p. 353): „Die Spezies oder organische Art ist die Gesamtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenz- bedingungen gleiche Formen besitzen.“ 270 Siebentes Kapitel. Wie hat sich, wenn wir so verfahren, der Speziesbegriff im Laufe von ioo Jahren dank der großen Fortschritte der Entwick- lungslehre vertieft und ist dabei zugleich in hohem Maße abstrakter geworden? — Ein kurzer Vergleich wird uns den hier eingetretenen Wandel vergegenwärtigen und auch noch die Grundlage für einige weitere wichtige Feststellungen verschaffen. Zu Linnes Zeit und überhaupt solange das Dogma der Präformation herrschte, war der Repräsentant der Art der in allen seinen Merkmalen ausgebildete Organismus; er sollte ja bereits schon im Ei, wenn auch in un- endlich verkleinertem Maßstab, enthalten sein. Auf ihn war das Interesse des Systematikers allein konzentriert. Er war der aus- schließliche Gegenstand der Sammlungen, der Herbarien in der Botanik, der Museen in der Zoologie. Dagegen stellt jetzt, wie wir auf Grund der Entwicklungslehre wissen, der ausgebildete Or- ganismus nur eine einzelne Phase in der Entwicklung des pflanz- lichen und des tierischen Individuums und daher auch der Spezies dar. Ihm ist eine lange Serie anderer Zustände vorausgegangen, in denen der Repräsentant der Art in ganz anderen Formen als im Endzustand uns eritgegentritt. Dabei wandeln sich die aufeinander- folgenden Formen, die am Anfang einfacher als später beschaffen sind, kontinuierlich die eine in die andere um und erhalten in einer gesetzmäßigen Weise, nach einem im voraus feststehenden Gesetz, eine immer komplizierter werdende Beschaffenheit. Am Anfang der Entwicklung aber wird im Fall geschlecht- licher Differenzierung die Spezies durch die Ei- und die Samen- zelle repräsentiert. Durch die Vereinigung von beiden während der Befruchtung wird der Grund für ein neues Individuum der gleichen Art gelegt. Welcher Kontrast besteht hier zwischen An- fang und Ende des Entwicklungsprozesses, zwischen befruchtetem Ei und dem fertiggebildeten Organismus? Und trotzdem sind Ei- und Samenzelle ebensogut in vollstem Maße die Repräsentanten der betreffenden Art, wie der aus ihnen entstandene fertige Organis- mus. Denn ebenso wie von der Gültigkeit des Fallgesetzes, sind wir auf Grund unzähliger Erfahrungen von der absoluten Gesetz- mäßigkeit der Tatsache überzeugt, daß aus einem befruchteten Ei einer besonderen Pflanzen- und Tierart nur ein Organismus von genau der gleichen Art sich entwickeln kann. Diese ursächlichen Beziehungen zwischen Anfangs- und Endzustand einer Ontogenese habe ich als das ontogenetische Kausalgesetz, das schon im III. Kapitel (S. 69) besprochen worden ist, bezeichnet und habe aus ihm folgenden, für den Artbegriff und für die Klassifikation des Organismenreichs wichtigen Schluß gezogen : Wenn wir eine genaue Der Speziesbegriff. 27 1 Kenntnis von der Organisation der Artzellen, besonders von den unterscheidenden Merkmalen ihres Idioplasma, besitzen würden, so müßten wir schon allein auf Grund derselben, ausgehend vom Sta- dium der befruchteten Eizelle, eine Klassifikation des Tierreiches vornehmen können. Wahrscheinlich würden wir sogar besser als heute auf Grund der ausgebildeten Formen einteilen. Wir würden auf diesem neuen Wege ebensogut weitere und engere Kreise bilden und nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit die Keimzellen in Stämme, Klassen, Ordnungen, Fa- milien, Arten, Unterarten etc. einteilen müssen. Alle Organismen sind also schon am Beginn ihrer Ontogenese, schon im „einfachen Zellenstadium“ durch Stammes-, Klassen-, Ordnungs-, Familien- Arten- und Individualcharaktere ebensogut wie später, nur in an- derer Weise, voneinander unterschieden. Was von den Keimzellen am Anfang der Entwicklung, gilt selbstverständlicherweise genau ebenso von allen nachfolgenden Stadien des ganzen Entwicklungsprozesses; sie sind gleichfalls durch und durch artgemäß oder spezifisch gestaltet, teils in der für uns nicht wahrnehmbaren Organisation der Anlagesubstanz, teils aber auch in sichtbaren Merkmalen, die schließlich jedes Ent- wicklungsstadium, wenn es mit einem entsprechenden artfremden genau verglichen wird, dem schärfer beobachtenden Forscher dar- bietet: der Furchungsprozeß, der Verlauf der Gastrulation, die An- lage jedes einzelnen Organes, die Gestaltung der Eihüllen, der Pla- centa und anderer larvaler Charaktere. Auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes verliert der Streit, der über die größere oder geringere Ähnlichkeit einzelner Embryonalstadien von verschiedenen Wirbeltieren im Hinblick auf ihre Phylogenie geführt worden ist, von vornherein die prinzipielle Bedeutung, welche ihm beigelegt worden ist. Denn mögen gewisse embryonale Stadien des Menschen, eines Affen, eines tiefer stehenden Säugetieres oder gar eines Reptils sich äußerlich noch so ähnlich sehen, daß der ungeübte Beobachter sie miteinander verwechseln könnte, so sind sie in ihren Artmerkmalen, mögen dieselben für uns nachweisbar oder als Anlagen, die erst später manifest werden sollen, unserem Auge noch verborgen sein, doch schon ebensosehr voneinander verschieden, wie im entwickelten Zustand. Die systema- tische Verwandtschaft ist hier wie dort genau dieselbe. Der menschliche Embryo steht dem Affenembryo nicht näher als der ausgewachsene Mensch irgendeiner ausgebildeten Affenspezies. Wie für den Laien, ist es nicht minder für den Biologen zur- 272 Siebentes Kapitel. zeit unmöglich, sich eine genauere Vorstellung darüber zu bilden, wie der Ursachenkomplex für die in der Entwicklung entstehende, komplizierte Formenreihe, wenn wir von den hinzutretenden, not- wendigen äußeren Bedingungen absehen, in einer Zelle enthalten sein kann. Die Denkschwierigkeit wird noch erhöht, wenn man berücksichtigt, daß in den gewöhnlichen Fällen des sexuellen Dimorphismus das befruchtete Ei eine doppelte Anlage entweder für die weibliche oder die männliche Entwicklungsreihe darstellt, und daß irgendeine meist schon früh auftretende Ursache den Anstoß gibt, ob aus demselben Anfangsstadium die männliche oder die weibliche Form mit ihren oft weit voneinander abweichenden, inne- ren und äußeren Geschlechtscharakteren hervorgeht. Und auch damit ist die Komplikation des so schwierig vor- stellbaren Verhältnisses noch nicht erschöpft. Wie bekannt, zeich- nen sich manche Tierarten, wie Bienen, Ameisen, Termiten durch einen Polymorphismus der Individuen aus. Das heißt: Außer den beiden geschlechtlich differenzierten Individuen kann noch eine dritte, vierte und fünfte abweichend gebaute Form Vorkommen, so daß die von einer gemeinsamen Mutter abstammenden Eier mit einer Anlage, die sich in drei-, vier- oder fünffach verschiedener Weise verwirklichen kann, von vornherein ausgestattet sind. Aus den Eiern einer Bienenkönigin können wieder Königinnen oder Drohnen oder Arbeiterinnen mit ihren besonderen Merkmalen her- vorgehen. In manchen Ameisenstaaten sind Arbeiterinnen, die wahrscheinlich verschiedene Funktionen zu erfüllen haben, in drei verschiedenen Formen und von sehr verschiedener Größe auf- gefunden worden (Fig. 110). Und bei den Termiten kommen außer den Geschlechtstieren zwei geschlechtslose, häufig auch blinde Formen mit verkümmerten Genitalorganen vor, teils Arbeiterinnen, teils Soldaten, von denen sich die letzteren durch die ganz beson- dere Größe ihres Kopfes und durch kräftig entwickelte Mandibeln vor den übrigen auszeichnen. Endlich nimmt der Zeugungskreis bei vielen Pflanzen und Tieren noch eine verwickeltere Beschaffenheit an, wenn er mit einem Generationswechsel verbunden ist. Vom befruchteten Ei führt die Reihe der Stadien anstatt direkt zu einer wieder geschlechtsreif werdenden Endform erst zu einer geschlechtslosen Zwischenform, die sich nur ungeschlechtlich durch Sporenbildung oder Knospung in zahlreiche neue Individuen vermehrt. Erst diese zweite oder zu- weilen auch erst die dritte auf vegetativem Wege entstandene Gene- ration produziert wieder Geschlechtsorgane. Sie ist gewöhnlich Der Speziesbegriff. 273 von der aus dem Ei entstandenen ersten Generation so verschieden gestaltet, daß die Systematiker vor der Entdeckung des Generations- wechsels durch Steenstrup die beiden zum Zeugungskreis einer Art gehörenden Formen als zwei Arten beschrieben und sogar unter verschiedene Familien des Systems eingeordnet haben. So wurden früher der aus dem Bandwurmei entwickelte Cysticercus cellulosae und die durch Knospung aus ihm entstehende Taenia solium vor Kenntnis ihres entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhanges als zwei verschiedene Para- siten, als Blasen- und als Band- wurm (Cysticercus und Taenia) mit besonderen Speziesnamen im System aufgeführt. Ent- wicklungsgeschichtlich zusam- mengehörige Formen aus der Ordnung der Hydromedusen (Fig. 37 h u. m) wurden als gesonderte Arten auseinander- gerissen und auf die Familien der Potypen und Medusen ver- teilt, bis man ihre Zusammen- gehörigkeit als Glieder eines Generationswechsels erkannte. So mußten denn in der Ord- nung der Hydromedusen die irrtümlicherweise als ver- schiedene Spezies getrennten Glieder eines Generations- wechsels wieder als zwei ver- schieden geformte Repräsen- tanten einer Art zusammen- gezogen werden. Zum Hydro- idenstöckchen Bougainvillea ramosa (Fig. 37) wurde die Medusen- form Margelis ramosa (m) und ebenso zu Campanularia Johnstoni das Phialidium variabile, zu Syncoryne die Tiara pileata, zu Euden- drium ramosum die Lizzia Köllikeri als geschlechtsreif werdende Form hinzugesellt usw. Wie aus diesen Beispielen hervor geht, gehört zum vollen Ver- ständnis des Artcharakters und zur erschöpfenden Begründung des Speziesbegriffes die Kenntnis des ganzen, in sich geschlossenen Zeugungskreises vom Ei bis wieder zum Ei der zu einer Art zu- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. l8 Fig. 37. Bougainvillea ramosa nach Allman, mit knospenden Medusen, h Nähr- polypen, mk Medusenknospen, m losgelöste junge Meduse (Margelis ramosa). hr Hydro- rhiza, hc Hydrocaulus. 274 Siebentes Kapitel. sammengehörigen Individuen. Ein botanisches und ein zoologisches Museum, welches den höchsten Ansprüchen der wissenschaftlichen Systematik genügen soll, müßte daher, streng genommen, nicht nur eine Sammlung ausgebildeter Artrepräsentanten sein, wie es zur- zeit der Hauptsache nach der Fall ist, sondern müßte von jeder Art auch noch eine Zusammenstellung ihrer wichtigsten, aufein- anderfolgenden Entwicklungsstadien geben. Es versteht sich ferner von selbst, daß zur wissenschaftlichen Kenntnis der Spezies auch eine vollständige Analyse des anatomischen Baues bis in die mikro- skopischen Details hinein sowohl von den ausgebildeten, wie von den sich entwickelnden Formen gehört. Denn Speziesmerkmale sind ebensogut den inneren wie den an die Oberfläche hervortretenden Organen zu entnehmen, wenn man auch die letzteren aus leicht verständlichen Zweckmäßigkeitsgründen, wie jetzt, so auch in Zu- kunft stets mehr berücksichtigen und bevorzugen wird. So er- weitert sich der Speziesbegriff des Systematikers vergangener Zeiten zum wissenschaftlichen Spezies- begriff der Gegenwart. Er hängt also mit der ganzen biologischen Wissenschaft auf das engste zusammen und wird daher, solange diese in einer fortschritt- lichen Richtung begriffen ist, sich gleichfalls ver- tiefen und den veränderten Verhältnissen angepaßt werden müssen. Somit ergibt sich schon aus der Natur der Dinge, daß der zu einer bestimmten Diagnose verdichtete Spezies- begriff kein absoluter ist, sondern Veränderungen erfahren muß entsprechend unserer fortschreitenden Einsicht in die wahre Natur der Lebewesen. Von dem allgemeinsten wissenschaftlichen Standpunkt aus muß man daher dem Botaniker WlGAND vollkommen beipflichten, wenn er in Beantwortung der gegen den Artbegriff erhobenen Einwürfe bemerkt: „Überhaupt erklärt sich der Mangel einer erschöpfenden und allgemein anerkannten Definition, abgesehen von der Einseitig- keit aller jener Versuche, schon daraus, daß dieselben, eben weil es nur Versuche sind, notwendig vorerst unvollkommen sein müssen. Man bedenke doch, daß die Aufstellung der endgültigen Definition eines Begriffes überhaupt das letzte Ergebnis der Erforschung des- selben ist und daher, wie die letztere, niemals fertig wird.'4 Die Schwierigkeit bei der Aufstellung des Speziesbegriffes be- ruht hauptsächlich darin, daß die meisten Organismen so ungemein zusammengesetzte und veränderliche Naturprodukte sind, veränder- lich einmal, weil sie einem Entwicklungsprozeß unterworfen sind, Der Speziesbegriff. 275 veränderlich aber auch, weil sie auf alle Einwirkungen der Außen- welt in der verschiedensten Weise reagieren und sich an sie anzu- passen imstande sind. Auf der einen Seite fassen wir die allerver- schiedensten Lebensformen, die einander sehr unähnlich sind, — Raupe, Puppe, Schmetterling, oder Nauplius, Zoea, Krebs, oder Hydroidpolyp, Meduse etc. — unter dem Begriff „der gleichen Art“ zusammen in allen Fällen, in denen ihre Zusammen- gehörigkeit durch ihre Entwicklung aus einem Ei nachgewiesen ist; wir fassen als eine Art ferner sehr abweichende Formen unter der Bezeichnung „Standorts- oder Lokalvarietäten“ zusammen, wenn wir auf experimentellem Wege die Umwandlung der einen in die andere durch Kultur unter veränderten Bedingungen jederzeit will- kürlich hervorrufen können. Beispiele genug in dieser Richtung liefern uns die Alpenpflanzen, die aus Samen in der Ebene ge- züchtet, ein ganz anderes Aussehen gewinnen, oder umgekehrt Pflanzen, die aus günstigen Bedingungen der Ebene in alpine Ver- hältnisse versetzt werden (siehe Kap. VIII). Nach dieser Richtung hin ist der Naturforscher jetzt gewöhnt, das scheinbar Hetero- genste zusammenzufassen, weil für ihn die Entstehung aus ein und derselben Keimzelle ein absolut gültiger Grund der Zusammen- gehörigkeit ist, der jeden Zweifel aufhebt. Auf der anderen Seite fehlt uns aber ein entsprechender Maßstab, wenn es gilt, die Artverschiedenheit zweier Lebewesen und vor allen Dingen den Grad derselben in einer streng wissenschaftlichen Weise festzustellen. Wie groß muß die Differenz der Merkmale und was für Merkmale müssen es sein, um bei der Wahl der Bezeichnungen Varietät, Rasse, Unterart, Art, Gattung etc. den Ausschlag zu geben? In früheren Zeiten glaubten viele Forscher einen Maßstab in dem Verhalten der Lebewesen zueinander bei der Zeugung gefunden zu haben. Schon Buffon äußerte seine Ansicht dahin, daß Lebewesen, die bei der Kreuzung miteinander entweder keine oder unfrucht- bare Nachkommen hervorbringen, zu verschiedenen Arten ge- hören; als Varietäten und Rassen dagegen bezeichnete er In- dividuen, die sich zwar in ihrer Form unterscheiden, aber, mit- einander gekreuzt, vollkommen fruchtbare Nachkommen erzeugen. Naturforscher wie Cuvier, nicht minder die Systematiker von Fach haben an dieser Auffassung lange Zeit fest gehalten. So behauptete Knight, wie ich aus Lotsys Vorlesungen über die Deszendenztheorie entnehme, es seien Artbastarde immer steril und fruchtbare Bastarde eo ipso Varietätsbastarde, und folgerte 18* 276 Siebentes Kapitel. also : daß, „falls zwei angebliche Arten zusammen einen fruchtbaren Bastard liefern, dies zum Nachweis genügt, daß es sich nicht um Arten, sondern um Varietäten handelt“. Wäre das Kriterium zutreffend, so wäre es ein außerordent- lich zweckmäßiges, und man hätte die großen Schwierigkeiten, die sich seiner Verwertung bei der Bestimmung eines konkreten Falles in den Weg stellen, wohl schon in Kauf nehmen können. Aber leider ist das Kriterium nicht durchgreifend und darum für die Bestimmung der Abgrenzung der Arten nicht in allen Fällen verwertbar. Denn ob ein reifes Ei durch reifen Samen sich befruchten läßt oder nicht, hängt von einer Anzahl physiologischer Verhältnisse ab, die uns ihrem innersten Wesen nach noch unbe- kannt sind. So sind im Tier- und Pflanzenreich häufig auch Fälle beobachtet worden, in denen Eier durch Samen derselben Art nicht befruchtet oder, wenn befruchtet, nicht zu normaler Entwicklung gebracht werden können. Solche Fälle treten dann ein, wenn die beiderlei Keimzellen beim Hermaphroditen in ein und demselben Individuum, und besonders wenn sie sogar in ein und derselben Zwitterdrüse entstanden sind. Bei manchen Pflanzen kann das im Fruchtknoten ein geschlossene Ei nicht durch den Pollen der zur selben Blüte gehörigen Staubfäden, oder bei hermaphroditen Tieren durch die Samenfäden der Zwitterdrüse (Ascidien) befruchtet werden. Inzucht oder zu nahe Verwandtschaft der Geschlechtsprodukte führt hier somit zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Bastardbefruchtung. Bei Bastardierungsversuchen verschiedener Arten untereinander finden sich alle möglichen Übergänge zwischen den beiden Extre- men, 1) der vollkommen erfolgreichen Vermischung, die zur Ent- stehung von Bastarden mit normaler Zeugungsfähigkeit führt, und 2) der absoluten Unmöglichkeit des artfremden Samens, überhaupt nur in das Ei einzudringen, auch selbst in den Fällen, wo es wie bei Echiniden etc. membranlos ist und somit ein mechanisches Hindernis wohl ausgeschlossen werden kann. Zwischen beiden Ex- tremen finden sich viele Übergangsstufen. Man beobachtet regel- rechte Befruchtung des Eies und Beginn der Teilung, die entweder sehr frühzeitig auf hört oder erst auf einem etwas späteren Stadium, häufig mit Eintritt der Gastrulation, zum Absterben der Embryonen oder der Larven führt. In noch günstigeren Fällen ist die Ent- wicklung anscheinend normal; denn sie liefert lebensfähige und auch kräftige Individuen. Diese aber sind entweder nur wenig fruchtbar oder überhaupt vollkommen unfruchtbar. Als einzige schädigende Folge der Kreuzung ist eine mehr oder minder große Der Speziesbegriff. 277 Verkümmerung der Keimdrüsen eingetreten. Oo- und Spermio- genese kommen zu keinem normalen Abschluß. Entweder ver- kümmern schon die Oo- und Spermatocyten oder erst die folgen- den Endstadien (Poll). Neben normalen Samenfäden entstehen zahlreiche mißbildete. Bei Pflanzen (Lotsy) haben sogar frucht- bare Hybriden viel weniger Pollen in den Antheren als die reinen Arten, und in diesen wenigen Pollen ist dann noch ein großer Teil der Körner mißraten, • geschrumpft oder mißfarbig. Nur Bastard- pollen von normaler Form ist befruchtungsfähig. Welche von den vielen Möglichkeiten bei der Kreuzung der Keimzellen verschiedener Arten im besonderen Falle eintreten wird, ist mit Sicherheit nur durch das Experiment zu bestimmen. Theo- retisch läßt sich im allgemeinen nur Vorhersagen, daß die Aus- sichten auf ein Gelingen der Befruchtung in demselben Verhältnis abnehmen, als zwei Lebensformen im System weiter auseinander- stehen. Während Vertreter von Varietäten und Rassen einer Art sich gewöhnlich mit vollem Erfolg kreuzen lassen, wird das Er- gebnis schon zwischen verschiedenen, einander sehr ähnlichen Arten unsicher. Auf der anderen Seite ist aber der Eintritt der Befruch- tung bei Kreuzung der Keimzellen von Arten beobachtet worden, die zu verschiedenen Gattungen und sogar zu verschiedenen Fa- milien gehören. Dem Versuch, den Ausfall der Kreuzungen aus der Stellung zu erklären, welche die beiden sexuell verbundenen Arten im System einnehmen, ist eine neue Schwierigkeit aus Experimenten erwachsen, die von Loeb, Godlewski, Kupelwieser u. a. angestellt worden sind. Nach einer Entdeckung von Loeb können Keimzellen sehr weit auseinanderstehender Arten durch chemische Eingriffe zur Amphimixis gebracht werden. Mit Salzgemischen und anderen Chemikalien vorbehandelte Seeigeleier werden z. B. durch Samen- fäden von Asteracanthion befruchtet, was ohne vorausgegangene chemische Behandlung nie gelingt. Sie lassen sich dann teilweise sogar bis zum Pluteusstadium züchten. Ein entsprechendes erfolg- reiches Experiment stellte Godlewski jun. an, indem er Seeigel- eier mit dem Samen einer Crinoide, der Antedon rosacea, befruch- tete. Seesterne, Seeigel und Crinoiden weichen aber in ihrem Bau so sehr voneinander ab, daß sie zu drei verschiedenen Klassen der Stachelhäuter im System gerechnet werden. Ob indessen in diesen Fällen eine wirklich erfolgreiche Bastar- dierung, d. h. eine biologische und lebensfähige Verbindung vom Chromatin der Seeigeleier mit dem Chromatin des Samenfadens 278 Siebentes Kapitel. eines Seesterns, resp. einer Crinoide, in der Tat eingetreten ist, scheint mir stark angezweifelt werden zu müssen. Denn nach sorg- fältig durchgeführten mikroskopischen Untersuchungen von Kupel- wieser, Baltzer u. a. ist es sehr wahrscheinlich, daß das Chroma- tin des eingedrungenen Samenfadens in dem hochgradig artfremden Ei früher oder später geschädigt wird, erkrankt und abstirbt. Es kann dann gleich bei Beginn der Befruchtung (Echinus X Mytilus) oder im Laufe des karyokinetischen Prozesses bei verschiedenen Zellteilungen (Baltzer) wieder als artfremder Bestandteil eliminiert werden. Dadurch gewinnt die Entwicklung des Eies, wenn sie überhaupt ihren weiteren Fortgang nimmt , den Charakter der Parthenogenese. Gewöhnlich aber sterben die Eier teils infolge der experimentellen chemischen Schädigung, teils durch die Amphi- mixis mit dem artfremden Chromatin ab. Es ist noch in keinem Fall mit Sicherheit beobachtet worden, daß sich derartige Bastard- larven bis zur Geschlechtsreife haben züchten lassen. Jedenfalls lehren aber auch diese Experimente, daß die Bastardierungslehre noch zahllose Aufgaben für wichtige Untersuchungen liefert und namentlich auf tierischem Gebiete noch einer weiteren gründlichen Durchforschung bedarf. Bei näheren Graden der Verwandtschaft sind fruchtbare Bastarde sowohl bei Pflanzen wie bei Tieren beobachtet worden, in größerer Zahl namentlich bei Pflanzen, weil bei ihnen alle Bastardierungs- experimente sehr viel leichter anzustellen sind. Indem ich einer Zusammenstellung von Lotsy folge, sind Artbastarde, deren Frucht- barkeit nicht leidet, folgende : Brassica napus X oleracea ; Dianthus chinensis X plumarius, Pelargonium pinnatum X hirsutum, Nicotiana alata X Langsdorfii, Abutilon-, Medicago-, einige Cereus- und Begonia- hybriden, einige Bastarde von Erica-, Calceolaria-, Veronica- und Orchideenarten. Anstatt Sterilität in späteren Generationen ist bei einigen von ihnen sogar Zunahme der Fruchtbarkeit nachzuweisen. Auch unter natürlichen Verhältnissen vorkommende wilde Bastarde hat man in größerer Zahl kennen gelernt. Im Tierreich sind frucht- bare Artbastarde seltener. Wie sich aus dem Mitgeteilten jedenfalls ergibt, läßt sich auch aus dem Verhalten bei der Bastardierung keine scharfe Abgrenzung des Artbegriffes gewinnen. Auf die Frage, ob Bastarde fruchtbare Nachkommen hervorbringen oder nicht, legen daher die Systema- tiker, wie es übrigens auch schon Linne seinerzeit tat, nicht mehr großes Gewicht. Nach der Auffassung, die in der Botanik seit den grundlegenden Arbeiten von Kölreuter und Gärtner als die Der Speziesbegriff. 2 79 vorherrschende von DE Vries bezeichnet wird (1. c. Bd. II, p. 646), sind Formen, welche sich gegenseitig leicht befruchten, dabei einen normalen Samenertrag geben und fruchtbare Bastarde bilden, als Varietäten einer und derselben Art zu betrachten. Dagegen werden Formen, die sich nur mit herabgesetzter Fruchtbarkeit sexuell ver- binden lassen und deren Bastarde selbst von geringerer Fertilität als die Eltern sind, von den meisten Forschern als getrennte Arten im System aufgeführt. Dem vermuteten Parallelismus zwischen systematischer und sexueller Verwandtschaft hat man einen Ausdruck in den beiden Sätzen zu geben versucht: „ 1) Pflanzen, welche miteinander frucht- bar gekreuzt werden können, gehören stets zu derselben Gattung. 2) Pflanzen, deren Fruchtbarkeit bei der Kreuzung nicht vermindert wird, gehören zu derselben systematischen Art oder Großart“ (de Vries, 1. c. p. 654). In Wirklichkeit aber haben sich die Ergeb- nisse der klassifizierenden Wissenschaft und die Fragen nach der im Einzelfall wirklich vorhandenen sexuellen Verwandtschaft, wie sie nur durch Experimente zu lösen sind, nicht immer in Einklang bringen lassen. Bei dieser Sachlage ist es begreiflich, daß sich gewöhnlich der Systematiker in seiner Arbeit nicht von dem Ausfall von Kreuzungs- und Zuchtversuchen abhängig machen kann, wenn auch dieselben geeignet sind, unseren Einblick in die elementare Zusammensetzung und in die wahre Natur der Lebewesen noch mehr zu vertiefen, als es ohne Anwendung dieses Verfahrens möglich ist. Denn Kreuzungs- und Zuchtversuche sind meistens sehr mühsam, zeit- raubend und namentlich bei Tieren nicht immer durchführbar. Im Verhältnis zur riesengroßen Zahl pflanzlicher und tierischer Arten sind daher auch die bis jetzt wirklich versuchten Kreuzungs- und Zuchtversuche nur verschwindend kleine, namentlich auf tierischem Gebiet; und noch mehr gilt dies von solchen Experimenten, von denen man sagen kann, daß sie erschöpfend und belehrend ange- stellt sind und wissenschaftlich auf klärend gewirkt haben. Der Systematiker richtet sich daher ganz naturgemäß bei seiner Art- definition nach Merkmalen, die ihn von den Ergebnissen der Kreuz- und Zuchtversuche unabhängig machen und der Morphologie der Organismen unter Berücksichtigung ihrer Entwicklungsgeschichte entnommen sind. Er vereinigt als Art daher Summen von Indi- viduen, die nach ihrer Morphologie und Entwicklung mehr oder minder vollständig übereinstimmen und, wo sie in einzelnen Merk- malen Unterschiede untereinander darbieten, diese doch durch Über- 28o Siebentes Kapitel. gänge verbunden zeigen. Die Grenzen der Art liegen dann da, wo sich eine Gruppe von Individuen durch deutlich ausgeprägte Merk- male auszeichnet, die von den Merkmalen anderer Gruppen scharf getrennt sind. Trennung der Linneschen Arten in kleinere Gruppen zusammengehöriger Formen. Daß bei dem eben bezeichneten Verfahren das systematisierende Urteil von subjektivem Ermessen und Ab wägen zum Teil mitbe- stimmt wird, liegt nahe. Denn wie jeder Systematiker weiß, wird er namentlich bei komplizierter gebauten Pflanzen und Tieren mit einem um so größeren Reichtum zu beachtender Merkmale bekannt, je genauer er die Morphologie und Entwicklung einer systema- tischen Ordnung und Familie und je zahlreichere, den verschie- densten Fundorten entnommene Individuen er studiert und durch- arbeitet. Sein Auge schärft sich dann für viele Merkmale, die er sonst nicht beachtet oder wenigstens nicht in ihrer systematischen Wertigkeit als „unterscheidende Merkmale4’ richtig eingeschätzt haben würde. Die Folge dieser geschärften Beobachtungsgabe, der tiefer eindringenden Erkenntnis und der gleichzeitig geübten kritischen Urteilskraft ist, daß er sich oft gezwungen sieht, in eine Mehrheit von Arten Individuen zu sondern, die frühere Systematiker wegen oberflächlicherer Sachkenntnis als eine systematische Einheit be- urteilt hatten. Ein derartiger Prozeß hat sich in der Tat im Laufe der letzten Jahrhunderte abgespielt. Die Geschichte der Systematik und die interessanten Erörterungen, die DE Vries über den Artbegriff in seiner Mutationstheorie angestellt hat, lehren dies. Vor LlNNES Auftreten nahmen die Gattungen in der noch wenig ausgebildeten Systematik die Stellung ein, welche später die Arten erhielten. Im Volksbewußtsein und von den Sammlern wurden anfangs Pflanzen und Tiere nur durch besondere Gattungsnamen unterschieden. In der Zeit, deren Hauptrepräsentant Buffon ist, genügte diese ein- fache Namengebung für das noch wenig entwickelte Bedürfnis nach einer genaueren Orientierung in der umgebenden Organismen weit. Erst durch das systematische Genie von Linne, der zugleich durch seine umfassende Kenntnis der Pflanzen und Tiere seine Zeitgenossen weit übertraf, wurde die Spezies als die wichtigste Formeneinheit in den Mittelpunkt des Systems gestellt. Es ge- schah dies teils durch die Einführung der binären Nomenklatur, durch die jede systematische Art innerhalb der Gattung erst ihren Die elementaren Arten. 281 genau bestimmten und zur raschen Verständigung geeigneten Namen erhielt, teils durch den als Dogma verkündeten Grundsatz, durch den die „Art“ in gewissem Sinne eine besondere Weihe er- hielt: „Species tot numeramus, quot diversae formae in principio sunt creatae.“ Linnes systematische Gesetzgebung konnte sich zwar mehr als ein Jahrhundert in voller Geltung behaupten, obwohl die genaue wissenschaftliche Feststellung der Art schon für ihn selbst, sowie für seine Zeitgenossen und Nachfolger öfters auf Schwierigkeiten stieß. Diese wurden aber von Linne teils durch den Begriff der Varietät oder Spielart, worunter Abweichungen geringeren Grades von den typischen Merkmalen der Art verstanden wurden, teils aber auch durch den Rat beseitigt: „Varietates levissimas non curat botanicus.“ Wenn vielfach auch der LiNNEsche Rat über die Varietates levissimae bis zu Darwins Zeit beachtet und befolgt worden ist, so konnten doch durch ihn die Systematiker nicht auf die Dauer abgehalten werden, bei Bestimmung der Arten auch auf feinere Unterscheidungen zu achten, teils zur Verbesserung des Systems, teils im Interesse allgemeinerer Aufgaben, wie z. B. der Frage nach der Entstehung der Arten. Besonders auf botanischem Gebiet hat sich infolge der Arbeiten von Decandolle, Jordan, De Bary, DE Vries, JOHANNSEN u. a. die Überzeugung ausgebildet, daß es im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts liegt, bei vielen LlNNEschen Arten noch eine weitere Zerlegung in drei enger be- grenzte Gruppen vorzunehmen, die sich durch den Besitz erblich fixierter Merkmale voneinander unterscheiden lassen. Diese drei neuen systematischen Kategorien, zu deren Besprechung ich jetzt noch übergehe, sind: 1) die elementaren Arten, 2) die Unter- und MENDELschen Arten, und 3) die reinen Linien. 1. Die elementaren Arten. Wie die Familie eine Vereinigung von Gattungen, die Gattung eine Vereinigung von Arten, so ist die LiNNEsche Art selbst noch eine Vereinigung bald von wenigen, bald von zahlreichen „elemen- taren Arten“. Daher kann sie zum Unterschied von diesen auch als K oll ektiv- oder Groß-art bezeichnet werden. Vorbedingung zur Aufstellung einer elementaren Art ist, daß die ihr zugehörigen Individuen durch eine Mehrzahl von Merkmalen, wenn auch ge- ringeren Grades, sich von anderen Vertretern der Großart gut trennen lassen, und daß sie sich bei der Kultur als formbeständig 28 2 Siebentes Kapitel. erweisen. Jeder Zweifel an der Berechtigung und Notwendigkeit ihrer Aufstellung aber muß schwinden, wenn ihre Vertreter sich mit denen einer ähnlichen elementaren Art entweder nicht kreuzen lassen oder bei der Kreuzung unfruchtbare Bastarde liefern. Daß nach diesen Regeln die ursprünglichen LlNNEschen Arten zuweilen noch eine sehr weitgehende Zerlegung notwendig machen, ist auf botanischem Gebiet sehr häufig durch genaue systematische Bearbeitung einzelner Gattungen bewiesen worden. Einige Beispiele mögen zur Erläuterung der wichtigen Tatsache dienen: Die Primula veris L. wird jetzt allgemein in die 3 elementaren Arten: Primula vulgaris, Pr. elatior und Pr. officinalis aufgelöst. Lychnis dioica L. zerfällt in Melandrium album und rubrum, oder Platanthera bifolia in P. bifolia und P. chlorantha etc. Besonders groß aber ist die Zahl der elementaren Arten, welche in Linnes Kollektivarten Viola tricolor oder gar Draba verna zusammenge- faßt sind. Von Draba verna werden nach den grundlegenden Untersuchungen von JORDAN, die von anderen Botanikern, wie von DE Bary , nachgeprüft und vollkommen bestätigt worden sind, nicht weniger als 200 Formen unterschieden, die sich auf einzelne Gegenden Europas verteilen. Wenn auch in ihrem allgemeinen Aussehen eine große Ähnlichkeit besteht, so weichen sie vonein- ander doch meist in vielen Merkmalen ab. In Kultur genommen, erhalten sie sich in ihren Eigenschaften unverändert und zeigen keine Übergänge zueinander. Im Hinblick auf ihre Samenbeständig- keit hat sich auch De Bary von der völligen systematischen Trennung der zahlreichen Arten von Draba verna für überzeugt erklärt. Wie DE Vries (1. c. Bd. I, p. 122) in seiner Mutationstheorie schätzungsweise annimmt, würde nach den von ihm und von Jordan vertretenen systematischen Prinzipien die Anzahl der Unterarten im Verhältnis zu der sie umfassenden Oberart sich durchschnittlich für Deutschland oder Frankreich auf nicht viel mehr als auf 2 — 3, für Europa im Mittel vielleicht auf etwa 10 stellen. „Bei Berücksichtigung und Beschreibung aller dieser Formen würde eine Flora von Europa also den zehnfachen Umfang, den sie jetzt hat, er- reichen.“ de Vries macht daher den, wie mir scheint, praktischen und empfehlenswerten Vorschlag, die binäre Nomenklatur Linnes durch eine ternäre zu ersetzen in allen Fällen, in denen es sich um Kollektivarten handelt. Der erste Name würde dann die Gattung, der zweite die Kollektivart und der dritte die eigentlich elementare Art bezeichnen. Die Kenntnis der letzteren aber ist besonders Die elementaren Arten. 283 wichtig für alle Forscher, welche sich mit der Variabilität, mit der Kultur der Organismen und mit der Entstehung neuer Artmerk- male oder neuer elementarer Keimes- Anlagen (Gene) beschäftigen. Es ist daher von vornherein anzuerkennen, daß es sich bei der Auflösung der LlNNEschen Art in elementare Arten nicht um eine müßige und nebensächliche systematische Kleinarbeit handelt. Denn es liegt hier eine durch die Entwicklung der Wissenschaft bedingte und darum berechtigte, notwendige Arbeit vor, die mit den wich- tigsten allgemeinen Fragen der Biologie zusammenhängt. Den von Plate in seiner Vererbungslehre eingenommenen Standpunkt kann ich nicht teilen, wenn er ohne eigentliche wissenschaftliche Be- gründung die Ansicht von DE Vries und seinen Anhängern als eine „grundverkehrte“ bezeichnet (L. Plate, Vererbungslehre, Leipzig 1913, p. 448). Als ein wissenschaftliches Argument oder als ein nur irgendwie zutreffender Beweisgrund kann jedenfalls nicht der sich anschließende Ausspruch von Plate gelten, daß „schon aus rein praktischen Gründen die Systematik die große Zahl der in der Natur vorkommenden und die noch größere der künstlich durch Bastardierungen zu gewinnenden Kombinationsformen nicht als ihre Basis ansehen kann. Wohin sollte es führen, wenn man nach und nach jede gewöhnliche Art in einige Hundert Elementararten auf- lösen würde!“ Über derartige Argumente entscheidet die Entwicklung der Wissenschaft mit ihren neu sich ausbildenden Bedürfnissen und Denknotwendigkeiten. Wenn die fortschreitende Erkenntnis der Lebewesen es notwendig macht, eine noch schärfere Scheidung der- selben in zusammengehörige Gruppen als seither vorzunehmen, so wird sie keinen Stein des Anstoßes darin sehen, daß dabei die Zahl der zu Linnes Zeiten bekannten Arten sich verzehnfacht oder gar verhundertfacht; sie wird auch für diese Fälle Mittel und Wege finden, sich im System der Formen zurechtzufinden und es für ihre verschiedenen Zwecke nutzbar zu machen. So würde ein sehr einfacher und naheliegender Weg z. B. schon darin bestehen, je nach den Zwecken, denen ein systematisches Werk dienen soll, nur eine Übersicht der Großarten und auch hier eventuell noch mit Auswahl zu geben. Wenn es Aufgabe ist, nach vernünftigen Prin- zipien auf Grund unterscheidender Merkmale die Lebewesen in Gruppen zusammenzufassen und zu einem naturgemäßen System zu vereinen, so kann der Systematiker sich von vornherein keine feste Grenze setzen, bis wie weit er die Lebewesen nach ihren Merk- malen voneinander unterscheiden soll. Die Unterscheidungsmöglich- 284 Siebentes Kapitel. keit wird wesentlich mitbestimmt von dem Grad der Kenntnisse, die wir von der Morphologie, der Entwicklung, der Physiologie und Ökologie der Lebewesen besitzen, und von der Ausbildung und dem Reichtum der Untersuchungsmethoden, welche in den Dienst der systematischen Arbeit gestellt werden. Wie es bis jetzt ein in sich abgeschlossenes System der Pflanzen und Tiere zu keiner Zeit gegeben hat, so wird es auch in Zukunft nie vollendet werden, so- lange sich die Biologie in fortschreitender Entwicklung bewegt. 2. Die Varietäten oder MENDELschen Arten. Auch mit der Aufstellung elementarer Arten ist die Notwendig- keit für weitere systematische Unterscheidungen noch nicht erschöpft. Wie schon Linne und seine Schule sich genötigt sah, den Begriff der Varietät in die Systematik einzuführen, so hat man auch heute noch für zweckmäßig gefunden, an ihm festzuhalten. Allerdings ist in der Systematik der Begriff der Varietät ebenso wie der Speziesbegriff nicht scharf zu definieren und abzugrenzen ; er hat daher ebenfalls zu Meinungsverschiedenheiten und zu verschiedener Verwendung Anlaß gegeben. Im allgemeinen bezeichnen die Syste- matiker als Varietäten solche Formen, die sich von verwandten Spezies nur in einem oder in zwei, jedenfalls nur in wenigen untergeordneten, d. h. der Variation mehr ausgesetzten Merkmalen unterscheiden ; bei den Pflanzen z. B. in der Farbe und Zeichnung der Blüten und Früchte, in dem Mangel oder Vorhandensein von Haaren an den Blättern und dergleichen Merkmalen mehr. Verschiedene derartige Varietäten einer Art lassen sich gegenseitig untereinander und mit der ihnen zugehörigen Spezies leicht befruchten und liefern Bastarde, die ebenso frucht- bar wie die Eltern bei normaler Verbindung sind. Hierin ist ein Hauptunterschied gegenüber den kollektiven und den elementaren Arten gegeben, bei denen eine Kreuzung entweder überhaupt nicht gelingt oder zu Bastarden führt, die vollständig unfruchtbar oder wenigstens in ihrem Zeugungsvermögen im Vergleich zu den Stammarten stark geschwächt sind. Dagegen folgen die aus Ver- bindung von Varietäten entstandenen Bastarde bei ihrer weiteren Zucht den schon früher besprochenen MENDELschen Regeln. Daher läßt sich als wissenschaftliche Definition der Varietäten der von DE VRIES formulierte Grundsatz aufstellen, daß alle Formen, welche bei gegenseitigen Kreu- zungen in allen Merkmalen den MENDELschen Ge- setzen folgen, als Varietäten einer Art aufzufassen sind. Die Varietäten oder Mendelschen Arten. 285 Zweckmäßig ist es zwischen Varietäten im wilden Zustand und Kultur Varietäten zu unterscheiden. Erstere treten im allgemeinen viel seltener auf und pflanzen sich unter den natürlichen Bedin- gungen rein fort, da sie wegen ihres mehr isolierten Vorkommens einer Kreuzung mit ihrer Stammart oder mit verwandten Varie- täten selten ausgesetzt sind. Garten- und Treibhauskultur dagegen befördert die Varietätenbildung. Daher zeigen Pflanzen und Tiere, die sich seit längeren Zeiträumen unter dem abändernden Einfluß der Kultur befunden haben, oft einen erstaunlichen Reichtum der aller verschiedenartigsten Varietäten. Diese verdanken ihre Ent- stehung teils dem direkten Einfluß der Kulturbedingungen, zum noch größeren Teil aber dem Umstand, daß sie aus Kreuzung nahe verwandter Formen hervorgegangen sind. Denn in der Kom- bination zweier Idioplasmen, die sich durch mehrere antagonistische Merkmalspaare unterscheiden, ist nach den MENDELschen Spaltungs- regeln ja eine der wichtigsten Ursachen für die Produktion neuer Varietäten in größerer Zahl zu suchen. Im Gegensatz zu den mehr formbeständigen Varietäten im wilden Zustand zeigen die Kulturvarietäten und namentlich solche, die in großer Mannigfaltigkeit durcheinander gemischt auf- treten, bei ihrer weiteren Kultur eine große Unbeständigkeit. Sie sind, wie sich die Gärtner ausdrücken, nicht samenbe- ständig; sie liefern ein buntes Bild einer nach verschiedenen Richtungen variierenden Nachkommenschaft, für deren Erklärung die MENDELschen Regeln (vgl. Kap. III, S. 72 — 96) uns ebenfalls den Schlüssel geliefert haben. Denn nicht nur finden zwischen den oft dicht nebeneinander in Kultur befindlichen Individuen ver- schiedener Varietäten wieder Kreuzungsbefruchtungen und dadurch neue Kombinationen antagonistischer Eigenschaften statt, sondern es liefern solche Bastardformen, die heterozy gotisch sind, auch bei Inzucht in zweiter und dritter Generation eine an Varietäten reiche Nachkommenschaft wegen der Spaltung ihrer heterozygotischen Anlagen bei der Keimzellenbildung und wegen ihrer Neukom- bination in den folgenden Generationen. Wie schon früher (S. 87) nachgewiesen wurde, läßt sich eine Kulturvarietät durch fortgesetzte Inzucht gleichfalls formbeständig machen, so daß sie eine homogene Nachkommenschaft liefert. In diesem Fall ist eine „rein gezüchtete Varietät“ in bezug auf ihre Formbeständigkeit von einer sogenannten „guter Art“ nicht mehr zu unterscheiden. Sie gleicht ihr also in der Konstanz ihrer Merk- male und in ihrer idioplasmatischen Grundlage, mithin in den bei- 286 Siebentes Kapitel. den wichtigsten Punkten für die Artbestimmung. Von der elemen- taren Art und von der LiNNEschen Kollektivart unterscheidet sie sich dann nur noch in dem einzigen Punkte, daß der systematische Unterschied von nächstverwandten Formen nur auf einem, auf zwei oder wenigen mehr untergeordneten Merkmalen und auf dement- sprechenden Erbeinheiten beruht. Von diesem Gesichtspunkt aus würde es sich rechtfertigen lassen und nur konsequent sein, den Speziesbegriff dann auch auf die Varietäten, sofern sie durch Rein- zucht formbeständig geworden und in ihrer Erbformel gefestigt sind, anzuwenden. Um ihre gesonderte Stellung zu bezeichnen, könnte man sie von den LiNNEschen und von den elementaren Arten als die artbeständigen Varietäten, MENDELsche Arten, oder auch als beginnende Arten unterscheiden. In diesem Sinne hat schon Darwin erklärt: „Varieties are only small species“, das heißt „kleine Arten“. Eingehendere Erklärungen hierzu werden das VIII. und IX. Ka- pitel liefern. 3. Die reinen Linien (Biotypen). Am feinsten und am schwierigsten zu ermitteln ist die letzte noch zu besprechende, von Johannsen in die Systematik einge- führte Unterscheidung der „reinen Linie“1). Wenn man eine große Zahl von Individuen irgendeiner Kollek- tiv- oder Elementarart genauer untersucht, so können dieselben zwar in allen systematischen Merkmalen, wie sie hergebrachter- maßen zur Definition dienen, genau übereinstimmen, dagegen Untersphiede in der linearen Variation einzelner dieser Eigenschaften voneinander darbieten. Unter linearer Variation versteht man Unterschiede, die dadurch entstehen, daß einzelne Eigenschaften nach Maß, Gewicht, Größe. Zahl, Intensität variieren. Das Prädikat „linear“ drückt aus, daß die Variation, um die es sich in diesen Fällen handelt, nur in zwei entgegengesetzten Richtungen, nach Plus und nach Minus um einen Mittelwert herum erfolgen kann. Bei ihr sind daher auch statistische Untersuchungsmethoden anwendbar, durch welche für jeden Fall die Variationsbreite und die Durchschnittsgröße oder das Mittel der Variabilität sich durch Messungen, Wägungen und Zählungen feststellen und in Zahlen- 1) Joliannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre. Jena 1909. — de Vilmorin, L., Notices sur V amelioration des plantes par les semis. Paris 1886. — Jennings, H. S., Heredity, Variation and evolution in Protozoa. Journ. exper. Zool., 1908. — Wolter eck, R., Über natürliche und künstliche Varietätenbildung bei Daphniden. Verli. Deutsch. Zool. Ges., 1908 u. 1909. Die reinen Linien (Biotypen). 287 Verhältnissen ausdrücken läßt. Die hierbei ermittelten Werte lassen sich auch in graphischer Weise, entweder durch Kurven, wie sie durch Quetelet und Galton in die Biologie eingeführt und jetzt allgemein gebräuchlich geworden sind, oder durch statistische Tabellen übersichtlicher und anschaulicher machen. Je nachdem sich die einzelnen Individuen auf der linearen Reihe oberhalb oder unter- halb des Mittelwertes gruppieren, werden sie von Johannsen als Plus- und Minus- Abweicher oder Plus- und Minus-Varianten von den Mittelformen oder den Mittelmaßindividuen unterschieden. Als Beispiele von Eigenschaften, welche der linearen oder fluktuierenden Variabilität unterworfen und zahlenmäßig zu berechnen sind, nenne ich die Größe und das Gewicht verschie- dener Individuen derselben Pflanzen- und Tierart oder einzelner ihrer Teile, der Blätter, der Früchte, wie der Samen von Bohnen und Erbsen, der Kartoffelknollen, den Gehalt einzelner Teile an Farbstoff oder an Stärke, wie bei der Kartoffel, oder an Zucker, wie bei der Runkelrübe, oder die verschiedene Zahl von Teilen, die sich wiederholen (m eristische Variation), wie die Zahl der Flossen- strahlen, die Zahl der Haare oder der Federn in einem bestimmten Hautbezirk, oder der Randblüten bei Kompositen und dergleichen Eigenschaften mehr. Das Variieren dieser Eigenschaften ist zum Teil von äußeren Einflüssen, von dem umgebenden Milieu, von den ganzen Ent- wicklungsverhältnissen, von besserer oder schlechterer Ernährung, vom Klima, von Krankheit und Gesundheit etc. in hohem Maße abhängig; für sie trifft die Bezeichnung „fluktuierende Variabilität“, in voller Bedeutung zu. Außerdem aber wird die Verschiedenheit der zu einer Art ge- hörigen Individuen in bezug auf die genannten Eigenschaften, welche der linearen Variation unterliegen, durch ihre erbliche Veranlagung, also idioplasmatisch, bedingt. Folglich sind zwei verschiedene Momente, erbliche und nicht erbliche, zum richtigen Verständnis d ieser Verhältnisse zu be- rücksichtig* en. Hierauf hingewiesen zu haben, ist das Ver- dienst von Vilmorin (1. c.) und besonders von Johannsen (1. c.), der die Methoden zur Feststellung solcher Verhältnisse am ge- nauesten ausgearbeitet und dadurch die verwickelte Sachlage voll- ständig aufgeklärt hat. Nach den Ergebnissen von Johannsen besteht eine Population oder der Bestand einer Gegend an einer bestimmten Pflanzen- oder Tierart aus zahlreichen Individuen, die in bezug auf irgendeine 288 Siebentes Kapitel. der oben hervorgehobenen Eigenschaften mehr oder weniger er- hebliche Unterschiede, also eine fluktuierende Variabilität dar- bieten, die teils auf der Wirkung äußerer Faktoren, teils auf erb- licher Veranlagung beruht. Inwieweit das eine oder das andere der Fall ist, läßt sich durch eine Analyse auf experimentellem Wege ermitteln. Aus dem Gemenge von unzähligen, durchein- ander gemischten Individuen, die teils infolge äußerer Einflüsse, teils durch erbliche Anlage verschieden sind, kann man die erblich gleich veranlagten Individuen heraussondern durch das von VlLMORiN auf gestellte „Isolationsprinzip“. Von JOHANNSEN wird es noch zutreffender „das Prinzip der individuellen Nach- kommenbeurteilung“, genannt. Dasselbe besteht darin, daß man die verschiedengradige Ausbildung eines bestimmten Merk- mals durch getrennte Beobachtung der Nachkommen entweder jedes einzelnen Individuums in einer Reihe aufeinander folgender Gene- rationen Fi, F2, Fs ... Fn oder, wenn die Zahl der Nachkommen zu groß ist, wenigstens in genügend zahlreichen Stichproben prüft. Auf diesem Wege kann man einen wirklichen Einblick in die Erbanlagen in einer Kette von Generationen gewinnen; man kann sie von den durch äußere Ursachen her vor gerufenen Veränderungen trennen. Allerdings führt auch dieser Weg zu ganz einwandfreien Ergebnissen nur in den Fällen, in denen man bei der Fort- pflanzung Fremdbefruchtung' ausschließen kann. Daher muß man als Versuchsmaterial solche Organismen wählen, die sich unge- schlechtlich oder parthenogenetisch vermehren, oder bei denen sich weibliche und männliche Geschlechtsorgane auf einem Individuum vereint finden, so daß Selbstbefruchtung leicht durchführbar ist. Infolgedessen bietet das Pflanzenreich das geeigneteste Material dar. Gibt es doch hier manche Arten, bei denen Selbstbefruchtung auch unter normalen Verhältnissen die Regel ist, wie bei den Legu- minosen. Auch sind solche Arten geeignet, bei denen sich wenig- stens durch besondere Maßregeln Fremdbefruchtung leicht ver- hüten und Selbstbefruchtung künstlich herbeiführen läßt. Denn mit der Inzucht, selbst wenn sie durch viele Generationen hin- durch konsequent fortgesetzt wird, ist ein nachweisbarer Schaden, wie es bei den Tieren häufig der Fall ist, bei den meisten Pflanzen nicht verbunden. Die Nachkommen, die von einem als Ausgang des Experiments benutzten Individuum abstammen, faßt JOHANNSEN als eine „reine Linie“, zusammen. Die „reine Linie“ ist, um JOHANNSENs Definition zu gebrauchen, „der Inbegriff aller Individuen, welche Die reinen Linien (Biotypen). 289 von einem einzelnen absolut s e 1 b s t b e f r u c h t e n d e n , ho mozy gotischen Individuum ab stammen“. Ein solcher schärfer charakterisierter Formenkreis stellt innerhalb einer elementaren Art eine neue systematische Einheit „einen Biotypus“ nach der von JOHANNSEN hierfür eingeführten Bezeichnung dar. Ein Beispiel soll uns jetzt noch deutlicher zeigen, was durch ViLMORlNs „Prinzip der individuellen Nachkommenbeurteilung“ und durch das Studium der „reinen Linie“ bezweckt wird, und was an neuer wissenschaftlicher Einsicht schon gewonnen worden ist. JOHANNSEN (1. c. p. 1 37 — 139) wählte für seine Versuche die braune Prinzeßbohne (Phaseolus vulg. nana). In einem Vorversuch aus dem Jahre 1900 isolierte er aus einer Ernte 19 reine Linien, die sich voneinander durch das mittlere Gewicht ihrer Bohnen in typischer Weise unterschieden. Von jeder reinen Linie benutzte er eine Bohne zur Aussaat und erhielt so 19 Pflanzen, deren Samen er im Herbst 1901 für jede Linie getrennt erntete, numerierte und zu weiterer getrennter Aussaat — im ganzen handelte es sich um 524 Bohnen — benutzte. Von jeder der daraus hervorgehenden 524 Pflanzen wurde die Ernte wieder isoliert. In dieser Weise wird prinzipiell „jede reine Linie, jede Pflanze, ja jede einzelne Bohne gesondert gehalten und numeriert“ und ebenso auch bei der weiter folgenden Fortsetzung des Versuchs. Denn hierin liegt ja eben die Bedeutung der Kultur in reinen Linien, die auch in manchen Schriften unter dem Namen der Pedigreekultur aufgeführt wird. Um aus seinen zeitraubenden Versuchen allgemeine Schlüsse ziehen zu können, hat JOHANNSEN das bei der Ernte der 19 Mutter- pflanzen, welche reine Linien repräsentierten, erhaltene Bohnen- material nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten geordnet, einmal nach dem alten GALTONschen Verfahren und dann nach dem von ihm selbst neu aufgestellten Prinzip. Nach Galton hat er die zum Ausgang des Versuchs benutzten Mutterbohnen nach ihrem Gewicht in 6 Klassen von 20, 30, 40, 50, 60, 70 Zentigramm geteilt und für jede derselben durch Wägung das mittlere Gewicht aller Bohnen bestimmt, welche die von ihnen abstammenden Nachkommen bei der Ernte geliefert haben. Das Ergebnis ist in der umstehenden Tabelle I wiedergegeben, in welcher zugleich auch in der dritten horizontalen Reihe die Zahl der im Versuch erhaltenen Samen von den Nachkommen für jede der 6 Klassen mitaufgeführt ist. Die nach Galton zusammen gestellte Tabelle muß als eine summarische bezeichnet werden ; denn sie ist durch die Addition O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 19 2 g o Siebentes Kapitel. der Bohnenernte von allen 19 zum Versuch benutzten reinen Linien entstanden. In ihr finden daher alle Unterschiede, die zwischen den Ernten der reinen Linien bestehen, gar keinen Ausdruck. Sie treten dagegen deutlich zutage in der zweiten, genauer spezifizierten Tabelle, in welcher die Gewichts- und Zählergebnisse für jede der 19 reinen Linien berücksichtigt und zusammen gestellt sind. Tabelle I. Zusammenstellung nach Galtons Verfahren ohne Rücksicht auf die reinen Linien. Gewicht der Mutterbohnen in Zentigrammen 20 30 40 50 60 70 Mittleres Gewicht der Nachkommen . . 44’° 44,3 1 46i 49,0 51,9 1 5L1 Anzahl der Nachkommen 180 I 835 ! 2238 | 1138 1 609 494 In der Tabelle II sind in der ersten vertikalen Kolumne die 19 reinen Linien nach ihrer betreffenden Eigenschaft systematisch angeordnet und mit Zahlen numeriert; in der am weitesten rechts stehenden Kolumne ist das mittlere Gewicht der von jeder Linie geernteten Bohnen angegeben, beginnend mit dem Höchstgewicht von 64,2 bis herab zu dem geringsten Gewicht von 35,1. Dazwischen stehen die 6 vertikalen Kolumnen, in denen die Gewichte der zum Ausgang des Versuchs benutzten Mutterbohnen in der obersten horizontalen Reihe, wie in der Tabelle I von 20, 30 bis 70 cg auf- geführt sind. Unter ihnen folgen die mittleren Gewichte der Bohnen, die von den 19 Versuchsobjekten, und zwar geordnet nach den unterschiedenen reinen Linien, erhalten worden sind. Hinter dem mittleren Gewicht für jede Linie ist mit kleinen Ziffern die Zahl der geernteten Bohnen, aus denen das mittlere Gewicht gewonnen wurde, angegeben. In der untersten Querreihe ist das mittlere Bohnengewicht aus allen Versuchen, die in den einzelnen Längs- kolumnen mitgeteilt sind, berechnet und mit kleinen Ziffern zugleich die durch Addition gewonnene Gesamtzahl der Bohnen hinzugefügt, aus denen die einzelnen mittleren Gewichte der reinen Linien ge- wonnen wurden. Die mittleren Gewichte der untersten Reihe, sowie die hinter ihnen angegebenen Zahlen der geernteten und gewogenen Bohnen stimmen in selbstverständlicher Weise mit den Zahlen über- ein, die in der Tabelle I in der zweiten und dritten Querreihe zu- sammengestellt sind. Denn Tabelle II gibt ja nur die genauere Aus- führung der in Tabelle I summarisch mitgeteilten Wägungen und Zählungen. Die reinen Linien (Biotypen). 291 Tabelle II. Übersicht einer Selektionswirkung in reinen Linien. Die reinen Linien Gewicht ( in Zentigrammen) der Mutterbohnen Mittleres Gewicht der Linien 20 30 40 50 | 60 70 I . 63,1. 54 64,9. 91 64,2. 145 II 57,2. 86 54,9- 195 5L5. 120 55,5- 74 55,8. 475 III 56,4. 144 56,6. 40 54,4- 98 55,4- 282 IV 54,2. 32 53,6. 163 56,6. 112 54,8. 307 V 52,8: 107 49,2. 29 . 50,2. 119 5L2. 255 VI 53,5- 20 50,8. 111 42,5- 10 5°, 6. 141 VII 45,9- 16 . 49,5* 262 48,2. 27 49,2. 305 VIII 49,0. 20 49,1. 119 47,5- 20 48,9. 159 IX 48,5- 117 47,9- 124 48,2. 241 X 42,1. 28 46,7. 412 46,9. 93 46,5. 533 XI 45,2. 114 45,4- 217 46,2. 87 45,5. 418 XII 49,6. 14 . 45,i- 42 44,o. 27 44,5- 83 XIII 47,5- 93 45A 219 45,i- 205 45,8. 95 45,4- 712 XIV 45,4- 21 46,9. 51 42,8. 34 45,3. 106 XV 46,9. 18 44,6. 131 45,o. 39 45,o. 188 XVI 45,9- 147 44,1. 90 4L°- 36 44,6. 273 XVII 44,°. 78 . 42,4. 217 42,8. 295 XVIII 41,0. 54 40,7. 203 40,8. 100 . 40,8. 357 XIX 35-8- 72 34,8. 147 - . 35-i. 219 I— XIX 44,°. 180 44,3- 835 46,1.2238 49,0- 1138 5L9- 609 56,1. 494 47,9- 5494 Was ist nun das neue Ergebnis der von Johannsen eingeführten Untersuchungsmethode? Es läßt sich dahin zusammenfassen, daß, wie uns Tabelle II in überzeugenderWeise lehrt, in jeder reinen Linie das mittlere Gewicht der geernteten Bohnen nahezu das gleiche bleibt, mögen wir Minus- oder Plus- oder Mittelvarianten ausgesät haben. So haben z. B. in der Linie XIII ausgesäte Mutterbohnen von 30 cg 93 Tochter- bohnen mit einem mittleren Gewicht von 47,5 cg geliefert; es er- gaben ferner 40 cg schwere Mutterbohnen 219 Nachkommen mit 45,0 cg Mittelgewicht, 50 cg schwere 205 Nachkommen mit 45,1 Mittelgewicht und 60 cg schwere 95 Nachkommen mit 45,8 Mittel- gewicht, oder mit anderen Worten: es hat für das Durchschnitts- gewicht der geernteten Samen innerhalb der reinen Linie keinen Unterschied ausgemacht, ob sie aus einer Minus- oder Plusvariante dieser Linie, also aus Mutterbohnen von 30 oder 40 oder 50 oder 60 cg gezogen wurden. In der XII I. Linie ist sogar der Fall ein- getreten, daß die kleinsten Mutterbohnen von 30 cg zufälligerweise etwas größere Nachkommen als die Mutterbohnen von 60 cg ge- liefert haben, da das mittlere Gewicht von ersteren 47,5, von letzteren nur 45,8 ergab. Dasselbe wie Linie XIII zeigen die Linien II, III, VI, IX, XII bei genauerer Betrachtung und lehren in klarer Weise, 19 292 Siebentes Kapitel. daß in jedem der 19 Biotypen die Variabilitätsbreite der Samen in bezug auf Größe und Gewicht erblich fixiert ist, und daß daher die Plus- und Minusab weicher trotz ihrer äußerlichen, von den voraus- gegangenen Entwicklungsbedingungen abhängigen Differenzen doch in ihrer Erbpotenz ein durchaus gleichartiges Material darstellen. Nicht minder lehrreich und beweisend ist ein Vergleich der Er- gebnisse, die in den einzelnen Vertikalkolumnen in systematischer Folge angeordnet sind; man erhält aus ihrem Studium einen Ein- blick in die Größe der Erbpotenzen, durch welche die einzelnen Biotypen sich voneinander unterscheiden. So geben in der dritten Vertikalkolumne z. B. 13 zur Nachzucht benutzte Mutterbohnen, die im Gewicht von 40 cg absolut untereinander übereinstimmten, doch eine sehr ungleiche Nachkommenschaft, je nach der ihnen inne- wohnenden Erbpotenz oder ihrer Zugehörigkeit zu einer reinen Linie, die vor Beginn des Versuchs nach dem „Prinzip der indi- viduellen Nachkommenbeurteilung“ ermittelt worden war. Denn 40 cg schwere Mutterbohnen lieferten in der Linie II eine Nachkommenschaft von 57,2 cg mittleres Gewicht, >5 >> NIX. „ ,, ,, 34,8 ,, „ ,, Es konnte also zwischen den hier aufgeführten Extremen erblicher Beanlagung die große Differenz von 23 cg mittleren Gewichts ex- perimentell festgestellt werden. Die meisten reinen Linien zeigten in bezug auf den in Frage stehenden Faktor eine mittlere Bean- lagung. Denn das mittlere Gewicht ihrer Nachkommenschaft be- rechnete sich auf 46,1. Die Erforschung der reinen Linien innerhalb einer elementaren Art gehört ganz der neueren Zeit an ; es liegen daher für diesen jungen Zweig der Wissenschaft noch sehr wenig genau durchgeführte experimentelle Arbeiten, namentlich auf zoologischem Gebiete, vor. Viel geeigneter als dieses ist das Pflanzenreich wegen der bequemeren und rascheren Durchführung ausgedehnter Kultur versuche. Diese sind hier auch in praktischer Beziehung, wenigstens zurzeit, von viel größerer Bedeutung für die Landwirtschaft, für welche es von der größten Wichtigkeit ist, unter den Kulturgewächsen die für den Anbau besonders geeigneten Biotypen zu benutzen. Zu ihrer Ermittlung gilt jetzt als die aussichtsreichste und als wirklich wissen- schaftliche Methode mit Recht die Kultur in reinen Linien nach ViLMORiNs Prinzip der „individuellen Nachkommenbeurteilung“. Welche wichtigen Ergebnisse für die Landwirtschaft auf diesem Wege bereits erzielt worden sind, lehrt besonders die Veredelung Die reinen Linien (Biotypen). 293 der Zuckerrübe durch planmäßige, mit allem wissenschaftlichen Raffinement betriebene Auswahl der Rübensorten, mit höchstem Zuckergehalt oder die in Svalöf von Nilsson-Ehle betriebene wissenschaftliche Kultur von Getreide- und Leguminosenarten, um botanisch charakterisierte Typen zu gewinnen, die für den Anbau zur Erzielung möglichst hoher Erträge unter verschiedenen Be- dingungen von Boden und Klima besonders empfehlenswert sind. Für den Systematiker — und daher ist ja auch diese ganze Betrachtung hier an gestellt worden — erwächst aus alledem die neue Einsicht und die wichtige Lehre, daß auch die mit feineren wissenschaftlichen Unterscheidungsmerkmalen durchgeführte Klassi- fikation des Pflanzen- und Tierreichs ihre Aufgabe selbst mit den elementaren Arten von Jordan und DE Vries oder sogar mit den artbeständigen Varietäten noch nicht voll gelöst hat. Denn auch diese sind noch weiter auf Grund ihrer fest normierten erblichen Veranlagung, welche auf experimentellem Wege nach den rationellen Methoden von ViLMORiN, JOHANNSEN etc. ermittelt werden kann, in Biotypen zerlegbar, die zwar in der Zahl aller äußeren Merk- male sich gleichartig verhalten, trotzdem aber in dem Grade der Aus- bildung dieser einzelnen Merkmale nach dem Maßstab der linearen Plus- und Minusvariation genotypisch verschieden, experimentell unterscheidbar und aus einem Gemisch auch voneinander isolier- bar sind. Achtes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten. Ihre Variabilität und ihre Mutabilität. Die Lehre von der Artkonstanz hat eine große Rolle in der Geschichte der Biologie gespielt und Anlaß zu erbitterten Streitig- keiten unter Systematikern und Morphologen gegeben. Wer sich auf diesem dunklen und zum Teil widerspruchsvollen Gebiet Klar- heit verschaffen und einen festen Standpunkt gewinnen will, muß sich der allgemeinen Erörterungen erinnern, die wir bei der Unter- suchung des Entwicklungsprozesses sowie bei der Definition des Artbegriffes an gestellt haben. Wir waren dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Entwicklung eines jeden Organismus ein un- trennbares Zusammenwirken innerer und äußerer Faktoren er- fordert. Die inneren Faktoren beruhen vom Beginn der Entwick- lung auf der präformierten Anlage der Artzelle (auf ihrem Idio- plasma). Die äußeren, ebenso notwendigen Faktoren dagegen sind die Bedingungen , unter denen sich der Entwicklungsprozeß bis zur Erreichung seines Endziels abspielt. Das Produkt von beiden ist der fertige Organismus mit seinen uns sichtbar gewordenen systematischen Merkmalen und Eigenschaften. Es ist klar und selbstverständlich, daß auf Grund dieser Unter- scheidungen das Endprodukt auf zwei wesentlich verschiedenen Wegen Veränderungen erfahren kann, von denen die einen nicht erblich, die anderen erblich sind. i) Was die erste Gruppe betrifft, so können die Bedingungen, unter denen sich Keimzellen von ein und derselben Spezies ent- wickeln, andere als die gewöhnlichen sein ; hierbei können sie zwar das Wesen der Artzelle selbst in der Beschaffenheit ihres Idio- plasmä unverändert lassen, aber durch die von ihnen ausgehenden Reizwirkungen die Verwendung des Zellenmaterials in mehr oder minder hohem Grade so beeinflussen, daß die Endformen des Ent- wicklungsprozesses andere als unter den gewöhnlichen Bedingungen werden. Auf diesem Wege zustande gekommene Abänderungen in der Gestalt von Pflanzen und Tieren sind, wie sich von selbst Die Frage nach der Konstanz der Arten. 2 95 versteht, nicht erblich, da ja der Charakter der Artzelle derselbe wie vorher geblieben ist. Daher entstehen bei der nächsten und jeder folgenden Fortpflanzung wieder Tochterorganismen der ur- sprünglichen Form, wenn ihre Entwicklung unter den für die Art gewöhnlichen Bedingungen wieder vor sich geht. Alle derartigen, durch Variation der Entwicklungsbedingungen hervorgerufenen Form Veränderungen der Lebewesen, bei denen die Artzelle selbst in der Konstitution ihres Idioplasma unverändert geblieben ist, sollen im folgenden als Modifikationen derSpezies oder als ihre Varianten, um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck zu gebrauchen, zusammengefaßt werden. Sie sind von mancher Seite auch als Somatosen (Plate) bezeichnet worden. Indem sie unter den Begriff der Art fallen, tragen sie in manchen Fällen zur Er- weiterung des Formenreichtums der Art noch sehr erheblich bei. Auf Grund unserer Einteilung sind wir auch jetzt in der Lage, eine wissenschaftlich schärfer begrenzte Fassung dem Wort „Varia- bilität“ zu geben. Mit Recht hat DE Vries (1. c. 1906, p. 119) von demselben den Ausspruch getan : „Nichts ist in der Tat mehr variabel, als die Bedeutung des Ausdrucks „variabel“ selbst. Das Wort Variabilität hat eine solche Menge von Bedeutungen, daß man es niemals ohne eine genauere Erklärung gebrauchen sollte.“ Um diesem Übelstand abzuhelfen, schlage ich vor, das Wort ^Variabilität“ nur für solche Veränderungen der Lebewesen zu gebrauchen, bei denen die Artzelle selbst zwar in ihren erblichen Po- tenzen (in der Konstitution des Idioplasma) unverändert bleibt, aber auf den Wechsel der Entwicklungsbedingungen in einer nur ihr eigen- tümlichen Weise, namentlich während der Ontogenese, durch ver- änderte Gestaltbildung reagiert. Die so erzeugten Varianten oder Modifikationen sind, weil sie nicht erblich fixiert sind, bei der Fort- pflanzung unter veränderten Entwicklungsbedingungen nicht form- beständig, sondern verlieren ihre sie auszeichnenden Merkmale wieder und ersetzen sie durch solche, welche den neugeschaffenen Ent- wicklungsbedingungen wieder entsprechen. Durch eine größere Zahl von Beispielen wird die Bedeutung und die Verbreitung der Variabilität im Organismenreich gleich noch weiter aufgeklärt werden. Die Worte Variabilität, Variation, Varianten, unterscheiden sich daher begrifflich von dem in der S}^stematik eingebürgerten Worte „Varietät“. Denn dieses schließt gewöhnlich, wie bei der schon früher im Kapitel VII, S. 284 besprochenen Gebrauchsweise den Be- griff der Erblichkeit nicht aus. 2 gö Achtes Kapitel. 2) Gegenüber den Varianten ist eine zweite Gruppe von Ver- änderungen zu unterscheiden, welche auf einer Umwandlung in der idioplasmatischen Konstitution der Artzelle selbst beruhen und da- her auch erblich sind. Zu ihrer kurzen Bezeichnung* ist das von DE VRIES eingeführte Wort „Mutanten“ geeignet. Dement- sprechend nennen wir auch das Vermögen der Artzelle, aus irgend- welchen Ursachen eine dauernde, wenn auch geringfügige Ver- änderung in der Konstitution ihres Idioplasma zu erfahren, ihre Mutabilität. Auf ihr beruht die Fortentwicklung der Organismen- welt durch Bildung neuer Arten. Denn wie schon früher (S. 270, 294) nachgewiesen wurde, beruht unser Kriterium zur Unterscheidung der Arten auf der Erhaltung ihrer Eigenschaften durch Vererbung durch die Artzelle im Wechsel der Generationen. Jede Ver- änderung der Artzelle in ihren erblichen Eigen- schaften stellt daher einen Akt n euer Artbildun g vor. Wenn man die zu einer Art gehörigen Varianten mit den ihr am nächsten stehenden Mutanten vergleicht, so zeigen jene zuweilen viel größere Unterschiede untereinander als diese. Dafür sind aber auch die Mutanten als neu gebildete Arten konstant, die Varianten dagegen vergänglich oder vorübergehend im Wechsel der Gene- rationen. Nach dieser begrifflichen Orientierung gehen wir zu einer ge- naueren Besprechung der Erscheinungen der Variabilität und der Mutabilität und der Varianten und der Mutanten im Organismen- reich über. 1. Die Variabilität im Organismenreich. Die Varianten oder Modifikationen einer Pflanzen- und einer Tierart1). Die Varianten einer Organismenart bieten oft untereinander sehr viele Verschiedenheiten dar, je nach den Bedingungen, die sich geändert haben, und je nach der Zeit und je nach der Dauer, mit der die Bedingungen auf die Gestaltungsprozesse der Artzelle während ihrer Entwicklung eingewirkt haben. Bald machen die Endprodukte der Variabilität denselben Eindruck der Gesetzmäßigkeit wie die 1) v. Nägeli , Carl, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München 1894. — de Vries, Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation, Vorlesungen, ins Deutsche übertragen von H. Klebahn, Berlin 1906. — Baur , Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, Berlin 1911. — Klebs , G., Studien über Variation, Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. XXIV, 1907. — Der- selbe, Über die Nachkommen künstlich veränderter Blüten von Sempervivum, Sitz-Ber. d. Akad. d. Wiss. Heidelberg , 1909. — Goebel , B. Einleitung in die experimentelle Morphologie, Leipzig 1908. Die Variabilität der Organismen. 29 7 normalen Repräsentanten der Art und sind mit derselben Not- wendigkeit wie diese zustande gekommen. Bald erscheinen sie nur unbedeutend verschieden; sie sind dann auch mehr durch Zufall entstanden, wenn die Bedingungen sich nur wenig oder vorüber- gehend verändert haben. Bald wieder rufen sie den Eindruck des Monströsen und Abnormen hervor, wenn außergewöhnliche Be- dingungen namentlich frühe Stadien der Entwicklung betroffen und zu mehr oder minder intensiven Störungen im Lebensprozeß den Anstoß gegeben haben. Infolgedessen lassen sich die Varianten einer Organismenart in zahlreiche Gruppen einteilen, unter denen mir die folgenden am meisten der Erwähnung wert und zur Er- klärung der Variabilität geeignet erscheinen: 1) die Geschlechts- varianten, 2) die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Poly- morphismus im Tierreich, 3) die Standorts-, die Kultur- und Um- schlagsvarianten im Pflanzenreich, 4) die fluktuierenden Varianten, 5) die monströsen Varianten (Bildungsanomalien und Monstrositäten). 1. Die Geschlechtsvarianten. Wie bei einigem Nachdenken jeder einsehen wird, repräsen- tieren weder die weiblichen noch die männlichen Individuen einer Art in den Fällen, in denen eine Geschlechtstrennung stattgefunden hat, in ihren äußeren Merkmalen das vollständige Wesen der Art. Daher müssen sie als die Geschlechtsvarianten bezeichnet werden. Hierdurch wird ausgedrückt, daß erst durch die Vereinigung ihrer Merkmale der volle Artbegriff zustande kommt. Die Geschlechts- varianten bieten uns bei ihrem Studium im Pflanzen- und Tierreich bald kaum nennenswerte, bald erhebliche Unterschiede voneinander dar, welche zuweilen größer ausfallen als zwischen Vertretern ver- schiedener Gattungen und selbst Familien ; sie würden in diesem Fall überhaupt nicht zu einer Art von uns im System zusammen- gefaßt werden, wenn wir nicht durch den Nachweis der gemein- samen Abstammung beim Zeugungsakt uns von ihrer Zugehörig- keit zum Formenkreis einer Art Gewißheit verschafft hätten (siehe S. 268). Da somit die zwei Geschlechter mit ihren Charakteren nur verschiedene Gegensätze sind, die zusammengehören, können sie auch, wie es häufig geschieht, in ein und demselben pflanzlichen und tierischen Individuum vereint sein. Wir sprechen dann von einem Hermaphroditismus im Gegensatz zum Gonochorismus , in welchem die Geschlechter auf ein weibliches und ein männliches Individuum getrennt sind. 2 g8 Achtes Kapitel. Die Unterschiede zwischen Personen von getrenntem Geschlecht oder zwischen Zellen, die wir als männlich oder weiblich bezeichnen, entstehen nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Schon in meiner „Allgemeinen Biologie“ habe ich durch ver- gleichende Untersuchung der Urformen der geschlechtlichen Zeugung im Organismenreich (5. Aufl., p. 346 — 355) den Nachweis zu führen gesucht, daß in den einfachsten Fällen von geschlechtlicher Zeugung die konjugierenden Zellen einander gleich sind (Spirogyra, Bothry- dium, Ulothrix etc.), und daß die allmählich erfolgende Ausbildung von Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Keimzellen innerhalb der einzelnen Familien niederer Algen (Volvocineen, Con- jugaten etc.) beim Studium ihrer verschiedenen Arten beobachtet werden kann. Den auffälligen Gegensatz zwischen Eiern und Samenfäden im Tierreich habe ich auch im dritten Kapitel dieses Buches aus dem Umstand erklärt, daß beide eine verschiedene Auf- gabe bei der auf geschlechtlicher Zeugung beruhenden Entwick- lung übernommen haben. Ich verweise daher auf die hierüber früher (S. 58 — 60) gegebene Darstellung. Arbeitsteilig gewordene Lebenseinheiten aber sind „der Art“ nach und im Hinblick auf die Konstitution ihres Idioplasma einander gleich und nur durch Über- nahme einer besonderen Funktion in äußerlichen Merkmalen, wie in der Bildung besonderer Protoplasmaprodukte, voneinander ver- schieden. Von diesem Standpunkt aus wird man es begreiflich finden, daß das Geschlecht, genau genommen, nicht zu den bloß erblichen Eigenschaften gehört, sondern auch durch Faktoren, die nicht ausschließlich im Idioplasma gelegen sind, be- stimmt wird. Denn durch die Mutter wird weder das weibliche noch durch den Vater das männliche Geschlecht vererbt, wie man, abgesehen von den schon besprochenen allgemeinen Gesichtspunkten, auch aus einer Reihe einzelner Erscheinungen schließen muß. Besonders deutlich tritt uns dies in den eigentümlichen, von Siebold entdeckten Zeugungserscheinungen der Bienen und ver- wandter Insekten entgegen. Denn die unbefruchteten Eier der Bienenkönigin werden zu Drohnen, die befruchteten Eier dagegen zu weiblichen Tieren, entweder zu Arbeitsbienen oder zu Königinnen. Es hängt daher von besonderen, nicht erblichen Faktoren ab, ob das Zeugungsprodukt sich zu einer weiblichen oder männlichen Variante entwickeln wird. Denn der Umstand, daß das Bienenei in einem Fall von einem Samenfaden befruchtet wird, im andern nicht, kann nicht als „Gen“ bereits in das Idioplasma der Bienenartzelle hinein- Die Variabilität der Organismen. 299 verlegt werden. Die Ausbildung der äußeren Geschlechtsmerkmale und der sekundären Geschlechtscharaktere aber beruht, wie schon im IV. Kapitel (S. 164) besprochen wurde, auf korrelativer Ent- wicklung und erfolgt daher in Abhängigkeit und unter dem Ein- fluß der sich nach männlichem oder weiblichem Typus entwickeln- den Keimdrüsen. Aus allen diesen Gründen erscheint mir eine Besprechung des geschlechtlichen Dimorphismus in dem Kapitel, das über die Varia- bilität der Organismen im erweiterten Umfang handelt, vollauf ge- rechtfertigt. Sie kann aber nur in kurzen Zügen gegeben werden, da es sich um ein sehr schwieriges Gebiet handelt, welches zurzeit noch wenig experimentell durchforscht und wenig geklärt ist. Ich beschränke mich daher darauf, 1) eine Anzahl Beobachtungen aus meiner Biologie zusammenzustellen , welche auf eine Geschlechts- bestimmung durch äußere Faktoren hinzudeuten scheinen, und 2) zum Schluß auch das jetzt viel diskutierte Thema der Geschlechts- chromosomen kurz zu berühren. a) Experimentelle Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren1). Unter den Pflanzen liefern namentlich viele Kryptogamen ge- eignete Objekte zur Vornahme von Versuchen. Wie aus einem großen Teil derselben hervorgeht, „setzt die Produktion weiblicher Geschlechtszellen gegenüber derjenigen der männlichen im all- gemeinen einen besseren Ernährungszustand der Pflanzen voraus“ (Oscar Schultze). So erhielt Prantl, als er Sporen von Osmunda und Ceratopteris auf stickstoffreie Nährlösungen aussäte, anstatt hermaphroditer nur männliche Prothallien ; doch wurden nachträg- lich neben den Antheridien auch noch Archegonien gebildet in den Fällen, in denen später salpetersaures Ammoniak zur Nährlösung hinzugesetzt wurde. Umgekehrt wurden rein wTeibliche Prothallien bei sehr stickstoffreicher Nährlösung gezüchtet. Durch eine andere Versuchsanordnung konnte Klebs, als er durch mangelhafte Be- leuchtung die Ernährung hemmte, zwitterige Prothallien von Farnen in rein männliche umwandeln. Ähnliche Ergebnisse wurden von Perrin bei Kulturversuchen von Polypodiaceen unter Veränderungen des Nährbodens, der Belichtung, der Temperatur usw. gewonnen. Nach Buchtien sind Prothallien von Equisetum pratense, die auf 1) Hertwig, Richard , Über den derzeitigen Stand des Sexualitätsproblems etc. Biolog. ZentralbL, Bd. XXXII, 1912. Günther Hertwig , Das Sexualitätsproblem. Biolog. Zentralbl., Bd. 41. 1921. 300 Achtes Kapitel. gutem Nährboden Archegonien hervorgebracht haben, bei Ver- pflanzung auf mageren Boden nur noch imstande, Antheridien zu erzeugen. Gestützt auf zahlreiche derartige Befunde, kann man daher mit Goebel sagen : „schlecht ernährte Prothallien werden männlich, gut ernährte weiblich, und man kann weibliche Prothallien durch schlechte Ernährung dazu bringen, statt der Archegonien Antheridien zu bilden“. Im Gegensatz zu diesem Verhalten der Kryptogamen ist bei den diözischen Phanerogamen der Geschlechtscharakter durch äußere Eingriffe so gut wie gar nicht zu beeinflussen. Das Geschlecht ist bereits im Samen — wie die langjährigen Versuche von Stras- BURGER ergeben haben — im voraus fest und unabänderlich be- stimmt. Einen Übergang vermitteln indessen einige monözische Pflanzen. Denn Melonen und Gurken, welche an demselben Stamm männliche und weibliche Blüten erzeugen, entwickeln bei hoher Temperatur nur die männliche, im Schatten dagegen nur die weib- liche Form. Endlich sprechen auch tierische Experimente, deren Zahl freilich zurzeit noch eine kleine ist, für eine Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren. Ohne Frage hängen von Ernährungs- und Temperatur Verhältnissen in hohem Maße die Erscheinungen ab, welche beim Generationswechsel der parthenogenetischen Krustaceen und Insekten in der Natur beobachtet werden. Sie sind daher auch schon zum Gegenstand experimenteller Forschung mit Erfolg ge- macht worden, v. Baehr konnte in einfacher Weise bei der Reb- laus die parthenogenetische Periode zum Abschluß bringen, wenn er die Jungfernweibchen in Glasgefäßen kultivierte und ihnen Wurzeln des Weinstocks als Nahrung darbot. Denn kurze Zeit, nachdem die Wurzeln abgestorben waren, traten unter dem Einfluß des Futtermangels die geflügelten, geschlechtlichen Formen auf. Wie Nussbaum mit Recht hierzu bemerkt, dient in diesem Fall, wie auch in ähnlichen anderen Fällen, die Erwerbung der Flügel dazu, die wegen Futtermangels dem Aussterben nahe Kolonie an neue Weideplätze zu führen. Dort werden bei besserem Futter die aus den befruchteten Eiern hervorgegangenen Generationen von neuem wieder zu flügellosen Jungfern weibchen umgestaltet. Der Wert der ßAEHRschen Beobachtungen liegt darin, daß man zu allen Jahreszeiten durch das Experiment die geflügelte Form und aus ihr die geschlechtlich differenzierten größeren weiblichen und kleineren männlichen Eier gewinnen und so die Anschauungen widerlegen kann, es bestünden unabänderlich an die Jahreszeit gebundene Die Variabilität der Organismen. 301 Zyklen. Im Experiment können wir zu jeder Jahreszeit die typischen Verschiedenheiten eines Jahreszyklus erzeugen. Am häufigsten haben drei Objekte zu Experimenten über künst- liche Geschlechtsbestimmung gedient: Hydra, das Rädertier Hyda- tina senta und Rana esculenta. Seine an Hydra angestellten ausgedehnten Untersuchungen faßt M. NUSSBAUM zu dem Ergebnis zusammen, daß das Maß der Er- nährung und namentlich Schwankung derselben die Knospung und die Geschlechtsbildung beherrscht, daß ferner für die Entstehung des einen oder des anderen Geschlechts aus der indifferenten An- lage gleichfalls die Art der Ernährung mit großer Wahrscheinlich- keit die Ursache ist, daß aber der Beweis einer Umwandelbarkeit des Geschlechts an einem und demselben Tier bis jetzt noch fehlt. Bei Hydatina senta konnten Maupas und NUSSBAUM den Nach- weis führen, daß nur während einer bestimmten Periode, die wir am anderen Ort als die sensible bezeichnen werden, ein Einfluß auf die Geschlechtsbestimmung des Eies durch äußere Faktoren ausgeübt werden kann. Diese Periode ist die Zeit, in welcher sich das Ei noch in der Mutter entwickelt. Wenn es abgelegt ist, be- findet es sich schon in einem nach männlicher oder weiblicher Richtung determinierten Zustand, der sich dann nicht mehr ab- ändern läßt. Es muß daher schon auf die Elterntiere einzuwirken versucht werden. Inwieweit nun hierbei niedere und stark er- höhte Temperaturen oder karge und überreiche Ernährung ge- schlechtsbestimmend auf die in den Eltern entstehenden Keimzellen einwirken, ist von Maupas, Nussbaum, Punnet und Whitney in abweichender Weise beantwortet worden, wie genauer in meiner allgemeinen Biologie (4. Aufl. S. 605, 606) besprochen worden ist. Jeden- falls scheint aber die Ernährung ein Faktor zu sein, welcher bei den Versuchen über die Bestimmung des Geschlechts mit in erster Linie zu beachten ist. Uber künstliche Beeinflussung des Geschlechts an den Eiern von Rana esculenta hat Richard Hertwig über mehrere Jahre ausgedehnte Versuche angestellt und beobachtet, daß es hierbei von entscheidender Bedeutung ist, ob das Ei zur Zeit der normalen Reif.e oder im Zustand der Überreife befruchtet wird. „Als normale Zeit der Entleerung betrachtet er den Zeitpunkt, in welchem das vom Männchen besprungene Weibchen anfängt, seine Eier abzusetzen. Ist eine nicht zu geringe Zahl (etwa 300 — 400) Eier entleert und der prall gefüllte Uterus etwas entlastet, so kann man durch Ent- fernen des Männchens das Laichgeschäft unterbrechen und beide 302 Achtes Kapitel. Tiere an einem kühlen, nicht allzufeuchten Ort getrennt aufbe- wahren, ohne daß der Rest der Eier abgelegt wird. Indem man das Männchen in Zwischenräumen von 24 Stunden wieder mit dem Weibchen vereinigt und nach erfolgter Ablage einer zweiten Portion von Eiern aufs neue trennt usw., kann man von einem und dem- selben Pärchen Befruchtungen von 24, 48, 72, 96 Stunden Über- reife erzielen. Bei der letzten Befruchtung ist es zweckmäßig, künstliche Besamung vorzunehmen, da bei wiederholten Störungen des Laichgeschäftes das Männchen leicht versagt, so daß dann un- befruchtete Eier abgeleg werden.“ Bei Vergleichung der durch Früh- oder Spätbefruchtung gewonnenen Kulturen erzielte Richard Hertwig sehr auffallende Kontraste. Während bei den Larven, die aus einer Normalkultur gezüchtet wurden, beide Geschlechter in annähernd gleicher Zahl vertreten waren — so kamen z. B. in einem Fall 58 J auf 53 $ — überwog mit der Zunahme der Spät- befruchtung immer mehr das männliche Geschlecht. In einem Ex- periment, in welchem eine Überreife von 89 Stunden vorlag, wurden weibliche Tiere überhaupt ganz vermißt; es wurden 299 <$ und ein lateraler Hermaphrodit erhalten, welcher rechts männlich, links weiblich war. In einer anderen Versuchsserie mit einer Überreife der Eier von 96 Stunden entwickelten sich Larven, die in allen 271 Fällen, in welchen die genauere Geschlechtsbestimmung vor- genommen wurde, sich als männliche erwiesen. „Diese Zahl“ be- merkt Richard Hertwig mit Recht, „ist eine so gewaltige, daß auch die in Verlust gegangenen Tiere an dem Resultat nichts ändern können.“ Die bei Rana esculenta erhaltenen Ergebnisse benutzt Richard Hertwig auch zur Erklärung der auffallend hohen Sexualitäts- unterschiede bei Hunden und bei Fischen, bei denen künstliche Befruchtung geübt wird. Bei Hunden, bei denen 138 6 durchschnitt- lich auf 100 $ geboren werden, bringt er sie in Zusammenhang mit dem Wunsch der Hundezüchter, möglichst viele Rüden zu züchten und mit der in Kreisen der Hundezüchter herrschenden, nach seiner Ansicht durchaus richtigen Meinung, daß Hündinnen mehr männliche Nachkommen erzeugen, wenn sie relativ spät gedeckt werden. In gleicher Weise erklärt Hofer das seit Ein- führung der künstlichen Befruchtung beobachtete Überwiegen der Männchen „aus der Praxis der Fischzüchter, welche erst eine Zahl laichreifer Weibchen Zusammenkommen lassen, ehe sie die künst- liche Befruchtung ausführen. Es ist klar, daß bei einem solchen Verfahren einige Fische überreif werden müssen.“ Die Variabilität der Organismen. 303 b) Die sogenannten „Geschlechtschromosomen“ (sex chromosomes) oder Heterochromosomen. Daß die Lösung des Sexualitätsproblems mit großen Schwierig- keiten verknüpft ist und noch zu den dunkelsten Gebieten der Biologie gehört, wurde bereits hervorgehoben. So scheint die Lehre von den Heterochromosomen J) sich mit den hier vorgetragenen Ergebnissen der experimentellen Forschung nur schwer in Ein- klang bringen zu lassen. Es hat sich nämlich auf Grund mikro- skopischer Beobachtungen, die vorzugsweise an vielen Vertretern der Insektenklasse angestellt worden sind, ergeben, daß bei ihrer Spermiogenese 2 Arten von Samenfäden gebildet werden. Diese unterscheiden sich im wesentlichen dadurch voneinander, daß die einen ein Chromosom, welches Heterochromosom oder Geschlechts- chromosom heißt, mehr besitzen als die anderen. Der Unterschied erklärt sich aus dem Verlauf der beiden Reifeteilungen der Sper- matocyten. Aus ihrem ruhenden Kern entsteht eine unpaare Zahl von Chromosomen, unter denen sich eins, das Heterochromosom, von den übrigen durch manche Eigentümlichkeiten auszeichnet, wie durch seine Abstammung vom Nucleolus(P) des ruhenden Kerns. Bei den 2 Karyokinesen erhalten dann von den 4 Spermatiden, die aus einer Spermotocyte hervorgehen, nur zwei ein Teilstück vom Heterochromosom, während die beiden anderen leer ausgehen. Je nachdem nun die Eier von einem Samenfaden mit oder ohne Hetero- chromosom befruchtet werden, entwickeln sich aus ihnen weibliche oder männliche Individuen. Daher werden die beiden Arten von Spermatozoen auch als „female producing and male producing form“ unterschieden. Daß der Dimorphismus der Samenfäden bei den Insekten mit der Geschlechtsbestimmung der Eier zusammenhängt, muß nach dem vorliegenden Tatsachenmaterial als sehr wahrscheinlich be- zeichnet werden; dagegen ist es zweifelhaft, ob das Hetero- chromosom überhaupt aus einer Substanz besteht, welche dem Chromatin des Kerns gleichwertig ist. Denn wenn es sich von dem Nucleolus des Kerns herleiten sollte, wie von verschiedenen Seiten angegeben und von Montgümery durch den Namen „Nu- cleoluschromosom“ ausgedrückt worden ist, so würde damit seine substantielle Verschiedenheit bewiesen sein. Vollkommen unklar aber ist der ursächliche Zusammenhang, wie das Vorhandensein oder Fehlen des Heterochromosoms im Samenfaden den weiblichen 1) Wilson, E., The sex chromosomes. Arcli. f. mikrosk. Anat., Bd. LXXVII, 1911 304 Achtes Kapitel. oder den männlichen Charakter des Eies bei der Entwicklung be- stimmt. Bei dieser mangelnden Einsicht kann eine allgemeine Theorie der Geschlechtsbestimmung um so weniger auf diese mikroskopischen Befunde basiert werden, als sie bis jetzt doch nur bei einem nur engen Kreis von Lebewesen gemacht worden sind, so daß eine Verallgemeinerung zurzeit noch unmöglich ist. Mit Recht drückt sich daher auch einer der Hauptforscher auf dem vorliegenden Gebiet, E. WlLSON, sehr vorsichtig in betreff der ursächlichen Bedeutung der Heterochromosomenbefunde aus, wenn er in seiner letzten zusammenfassenden Schrift schreibt: ,.Es ist mög- lich, zu behaupten, wie einige Forscher tun, daß die Geschlechts- chromosomen nicht ein determinierender Faktor, sondern nur eine Begleiterscheinung des Geschlechts sind. Ich selbst betrachte sie auch nicht als Geschlechtsdeterminanten in irgendeinem exklu- siven Sinne. Ich sehe in ihnen nur ein Glied — vielleicht ein wesentliches — in einer Kette von Faktoren, durch welche das Geschlecht bestimmt und vererbt wird; und da sie die am meisten zugänglichen von diesen Faktoren sind, so müssen wir zum Zweck der Analyse unsere Aufmerksamkeit auf sie richten.“ Bei dieser Sachlage kann aber das eine schon jetzt als aus- gemacht betrachtet werden: Wenn man alle Einrichtungen, die zur Erhaltung der Art durch Zeugung im Pflanzen- und Tierreich dienen, überblickt, so sind viele derselben, abgesehen von der schon besprochenen experimentellen Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren, durch die Lehre von den Geschlechts- chromosomen nicht zu erklären. Dies gilt namentlich von dem bei Pflanzen und Tieren weit verbreiteten Hermaphroditismus. Denn wenn hier das befruchtete Ei einen vielzelligen Organismus entstehen läßt, der im Laufe seiner Entwicklung nebeneinander sowohl männliche wie weibliche Keimzellen her vor bringt, so muß es ohne Frage als noch geschlechtlich neutral bezeichnet werden. Hier können bei der Befruchtung weder die weiblichen noch die männlichen Keimzellen auf das Geschlecht determinierend einwirken, trotzdem eine Reduktionsteilung während der Ovogenese und Spermiogenese ebensogut bei hermaphroditen wie bei getrennt- sreschlechtlichen Arten beobachtet wird. Selbst für den Fall, daß bei einem Hermaphroditen zwei Arten männlicher Keimzellen sollten aufgefunden werden, würde sich dies für die Frage nach der Geschlechtsbestimmung nicht verwerten lassen. Denn mag das Ei von dieser oder jener Art derselben befruchtet werden, so besitzt doch in beiden Fällen der aus ihm entwickelte hermaphrodite Die Variabilität der Organismen. 305 Organismus die Fähigkeit, beiderlei Arten von Keimzellen hervor- zubringen. Ob hier oder dort sich die einen oder die anderen bilden, hängt von Bedingungen ab, die uns zurzeit wie in den meisten Fällen, in denen wir nach den Ursachen fragen, noch un- bekannt sind. Ebenso ist von vornherein eine Einwirkung der Samenfäden auf die Bestimmung des Geschlechts in den allerdings seltenen Fällen ausgeschlossen, in denen zweierlei Arten von Eiern im Ovarium ihren Ursprung nehmen, eine Art, die zu Weibchen wird, und eine andere, die schon vor der Befruchtung prädestiniert ist, sich zu Männchen zu entwickeln. Das bekannteste Beispiel (Fig. 38) hierfür liefert Dinophilus. Er legt Kokons ab, in denen sich neben den großen Eiern (?) auch auffallend kleinere (<3) befinden. Die einen werden, wie Korschelt festgestellt hat, zu Weibchen, die anderen zu den auch durch geringere Körpergröße ausge- zeichneten Männchen. Da die Größe der Eier schon im Ovarium vorher be- stimmt ist, kann die Befruchtung in diesem Fall keinen Einfluß mehr auf das Geschlecht ausüben. Ähnliche Ver- hältnisse sind auch bei einigen Rota- torien und Phylloxeraarten nachgewiesen worden. Bei letzteren werden beim Ein- tritt ungünstiger Ernährungsverhältnisse von einzelnen parthenogenetischen Weib- chen größere weibliche , von anderen kleinere männliche Eier gelegt. So der Bildung der Polzellen und der mit ihr sich vollziehenden Chromosomen Verteilung und vor der Befruchtung darüber ent- schieden und an der Eigröße zu erkennen, ob sich ein Männchen oder ein befruchtungsbedürftiges Phylloxeraweibchen bilden wird. Ein analoges Verhältnis, wie die Entstehung weiblicher oder männlicher Eier bei Jungfern weibchen, bieten uns die heterosporen Kryptogamen im Pflanzenreich dar. Bei ihnen entstehen auf ein und demselben Blatt zwei Arten von Sporen nebeneinander, die Makro- und die Mikrosporen; sie lassen sich den großen und den kleinen Eiern von Phylloxera und Dinophilus vergleichen. Die einen werden in besonderen Makrosporangien, die anderen in Mikrosporangien gebildet. Die Makrosporen geben weiblichen, die Mikrosporen männlichen Prothallien den Ursprung. Also auch in diesen Fällen O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Auf!. Fig. 38. Eikokon von Dino- philus apatris mit größeren Eiern (9), aus denen Weibchen, und mit kleineren Eiern (<3), aus denen Männchen hervorgehen. Nach Korschelt. ist auch hier schon vor 20 3o6 Achtes Kapitel. wird über das Geschlecht schon früh durch Faktoren entschieden, welche den sowohl Makro- wie Mikrosporen erzeugenden Or- ganismus treffen. Zugleich läßt sich auch aus diesen Befunden der Schluß ziehen, daß die bessere Ernährung des Eies (größere Eier von Dinophilus, von Rotatorien, von Phylloxera, Makrosporen der Kryptogamen) für die Bestimmung zum weiblichen Geschlecht von Einfluß ist. 2. Die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Polymorphismus im Tierreich. Außer dem Geschlechtsdimorphismus kommen im Tierreich und besonders häufig im Stamm der Arthropoden auch sehr inter- essante Eälle vor, die uns lehren, daß Repräsentanten derselben Art trotz gleicher Beanlagung uns im ausgewachsenen Zustand in einem sehr verschiedenartigen Gewand infolge wechselnder Einflüsse des Klimas, der Ernährung etc. entgegentreten. Auch hier können die Unterschiede zwischen zwei Individuen so groß werden, daß wir sie ohne Bedenken zu verschiedenen Arten, ja selbst Gattungen rechnen würden, wenn wir nicht von ihrer gleichen Herkunft unter- richtet wären. Hauptbeispiele dieser Art sind der Saisondimor- phismus der Schmetterlinge und der Polymorphismus gewisser Tier- stöcke, wie der Bienen, der Ameisen und der Termiten. Unter Saisondimorphismus der Schmetterlinge ver- steht man die Erscheinung, daß einige Arten in zwei, oft auffällig verschiedenen Formen Vorkommen, die nach den Jahreszeiten mit- einander abwechseln und daher als Winter- und als Sommervariante bezeichnet werden können. Die Winterform entwickelt sich aus Puppen, die überwintert haben, die andere aus Puppen, welche ihre ganze Entwicklung aus dem Ei, sowie auch die Raupen- und Puppenmetamorphose in den Frühjahrs- und Sommermonaten durch- machen. Die erste oder die Winterform hat daher ihre Flugzeit im Frühjahr, die zweite oder die Sommerform im Sommer und Herbst. Beide Formen sind in der Färbung und Zeichnung der Flügel bei manchen Schmetterlingsarten so verschieden voneinander, daß sie, wie z. B. bei Vanessa, als besondere Spezies (Fig. 39) beschrieben worden sind, bis die Kultur der einen Form aus den Eiern der anderen gelang. Ein Saisondimorphismus kommt vor bei Vanessa, bei Papilio Ajax, bei Autocharis, bei Lycaena, bei verschiedenen Pierisarten etc. Bei ihnen werden die Wintervarianten als Vanessa Levana (Fig. 39 A), Papilio Ajax Telamonides, Autocharis Belia, Autocharis Die Variabilität der Organismen. 307 Belemia, Lycaena Polysperchon, Pieris bryoniae beschrieben ; die zu ihnen gehörenden Sommervarianten sind Vanessa prorsa (Fig. 39 B), Papilio Ajax Marcellus, Autocharis Ausonia, Autocharis glauca, Lycaena Amyntas, Pieris napi. Die Ursache für die beiden Saison Varianten ist einzig und allein die sehr verschiedene Temperatur, unter welcher sich die Eier, Raupen, und Puppen entwickelt haben. Der unumstößliche Beweis für die Richtigkeit dieser Erklärung ist durch zahlreiche und zum Teil sehr umfangreiche Experimente von Dorfmeister, Weis- mann, Standfuss, Fischer etc. geliefert worden. Durch künst- liche Veränderung der Temperatur gelang es ihnen, aus Puppen, aus welchen die Sommerform hätte ausschlüpfen sollen, die Winter- form oder wenigstens Zwischenformen zwischen beiden, die allerdings in der Natur gewöhnlich nicht Vorkommen, künstlich zu züchten. Fig- 39- Vanessa Levana J. A Winterform, B Sommerform (Vanessa prorsa). (Aus Claus Grobben.) Noch interessanter als beim Saisondimorphismus sind die Va- rianten, auf denen der Polymorphismus mancher Tier- stöcke und die oft weit gediehene Arbeitsteilung zwischen ihren Individuen beruht. Am bekanntesten sind dieselben von den Bienen, Termiten und Ameisen und werden hier nach den Beobachtungen kompetenter Forscher, wie Emery, Grassi, Forel etc., haupt- sächlich durch verschiedene Ernährung während der Entwicklung verursacht. Wie schon seit langer Zeit den Bienenzüchtern bekannt ist, können sich aus den befruchteten Eiern der Königin entweder Arbeiterinnen oder wieder Königinnen entwickeln. Ihre Keiman- lage ist gleichsam nach zwei oder mehreren Richtungen eingestellt. Ob die aus der Anlage sich entwickelnde fertige Form in dieser oder jener Weise ausgeprägt wird, hängt, wie im Pflanzenreich bei den später zu besprechenden Standortsmodifikationen und den Varianten mit doppelter Anpassung, oder wie beim tierischen Saison- dimorphismus etc., von dem Eintritt bestimmter äußerer Faktoren ab, nämlich davon, in welche Zellen des Bienenkorbs die Eier ab- gelegt und in welcher Weise sie ernährt werden. In besonders 20 3°8 Achtes Kapitel. große Zellen (Weisel wiegen) gebracht und mit Königinnenfutter reichlich ernährt, werden die Eier zu Königinnen, dagegen zu Arbeiterinnen bei knapper Kost in engeren Zellen. Eine nach- trägliche Umwandlung von Arbeiterlarven in Königinnen ist sogar möglich, wenn ihnengnoch zeitig genug Königinnenfutter geboten und eine Umquartierung in größerG Zellen vorgenommen wird. Noch größer als bei den Bienen ist der Polymorphismus der Individuen im Termitenstaat (Fig. 40). Außer der Königin (2) und den Arbeitern (3) gibt es hier auch noch die Kaste der Sol- daten (4), welche an der Größe und besonderen Form ihres Kopfes und der Beißzangen leicht kennt- lich sind. Nach den Ermittlungen des italienischen Zoologen Grassi können die Termiten durch Ver- abreichung einer entsprechenden Nahrung Arbeiter und Soldaten je nach Bedürfnis züchten und ihre Zahlenverhältnisse regulieren ; ebenso haben sie es in ihrer Macht, die Geschlechtsreife anderer Individuen zum Ersatz von Ge- schlechtstieren in ähnlicher Weise zu beschleunigen. Auch die Arbeiterbildung bei den Ameisen erklärt Emery „aus einer besonderen Reaktionsfähig- keit des Keimplasma, welches auf die Einführung oder auf den Mangel gewisser Nährstoffe durch raschere Ausbildung gewisser Körperteile und Zurückbleiben anderer in ihrer Entwicklung antwortet. „Arbeiternahrung muß die Kiefer- und Gehirnentwicklung gegen die der Flügel und der Geschlechts- teile bevorzugen, Königinnennahrung umgekehrt.“ Um die Größe der während der Entwicklung entstehenden Formdifferenzen begreif- lich erscheinen zu lassen, ist auch nicht zu übersehen, daß eine Kor- relation zwischen der Verkümmerung der Geschlechtsdrüsen und der stärkeren Ausbildung des Kopfes stattfindet, geradeso wie bei den Wirbeltieren zwischen der Entwicklung männlicher oder weib- licher Geschlechtsdrüsen und der ihnen entsprechenden sekundären Sexualcharaktere. Es muß daher die von Emery^ ein geführte Bezeichnung Nahrungspolymorphismus zur Erklärung der verschiedenen Fig. 40. Termes lucifug'tis. Nach Leun is- Ludwig, i Geflügeltes Geschlechts- tier, 2 Weibchen nach Verlust der Flügel mit Resten derselben, 3 Arbeiter, 4 Soldat. Die Variabilität der Organismen. ßOQ Varianten, zu welchen sich die Termiten, Bienen und Ameisen ent- wickeln, als eine durchaus passende und zweckmäßige gelten. Zum Schluß des zweiten Abschnittes sei noch darauf hingewiesen, daß die Variabilität nur auf ein oder auf wenige Merkmale be- schränkt sein kann. Sie läßt sich gewöhnlich auf Ernährungsein- flüsse zurückführen. So erhalten der Gimpel und einige andere Vögel ein dunkles Gefieder, wenn sie mit Hanfsamen gefüttert werden. Bei Zusatz von rotem Pfeffer zur Nahrung färben sich die Federn bei Kanarienvögeln rötlich (Plate). Bei einigen Schmetter- lingsarten entstehen Varianten der Färbung, wie den Lepidoptero- logen bekannt ist, wenn die jungen Raupen auf verschiedenen Futterpflanzen gehalten werden. Alle diese Veränderungen kommen aber in den nächsten Generationen nicht wieder zum Vorschein, wenn nicht die gleichen äußeren Faktoren, durch die sie bei den Elterngenerationen hervorgerufen worden sind, auch auf die Tochter- und die Enkelgenerationen wieder einwirken. Es dürfen sich derartige Beispiele noch in größerer Zahl aus der Literatur zusammenstellen lassen; indessen reichen schon die angeführten vollständig aus, um uns auf dem vorliegenden Gebiet der Variabilität zu orientieren und um später zu einigen theoretischen Fragen, die sich bei ihrer Beurteilung erhoben haben, Stellung zu nehmen. 3. Die Standorts-, die Kultur- und Umschlagsvarianten (Modifikationen) im Pflanzenreich. Um das Verständnis der in der Überschrift aufgeführten Vari- anten der Spezies auf botanischem Gebiet hat sich Nägeli durch zielbewußte, über 12 Jahre (1864 — 76) ausgedehnte Kulturversuche an der artenreichen Familie der Hieracien ein hervorragendes Ver- dienst erworben. In seinem Werk über die mechanisch-physiolo- gische Theorie der Abstammungslehre hat er für sie den Ausdruck Standortsmodifikationen eingeführt und darunter solche Verände- rungen einer Spezies verstanden, die durch besondere äußere Ein- flüsse, durch Nahrung, Klima, Belichtung etc. hervorgerufen werden, aber nicht durch den Keim auf die Nachkommen übertragbar sind, sofern diese nicht wieder unter den entsprechenden Bedingungen des Milieu auf wachsen. Wenn dies indessen geschieht, kommen dieselben Veränderungen, die sich oft auf viele Eigenschaften und Merkmale erstrecken, auch bei ihnen wieder unfehlbar zum Vor- schein. 3io Achtes Kapitel. Alpenhieracien, die klein und einköpfig sind, nehmen, in den Garten verpflanzt, schon während des ersten Sommers den Habitus von Pflanzen der Ebene an und werden groß, verzweigt und viel- köpfig, so daß man sie oft kaum wieder erkennt. Sie behalten da- bei aber trotz ihres stark veränderten Habitus viele andere erbliche Merkmale ganz unverändert bei. Selbst der Eintritt ihrer Blüte bleibt in der Ebene trotz der veränderten Temperatur fast bis auf den Tag der gleiche wie im Gebirge. Werden dann im nächsten oder in einem noch späteren Jahre die im Garten veränderten Exemplare wieder in das Hochgebirge zurückversetzt oder auch nur auf einen mageren Kiesboden verpflanzt, so nehmen sie wieder ihren ursprünglichen alpinen Habitus an. Um den Formenwechsel hervorzurufen, ist es gleichgültig, ob man die ganzen Pflanzen ver- setzt und aus ihnen im nächsten Jahr sich neue Triebe entwickeln läßt, oder ob man aus dem gleichen Samen einer Mutterpflanze durch gleichzeitige Aussaat im Gebirge und in der Ebene die zwerghafte alpine und die üppige Gartenvariante zieht. Wie bei Hieracien ist Ähnliches auch bei vielen anderen Pflanzen beobachtet worden. In seiner Einführung in die experimentelle Vererbungslehre beschreibt Baur ein Beispiel aus den umfassenden Versuchen des Pariser Botanikers Gaston Bonnier. Wenn man von dem gemeinen, allbekannten Löwenzahn, Taraxacum dens leonis (Fig. 41), ein Exemplar in zwei Stücke schneidet und die eine Hälfte in das Hochgebirge, die andere in einen in der Ebene gelegenen Garten einpflanzt, so werden schon nach ein paar Monaten „die beiden Hälften sehr verschieden aussehen, so verschieden, daß man die beiden Individuen wohl kaum für die gleiche Spezies halten würde, wenn nicht ihre Geschichte bekannt wäre. Die Alpen- pflanze (M) wird zunächst nur 1j1Q so groß als die aus der Tief- ebene (P), aber auch die Form und der anatomische Bau der Blätter, die Art der Behaarung, die Blütenfarbe usw. werden ganz wesentlich verschieden. Wenn wir nun eine solche, im Gebirge völlig veränderte Pflanze wieder ausgraben und in die Ebene zu- rückbringen, so nehmen die hier neu zuwachsenden Teile ganz die alte uns vertraute Form wieder an.“ Auch wenn man vom Samen des in der Ebene gezogenen Löwenzahns einen Teil in der Ebene und einen Teil im Gebirge aussät, wird man die beiden äußerlich so verschiedenen Varianten erhalten; ebenso wird der Samen der Gebirgs Variante im anderen Jahr in die Ebene gesät wieder die dieser entsprechende Form liefern. Entsprechende Gegensätze zeigen das Edelweiß, Gnaphalium Die Variabilität der Organismen. 3 1 1 leontopodium oder das Helianthemum vulgare, das DE Vries als Beispiel bespricht und abbildet. Im Hochgebirge zeigen beide Fig. 41. Modifikationen vom Löwenzahn, Taraxacum dens leonis. Nach Bonnier aus Lang. P Exemplar aus der Ebene und M aus dem Gebirge, beide gleichmäßig verkleinert. Mv ist dasselbe Exemplar wie M in a/4 natürlicher Größe. Pflanzen einen ganz anderen Habitus als bei ihrer Kultur im flachen Lande. Derartige Beispiele lassen sich auf Grund der Ex- 312 Achtes Kapitel. perimente von Nägeli, von Bonnier, Klees u. a. in sehr großer Zahl zusammenstellen. In unserer kurzen Übersicht von lehrreichen Fällen soll auch eine sehr auffällige und interessante Ernährungsvariante nicht un- erwähnt bleiben, die von GöBEL in seiner Einleitung zur ex- perimentellen Mor- phologie der Pflan- zen beschrieben und abgebildet worden ist. Sie betrifft das bei uns weit ver- breitete Farnkraut, Polypodium vulgare. Dasselbe hat als Normalform einfach fiederteilige Blätter (Fig. 4 2 rechts). Es gibt aber auch häufig abweichende Modi- fikationen, „so z. B. die als P. cambricum und die als P. tricho- manoides (Fig. 42 links) bezeichnete Form. Diese hat dünne, viel reicher geteilte Blätter. Pflanzt man der- artige Pflanzen m einen trockenen, sterilen Boden und gibt den Töpfen einen un- geschützten Standort, so tritt nach kürzerer oder längerer Zeit die , normale* Blattform wieder auf; vielfach bilden sich auch Über- gangsformen.“ Wie durch Kultur im Gebirge oder im Flachland können auch sehr verschiedene Varianten ein und derselben Pflanzenart durch Anpassung an das Leben im Wasser oder auf dem Lande hervor- gerufen werden. In ihrem allgemeinen Habitus und in vielen auf- fälligen Zügen ihrer Organisation sind ja die Wasser- und die Land- pflanzen voneinander wesentlich unterschieden, was sich aus den Fig. 42. Polypodium vulg-are nach Göbel. Rechts : Blatt der „Normalform“. Links: Blatt der als „tricho- manoides“ bezeichneten Variante. Die Variabilität der Organismen. 313 andersartigen mechanischen, chemischen, thermischen und anderen Bedingungen des umgebenden Mediums, hier des Wassers, dort der Luft, erklärt. So sind bei Wasserpflanzen die mechanischen Gewebe gar nicht oder nur in viel geringerem Maße als bei Land- pflanzen entwickelt, weil Zweige und Blätter mit dem Wasser nahe- zu das gleiche spezifische Gewicht haben und flottierend aufrecht erhalten werden. Da Wasseraufnahme und Wasserabgabe bei ihnen in anderer Weise als bei Landpflanzen erfolgen, fehlen die saft- leitenden Gefäße oder sind wenig entwickelt, die Blätter sind zarter, mit dünner Cuticula. Ihr Bau wird statt dorsoventral mehr zu einem isolateralen. Nun gibt es auch eine Anzahl von Pflanzenarten (Mentha aqua- tica, Glechoma hederacea, Scrophularia , Polygonum amphibium), welche, in Sümpfen oder am Rand von Bächen und Flüssen wachsend, gelegentlich auch längere Zeit ganz in Wasser eingetaucht leben können; auch können sie künstlich unterWasser gezüchtet werden. Die unter Wasser entstandenen Teile dieser gewissermaßen akzi- dentellen Hydrophyten zeigen gleichfalls morphologische Abände- rungen mehr oder minder ausgeprägter Art; sie nähern sich der Struktur echter Hydrophyten und lassen sich als Zeugnisse für den um gestaltenden Einfluß des Wasserlebens und als Beispiele einer besonderen Art von Standortsvarianten verwerten. In besonders klarer Weise zeigt einen derartigen doppelten Gestaltungswechsel der Wasserknöterich (Polygonum amphibium). Nach der von DE Vries (Arten und Varietäten, p. 265) gegebenen Gegenüberstellung hat „die Wasserform flutende oder untergetauchte Stengel mit länglichen oder elliptischen Blättern, die kahl sind und lange Stiele haben. Die Landform ist aufrecht, fast unverzweigt, überall mehr oder weniger rauhhaarig; die Blätter sind lanzettlich und kurzgestielt, oft fast sitzend. Die Wasserform blüht regelmäßig ; der Blütenstiel geht rechtwinklig von den flutenden Stengeln ab ; die Landform sieht man gewöhnlich ohne Blütenähren.“ Den Um- schlag der einen in die andere Form hat der Botaniker Massart auch auf experimentellem Wege zustande gebracht. Wenn die Wasserform am Ufer gezüchtet wird, „bringt sie aufsteigende, be- haarte Stengel hervor und wenn die Triebe der Landform unter- getaucht werden, wachsen ihre Knospen zu langen, schlaffen Wasser- stengeln aus“. Pflanzenarten, die nach einer gewissen Regel und nach Art der zuletzt auf geführten Beispiele zwischen zwei extremen Formen, je nach den auf sie einwirkenden Faktoren, gleichsam hin und her 314 Achtes Kapitel. pendeln, werden in der Botanik auch als „beständig umschlagende Varietäten“ oder als Varianten „mit doppelter Anpassung“ be- zeichnet (de Vries). Nicht immer sind die unter dem Wechsel verschiedenartiger Bedingungen entstandenen Varianten in so auffälliger Weise in vielen Merkmalen und in ihrem ganzen Habitus verändert, wie in den aufgeführten Fällen. Zuweilen kann auch nur ein einziges Merkmal von der Anpassung betroffen werden, während sonst alles andere bei der Pflanze unverändert geblieben ist. Ein lehrreicher Fall dieser Art ist von Baur in seiner Einführung in die experi- mentelle Vererbungslehre, auch mit Rücksicht auf seine theoretische Bedeutung, ausführlich besprochen worden. Er betrifft eine Tempe- raturvariante der chinesischen Primel. Von der Primula sinensis unterscheidet man 3 Rassen, von denen die eine rot, die zweite blaßrot, und die dritte weiß blüht. Da das Merkmal: „rote oder blaßrote oder weiße Blütenfarbe“ konstant vererbt wird , müssen die drei Primelrassen als einfachste systematische oder als elemen- tare Arten beurteilt werden. Außer ihnen gibt es nun aber noch eine vierte abweichende Rasse, die Primula sinensis rubra.“ Sie bringt unter dem Einfluß verschiedener Temperatur bald rote, bald weiße Blüten hervor, wie der folgende Versuch lehrt. Man trennt junge Keimpflanzen von Primula sinensis rubra von gleicher Ab- kunft in 2 Gruppen. Die eine Gruppe bringt man einige Wochen vor Beginn der Blüte in ein warmes feuchtes, auf 30 — 35 0 ge- heiztes Gewächshaus, die andere Gruppe läßt man bei einer Tempe- ratur von 15 — 20° wachsen. Unter diesen besonderen Verhältnissen wird die erste rein weiße, die andere normal rote Blüten hervor- bringen. Noch deutlicher aber offenbart sich die Abhängigkeit ihrer Blütenfarbe von der Temperatur, wenn man bei 35 0 weiß blühende Exemplare bei 15 0 weiterzüchtet. Denn dann bleiben zwar, wie Baur mitteilt, „die vorhandenen weißen Blüten weiß, auch die in den nächsten Tagen sich öffnenden sind noch weiß, aber die sich später entwickelnden sind dann wieder ganz normal rot.“ Somit liegt hier in der wechselnden Blütenfarbe : rot resp. weiß bei ein und derselben Pflanze eine auf ein einzelnes Merkmal beschränkte Modi- fikation vor, veranlaßt durch die verschiedenartige Reaktion eines und desselben Idioplasma auf ungleiche thermische Einflüsse. Es ist dies um so bemerkenswerter, als andere entweder rot oder weiß blühende Primelrassen auch bei wechselnder Temperatur in ihrer Blütenfarbe ganz konstant bleiben. Die Variabilität der Organismen. 315 4. Die fluktuierenden Varianten1). Während die in den drei vorausgegangenen Abschnitten be- sprochenen hohen Grade der Variabilität, welche die Gestaltbildung auf das tiefste verändern können, im Organismenreich verhältnis- mäßig seltener sind, läßt sich fluktuierende Variabilität überall und zu jeder Zeit an jedem Lebewesen beobachten. Denn bei Ver- gleichung einer größeren Zahl von Individuen derselben Art kann der aufmerksame und wissenschaftlich geschulte Beobachter leicht nachweisen, daß kein Individuum dem anderen im mathematischen Sinne völlig gleich ist und ebenso kein Organ und kein Teil des- selben dem anderen. Überall und in jeder Hinsicht finden sich geringe Unterschiede in der Ausbildung der einzelnen Merkmale. Der hierfür gewählte Name der „fluktuierenden Variabilität“ ist daher ein sehr passender. Denn er bringt zum Ausdruck, daß bei Durchmusterung einer größeren Zahl von Individuen die zwischen einzelnen hervortretenden, größeren Differenzen eines Merkmals sich durch eine Reihenfolge fein abgestufter Übergänge, die sich bei anderen Individuen finden, überbrücken lassen. Ihr Studium ist für das Verständnis der Lebewesen nicht minder wichtig, als das Studium der anderen schon besprochenen Varianten. Die fluktuierende Variabilität ist zum Teil einer exakten Unter- suchungsweise zugänglich; sie läßt sich in vielen Fällen durch wägende, durch messende Methoden etc. mathematisch genau in Zahlen ausdrücken und berechnen. Sie ist daher auch in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand einer statistischen Wissenschaft gemacht worden, indem 1000 und Millionen Individuen einer Art oder geeignete Organe derselben gemessen, die Ergebnisse nach mathematischen Prinzipien zur Gewinnung allgemeiner Resultate oder Gesetze weiter verwertet worden sind. Sofern sich bei der fluktuierenden Variabilität die Untersuchung immer nur auf ein einzelnes Merkmal oder eine einzelne Eigenschaft erstreckt, die nach Zahl oder Größe oder Gewicht oder nach irgendeinem Inten- sitätsgrad variiert, lassen sich die untersuchten Objekte zu einer Reihe mit regelmäßiger Abstufung nebeneinander anordnen. An den Anfang und das entgegengesetzte Ende der Reihe kommen 1) Johannsen , W ., Elemente der exakten Erblichkeitslehre, Jena 1909. — Jennings, H. S. , Heredity and Variation in the simplest organisms. Am. Nat., Vol. J+8, 1909. — Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung , speziell über das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden. Verhandl. d. Deutsch. Zoolog. Gesellsch. in Frankfurt, 1909. 3i6 Achtes Kapitel. die Objekte zu stehen, welche die untersuchte Eigenschaft in dem geringsten und in dem höchsten Grad ihrer Ausbildung zeigen,, welche also z. B. am leichtesten oder schwersten, am kleinsten oder größten, am kürzesten oder längsten sind, oder in kleinerer oder größerer Zahl, in geringerer oder größerer Quantität und dergleichen mehr vertreten sind. Die bei der statistischen Untersuchung nach- gewiesenen Extreme der Reihe lassen sich dann durch eine Stufen- folge von Übergängen miteinander verbinden. Zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses (Fig. 43) hat de Vries die verschiedene Größe der Blätter von Prunus laurocerasus gemessen. Er fand ihre Länge zwischen 63 und 137 mm schwanken. Nach ihrer Größe, die über jedem Blatt durch die Zahlen 63 — 68 — 80 — 88 etc M Fig- 43- Variationsreihe in der Größe der Blätter von Prunus laurocerasus nach de Vries. M Mittel der Variationsreihe. angegeben ist, hat er sie geordnet und über einer horizontalen Linie parallel zueinander in einer Reihe und in gleichen Abständen auf- gestellt. Die Blattspitzen sind durch eine Linie untereinander ver- bunden, welche gebrochen und in der Fig. 43 etwas in die Höhe gerückt ist, um sie deutlicher zu zeigen. Wegen der Möglichkeit, die Ergebnisse in einer Linie anzu- ordnen, hat man die fluktuierende häufig auch als lineare Va- riabilität und ihre systematisch angeordneten Glieder als die einzelnen Varianten bezeichnet. Durch den Abstand zwischen Anfang und Ende der Reihe oder zwischen den beiden Extremen in denen das Merkmal ausgebildet ist, läßt sich der bei einer Unter- suchung nachgewiesene Umfang oder die Größe einer Variation, die sogenannte Variationsbreite, ausdrücken und zahlenmäßig berechnen. Wenn z. B. bei der Untersuchung der Blattgröße einer Pflanze für die längsten Blätter 20 cm, für die kürzesten 15 cm Die Variabilität der Organismen. 317 ermittelt werden, so beträgt in diesem Falle die Variationsbreite 20 cm — 15 cm = 5 cm. Es liegt auf der Hand, daß die Variationsbreite für die einzelnen Untersuchungsreihen Unterschiede darbieten und wesentlich von der Zahl der untersuchten Fälle abhän gen wird. Je nachdem 100 oder 1000 oder Millionen oder mehrere Millionen auf ihre Körperlänge gemessen werden, wird die Variationsbreite zunehmen müssen. Denn um so mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, daß unter ihnen noch be- sonders kleine Zwerge und besonders große Riesen aufgefunden werden und an die Enden der linearen Reihe noch als extremere Varianten hinzutreten. Im allgemeinen läßt sich auf Grund der Wahrscheinlichkeitsberechnung sagen: Je kleiner die Zahl der Be- Fig. 44. Die theoretische, ideale Variationskurve. Die Binomialkurve aus Jo- HANNSEN. obachtungen, um so weniger ist damit zu rechnen, unter ihnen auch die extremsten Fälle zu besitzen ; dagegen wird die Aussicht eine bessere, je mehr die Zahl der Beobachtungen zunimmt. Daher wächst auch die Variationsbreite proportional der Zahl der unter- suchten Fälle, so daß sie als ein festes Wertmaß nicht zu verwenden ist. Ein brauchbares Wertmaß ist dagegen das Mittel aller Va- rianten oder der arithmetische Durchschnittswert, welchen alle Messungen eines Versuchs ergeben (Fig. 43 M). Gewöhnlich wird dasselbe annähernd mit der Mitte der Variationsreihe zusammen- fallen. Wenn es mit der Zahl der Beobachtungen auch an Genauig- keit zunimmt, so wird es doch auch bei einer geringeren Zahl an- nähernd zutreffen. Das Mittel können wir als einen festen Punkt, um welchen sich die Varianten gruppieren, benutzen und zu ihrer Beurteilung verwerten. Wenn wir ihn als Nullpunkt (Fig. 44 6) be- o Achtes Kapitel. zeichnen, so können wir sagen, daß alle rechts von ihm gelegenen Varianten (-j- i, + +3) das Merkmal stärker, alle links von ihm gelegenen ( — i, — 2, — 3) schwächer, in allmählicher Abstufung nach beiden Richtungen, entwickelt zeigen ; oder anders ausge- drückt: die einen Varianten zeigen in bezug auf das Mittel oder den Nullpunkt eine positive, die anderen eine negative Abweichung, die einen sind Plusvarianten C-f-'i, +2, +3), die anderen sind Minusvarianten ( — 1, — 2, — 3); hierfür können auch die Bezeichnungen Plus- und Minusab weicher gebraucht werden. Durch ausgedehnte Untersuchungen, die auf diese Weise an sehr verschiedenen Objekten ausgeführt worden sind, hat man die wichtige Tatsache gefunden, daß die in großer Zahl gemessenen Objekte sich im allgemeinen nach einer ziemlich festen Regel auf die einzelnen Klassen der Varianten verteilen (Fig. 46 und 47) und zwar derart, daß ihre größte Zahl auf das Mittel der ganzen Reihe fällt, daß in den nächstfolgenden Klassen zu beiden Seiten des Mittels ihre Zahl kontinuierlich und ziemlich stark abnimmt, und daß die Klassen an den Enden der Reihen überhaupt nur wenige Exem- plare der größten Plus- und Minusabweicher erhalten. Die Klassen- ordinaten (Fig. 47 8 — 16 mm) zeigen daher eine sehr verschiedene Länge, wenn man die durch Messung erhaltenen Zahlengrößen auf ihnen einträgt. In der Mittelklasse (0) am längsten, werden sie bald nach links und nach rechts immer kürzer und erheben sich an beiden Enden (8 und 16) nur wenig über den Nullpunkt. Wenn daher die Enden aller Ordinaten durch eine Linie untereinander verbunden werden, entsteht eine regelmäßige, für jede Untersuchung charakteristisch geformte Variationskurve (Fig. 44 und 47). Auf der Abszisse kann man die Variationsbreite und die Werte der Variation für jede Klasse, sowie an der Länge der Ordinaten die auf jede Klasse entfallende Anzahl der gemessenen Individuen sofort ablesen. Die von der Abszisse und der Verbindungslinie der Enden der Ordinaten umgrenzte Figur heißt auch das V ariations- poly gon. Bei der Ausführung von Untersuchungen über fluktuierende Variabilität mit messenden und statistischen Methoden ist es not- wendig, um eine gute Übersicht über das untersuchte Material zu gewinnen, es nach dem Grade seiner Übereinstimmung in Klassen einzuteilen. Hierzu benutzt man entweder Maß- oder Gewichts- oder Zahleneinheiten. So werden z. B. alle Varianten, die durch Messung bestimmt werden, in Klassen eingeteilt, je nachdem ihre Länge (Fig. 47) zwischen 8 — 9, 9 — 10, 10— 11, 11 — 12, 12 — 13 mm Die Variabilität der Organismen. 319 und so fort schwankt. Also werden zu einer Klasse alle Individuen von 8 bis 8,9 mm, in der folgenden von 9 bis 9,9 mm etc. vereinigt. In derselben Weise wird bei Gewichtsbestimmungen verfahren, in- dem die Klassen nach Grammen oder Milligrammen eingeteilt werden. Bei Zählungen von Organen, die in Mehrzahl auftreten, werden die Klassen durch Zahlen bestimmt. Um sich ein über- sichtliches Bild über die so erhaltenen Ergebnisse zu verschaffen, ist die graphische Methode außerordentlich geeignet (Fig. 47). Man trägt die verschiedenen, in Klassen ein geteilten Varianten, oder wie sie häufig genannt werden, die Klassenvarianten, in ihrer entsprechenden Aufeinanderfolge als Abszissen auf eine horizontale Linie auf. Um die Zahl der gemessenen Objekte, welche auf jede Klasse fallen, graphisch zu veranschaulichen, errichtet man über J/0 Fig. 45. Paramäcien, die in einer Kultur in ihrer Größe von 45 — 310 jjl stark variieren, sind zu einer Variationsreihe zusammengestellt. Im Anschluß an Jennings aus Goldschmidts Vererbungswissenschaft. jeder Klasse vertikale Linien als Ordinaten, durch deren Länge die Zahl der Individuen ausgedrückt wird. Ehe wir auf die genauere Besprechung der Varationskurven, auf ihr Zustandekommen und auf ihre Erklärung näher eingehen, wird es sich empfehlen, zunächst einige genauer untersuchte Fälle in das Auge zu fassen. Diese sollen zugleich so ausgewählt werden, daß sie uns zeigen, wie sich die fluktuierende Variabilität in sehr verschiedener Weise äußert und statistisch untersuchen läßt. Daß schon einzellige Lebewesen in ihrer Größe stark variieren können, hat der amerikanische Zoologe Jennings in einer inter- essanten Experimentaluntersuchung an dem weitverbreiteten Infusor Paramaecium nachgewiesen (Fig. 45). Paramaecium läßt sich leicht in Heuinfusen jahrelang züchten und auch zur Anlage getrennter Reinkulturen benutzen, da es sich durch Teilung sehr rasch ver- mehrt und in kurzer Zeit eine große Nachkommenschaft hervor- bringt. Bei Messung zahlreicher Individuen einer Kultur konnte Jennings ganz überraschende Größendifferenzen zwischen den ein- zelnen Individuen nachweisen, auf der einen Seite kleinste Zwerge 320 Achtes Kapitel. von nur 45 Länge und auf der anderen Seite siebenmal größere Riesen von 310 [L Beide Extreme ließen sich durch alle möglichen Fig. 46. Fluktuierende Variabili- tät der Länge von Bohnen. Nach de Vries 450 Bohnen einer käuflichen Probe sind einzeln nach ganzen Milli- metern (8 — 16 mm) gemessen; die von gleichen Längen sind der Reihe nach in die gleichgroßen Abteilungen eines Glasgefäßes gefüllt. — Eine Verbindung der oberen Punkte der Füllung in jedem Fache ergibt eine Kurve, die der in Fig. 47 angegebenen entspricht und nur insofern einer Korrektur bedürfen würde, als die längeren Bohnen zugleich größer sind und ihre Fächer etwas zu hoch füllen. Zwischenstufen verbinden, so daß viele Messungen eine Variationsreihe lieferten, wie sie im Anschluß an Jennings in der Fig. 45 zusammen- gestellt ist. Die genauesten Beobachtungen über Variabilität in der Größe liegen wohl vom Menschen vor. Ein häufig zitiertes Muster einer exakt durch- geführten und durchgearbeiteten statistischen Untersuchung ist die grundlegende Arbeit von Quetelet, der nicht weniger als ca. 26000 nord- amerikanische Soldaten auf ihre Körperlänge gemessen hat. Auf Grund derselben hat er sie in ein- zelne Klassen eingeteilt, zwischen welchen die Differenz je einen eng- lischen Zoll beträgt. Die niedrigste Klasse beginnt mit 60 englischen Zoll = 1,549 m> die oberste Klasse enthält die längsten Männer von 76 Zoll = 2,007 m- Um die großen Zahlen zu vermeiden, hat Johannsen die Angaben von Quetelet auf 1000 Soldaten umgerechnet und zu folgender Übersicht zusammenge- stellt. In der obersten Reihe hat er die mit englischem Zoll bezeichneten Klassen der gemessenen Soldaten und darunter in einer zweiten Reihe die Zahlen zusammengestellt, wie sich die 1000 Soldaten auf die 17 Klassen verteilen. Länge in Zoll: 60 61 62 63 64 65 66 67 68 6970717273747576 Soldatenzahl 2 2 20 48 75 1 17 134 157 M0 121 80 57 26 13 5 2 1 (pro 1000) Aus unserer Übersicht läßt sich sofort erkennen, daß die meisten Individuen eine mittlere Größe besitzen und sich daher auf die Die Variabilität der Organismen. 32 I mittleren Klassen der Variationsreihe von 66, 67 und 68 Zoll ver- teilen. Die höchste Zahl von 157 trifft auf Klasse 67; diese kann daher als das Mittel der Variationsreihe bezeichnet werden und Mm 8 9 10 11 12 13 15 16 ß. 1 2 23 106 167 106 33 7 1 Mm —4 — 3 —2 — 1 0 + 1 + 2 + 3 + 4 Fig. 47. Fluktuierende Variabilität der Länge der Bohnen nach de Vries. Die graphische Darstellung bezieht sich auf dieselbe Messung und Zählung der Bohnen wie in dem durch Fig. 46 veranschaulichten Versuch. Eine horizontale Linie als Abszisse ist in 9 gleich große Abschnitte eingeteilt, entsprechend den 9 Reihen von Bohnen, die um je einen Millimeter, von 8 mm angefangen, bis zu 16 mm an Größe zunehmen. Die Bohnenlänge von 8 — 16 mm ist in der ersten Zahlenreihe unter der Abszisse ange- geben. Auf der Abszisse sind entsprechend jeder Bohnenreihe von 8 — 16 mm 9 Lote als Ordinaten errichtet, deren Länge der bei der Zählung ermittelten Anzahl der Bohnen von gleicher Länge proportional ist. Die Zahl der Bohnen in jeder Gruppe ist in der zweiten Reihe unter der Abszisse und bei den dazu gehörigen Ordinaten aufgeführt. Die durch Verbindung der Endpunkte der Lote entstehende gebrochene Linie entspricht ziemlich genau der Wahrscheinlichkeitskurve (a + b)n. Am Ende jeder Ordinate sind die Bohnen der entsprechenden Größe abgebildet. In der dritten Zahlenreihe unter der Abszisse ist 12 mm als das Mittel der Va r i a t i o n s r e i h e mit o bezeichnet und die Länge der Bohnenwerte als Minus- und Plusvarianten = — 1, — 2, — 3, — 4, o, +1, +2, +3, +4 aufgeführt. würde bei graphischer Darstellung mit Errichtung von Ordinaten den Gipfelpunkt der Kurve bilden. Auf die ersten und die letzten Klassen an den beiden Enden der Reihen kommen nur zwei oder ein einziges Individuum. Um die Mittelklasse finden sich die O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 21 322 Achtes Kapitel. übrigen zu beiden Seiten ziemlich symmetrisch verteilt in der Weise, daß die Zahl der Individuen nach den Enden zu in jeder Klasse allmählich abnimmt. Wie ganze Individuen, so können auch einzelne Organe, wenn sie in größerer Zahl an einem Individuum auf treten, wie Blätter, Blüten, Früchte etc. einer Pflanze, in ihren Dimensionen Variationen darbieten und sich zu einer regelmäßig abgestuften Reihe anordnen lassen. Sehr anschaulich ist eine von DE V RIES gegebene Darstellung von der fluktuierenden Variabilität der Länge von Bohnensamen. Von 450 Exemplaren einer käuflichen Probe wurden die Längen nach Millimetern gemessen. Sie wurden in 9 Klassen, die um 1 mm Länge von einander abweichen, eingeteilt und nach ihrer Länge in 9 röhrchenartige, gleich große, für die einzelnen Klassen bestimmte Abteilungen einer Glaswanne eingefüllt (Fig. 46). Die kleinsten Bohnen (Fig. 47) waren nur 8 mm, die größten 16 mm lang, die Mehrzahl zeigte die mittleren Maße. Bei ihrer Verteilung auf die 9 nebeneinander geordneten Röhrchen ergab sich ein an- nähernd ähnliches Verhältnis wie bei der Verteilung der Soldaten bei der Messung von Quetelet. Die meisten Bohnen und zwar 167 von den gemessenen 450 ergaben einen Mittelwert von 12 mm; sie füllten das für Klasse 1 2 bestimmte Röhrchen fast bis zum Rande aus. Die extremsten Minus- und Plusvarianten wurden nur durch ein einziges Exemplar repräsentiert. Zu beiden Seiten des Mittels findet sich der Rest der Bohnen ziemlich symmetrisch und in stark abfallender Zahl nach den Enden der Variationsreihe verteilt, auf der einen Seite 108— 23 — 2 — 1, auf der anderen Seite 106 — 33— 7 — 1. Ein Blick auf die in ihren einzelnen Abteilungen mit Bohnen gefüllte Glaswanne (Fig. 46) ergibt uns sofort die charakteristische Kurve des Variationspolygons. Da sie den einzelnen Abteilungen entsprechend Absätze zeigt, wird sie häufig auch als Treppenkurve bezeichnet. Das Resultat des Versuchs läßt sich übersichtlich auch in einer einfachen Kurve, wie in Fig. 47, oder wie bei Messung der Sol- daten durch Quetelet in 2 Zahlenreihen, die in Fig. 47 unter der horizontalen Abszissenlinie aufgeführt sind, in folgender Weise dar- stellen. Länge der Bohnen in mm 89 10 11 12 13 14 15 16 Verteilung der 450 Bohnen 1 2 23 108 167 106 33 7 1 auf die 9 Klassen. Die Variabilität der Organismen. 323 Entsprechend gestalten sich die Verhältnisse, wenn man die fluktuierende Variabilität im Gewicht eines Organs zum Gegen- stand statistischer Untersuchungen macht. Nehmen wir wieder zur Erläuterung den Bohnensamen nach einer Berechnung und Zu- sammenstellung von JOHANNSEN (1. c. p. 197). Es handelt sich in diesem Fall um eine reine Linie, da die nach ihrem Gewicht be- stimmten 533 Bohnen Nachkommen einer einzigen Mutterbohne sind. Sie wurden in 12 Klassen in der Weise eingeteilt, daß alle Bohnen, welche mehr als 20 cg und weniger als 25 cg wogen, eine Klasse bildeten, und nach diesem Prinzip weiter. Danach wogen die leichtesten Bohnen zwischen 20 und 25 cg, die schwersten zwischen 75 und 80. Die Verteilung der 533 Bohnen auf die 12 Gewichtsklassen ergibt sich dann aus folgender Zusammenstellung in den bekannten zwei Reihen: Klasseneinteilung nach Zentigramm 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Zahl der Bohnen von 3 9 28 51 in 174 101 44 6 o 1 5 jeder Klasse Auch in diesem Beispiel fällt wieder die bei weitem größte Zahl der Bohnen, nämlich 174, auf die Mittelklasse von 45 — 50 cg, um welche sich die übrigen Klassen symmetrisch mit rasch sinkender Zahl herumgruppieren. Wie schon früher erwähnt, kann die fluktuierende Variabilität auch in den Zahlen Verhältnissen, in denen gleichartige Organe bei Pflanzen und Tieren angelegt werden, zum Ausdruck kommen. So variieren oft in ziemlich weitem Umfang die Zahlen der Strahlen von Dolden oder der Strahlen blüten von Kompositen oder der Staub- gefäße oder der Blattpaare an gefiederten Blättern. Als Beweis hierfür diene die in hohem Grade fluktuierende Variabilität der Zahl der Randblüten in den endständigen Blütenständen von Chrysanthemum. Bei 1000 Individuen einer Lokalität beobachtete der Botaniker Ludwig folgende Verteilung auf 15 Klassen, bei denen das Unterscheidungsmerkmal die Zahl der Randblüten ist. Zahl der Randblüten in einem Blütenstand: in jeder Klasse 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21. Individuenzahl 1 6 3 25 46 141 529 129 47 30 15 12 8 6 2. in jeder Klasse Die prinzipielle Übereinstimmung mit den schon früher mitgeteilten Schemata, welche Maß- und Gewichtsverhältnisse betreffen, ergibt sich aus den obenstehenden zwei Zahlenreihen von selbst. Als eine 324 Achtes Kapitel. Besonderheit des vorliegenden Falles ist jedoch hervorzuheben, daß die Variationskurve eine sehr hochgipflige wird, wenn man das statistische Ergebnis graphisch darstellt (Fig. 48). Entfallen doch auf die Klasse 13, welche hier das Mittel darstellt, nicht weniger als 529 von den 1000 gezählten Individuen, während schon in der linken und rechten Nachbarklasse mit 12 resp. 14 Randblüten die Individuenzahl gleich auf 141 resp. 129 herabsinkt. Fig. 48. Eine hochgipflige Variationskurve (nach Ludwigs Zählungen der Rand- bltiten von Chrysanthemum segetum), mit der idealen Binomialkurve verglichen. Nach Johann sen. Nach denselben Prinzipien können viele andere Eigenschaften und Merkmale der Organismen, welche von einem Mittel aus ab- oder zunehmen und sich daher als Minus- oder Plusvarianten an- ordnen lassen, sofern sich irgendein Maßstab für ihre Messung oder eine zahlenmäßige Behandlung gewinnen läßt, zum Gegenstand entsprechender Untersuchungen und exakter Berechnungen ge- macht werden. Ich nenne nur die messende Analyse chemischer Eigenschaften, wie die Bestimmung des Zuckergehaltes der Zucker- Die Variabilität der Organismen. 325 rüben mittels des Polarisationsapparates nach der Methode, welche in der Zuckerindustrie und Rübenkultur zu so hoher Vollendung gebracht ist, oder die Bestimmung des Stärkegehaltes in der Kar- toffelknolle. Zum richtigen Verständnis und zur Erklärung der fluktuieren- den Variabilität ist es wichtig, in die Ursachen ihrer Entstehung einen Einblick zu gewinnen. Hierbei müssen wir auch wieder die schon früher (S. 294) besprochenen zwei Gruppen von Ursachen, welche die Verschiedenheiten der Individuen einer Art bewirken können, scharf auseinander halten. Die eine Gruppe umfaßt die erbliche Veranlagung der einzelnen Individuen für die bessere oder schlechtere Ausbildung einer Eigenschaft, also Ursachen, die in der Konstitution der Artzelle und ihres Idioplasmas gegeben sind. Daß solche bestehen, wurde schon früher (S. 288) auf Grund der Unter- suchungen von JOHANNSEN über die „reinen Linien“ nachgewiesen. Dort wurde auch die Methode besprochen, wie man durch zielbe- wußte Kulturversuche den erblichen Faktor bei der Beurteiluno- eines Gemisches ungleich beanlagter Individuen erkennen und für andere Fragen ausschalten kann. Erst wenn dies geschehen ist, gewinnt man ein richtiges Bild von der zweiten Gruppe der Faktoren, welche allein als die eigent- lichen Ursachen der fluktuierenden Variabilität betrachtet werden können. Es sind die Bedingungen der Außenwelt, welche auf die erblichen Anlagen des Keims während ihrer Entwicklung in ungleicher Weise ein wirken. Sie sind für die Entwicklung eines Keimes ebenso notwendig, wie die ererbten An- lagen, und jedenfalls für seine definitive Ausgestal- tung mehr oder minder mitbestimmend. Am häufigsten fällt hier für die fluktuierende Variabilität eine Eigenschaft, die Er- nährung des Keimes während seiner Entwicklung, ins Gewicht. Bessere oder schlechtere Ernährung aber beruht auf einem großen Komplex der verschiedenartigsten zusammenwirkenden Faktoren sowohl bei Pflanzen wie bei Tieren: auf der Qualität, Quantität und Mischung der verschiedenartigsten Nahrungsstoffe, auf Faktoren, welche ihre Aufnahme, Verarbeitung und Ausnutzung begünstigen, auf Temperatur Verhältnissen, Licht, Klima, Jahreswechsel, Feuchtig- keit und Trockenheit, mit einem Wort, auf einer Summe von Be- dingungen, welche man als die Beschaffenheit des Milieu oder als die wechselnde Konstellation der äußeren Faktoren zusammenfassen kann. x\m leichtesten lassen sich alle diese Verhältnisse bei Pflanzen 326 Achtes Kapitel. untersuchen. Daher sind auch diese mit Recht für das Studium der fluktuierenden Variabilität am meisten benutzt worden. Wenn wir wieder zum Versuch eine Bohnenpflanze wählen, die während mehrerer Generationen durch Selbstbefruchtung reingezüchtet, eine ., reine Linie“ darstellt, so können die von ihr geernteten Samen als gleich beanlagt angesehen werden. Bei ihrer Benutzung zum Studium der fluktuierenden Variabilität kann daher der Erblich- keitsfaktor nicht mehr den Ausfall des Experiments in verschiedenem Sinne beeinflussen. Wenn dennoch die auf einem Versuchsbeet ausgesäten Samen Keimpflanzen liefern, die gewisse Unterschiede in Größe, Zahl der Blätter und Blüten voneinander darbieten und hierbei auch Unterschiede in der Zahl, der Größe und dem Gewicht der geernteten Bohnen erkennen lassen, so können die Ursachen hierfür nur in der Konstellation der Außenbedingungen zu suchen sein. Eine einfache Überlegung lehrt, daß letztere für alle auf einem Beet ausgesäten Bohnen nie genau die gleichen sein werden. So kann die Düngung an einzelnen Stellen des Beetes eine bessere oder schlechtere, auch die Mischung der Düngemittel eine verschie- dene sein ; dort ist der Boden fester, hier mehr aufgelockert ; beim Begießen fällt die Befeuchtung des Beetes nicht nur in einzelnen Abschnitten, sondern auch an einzelnen Tagen ungleich aus, und hierdurch können für die Entwicklung der gleichzeitig gesteckten Bohnen die mannigfaltigsten Kombinationen entstehen. Denn zu den verschiedenen Zeiten des Wachstums übt der Mangel oder ein reichlicher oder mittlerer Grad von Feuchtigkeit einen sehr ver- schiedenen Einfluß auf das Gedeihen aus. Hiermit verbinden sich noch viele andere förderliche oder hinderliche Momente, wie die Belichtung des Beetes, welche durch ungleiche Beschattung von Nachbarsträuchern und Bäumen eine verschiedene sein kann, oder eine an einzelnen Stellen auftretende Entwicklung von Unkräutern, die Nahrung und Feuchtigkeit den Versuchspflanzen entziehen, oder eine ungleiche Verteilung der Bohnen bei der Aussaat, wodurch die einzelnen Keimlinge eine ungleich große Bodenfläche zur Aus- bildung ihres Wurzelwerkes zur Verfügung haben. Dazu kommt noch, worauf de Vries mit Recht aufmerksam macht, daß einige Samen an feuchten und dungreichen Stellen früher keimen, während ihre Nachbarn wegen lokaler Trockenheit oder wegen ihrer Ent- fernung vom Dünger mehr oder weniger verspätet nachfolgen. Die Keimung zu verschiedenen Zeiten kann dann aber wieder neue Konstellationen in den Entwicklungsbedingungen zur Folge haben. Denn einige Keime kommen an sonnigen Tagen an das Licht und Die Variabilität der Organismen. 327 ihre ersten Blätter wachsen rasch, während für andere, später nach- folgende Keimlinge das Wetter ungünstig sein und das Wachstum sehr verzögern kann. Zur Zeit, wo die Bohnensamen sich ausbilden, hönnen wieder neue Faktoren sich geltend machen. Als einen solchen führt Baur die iVnzahl der Bohnen auf, die sich in einer Hülse entwickeln, und diese hängt wieder von der Zahl der Eizellen ab, die durch Pollenkörner befruchtet werden. „Ist in einer Hülse nur eine Eizelle befruchtet, so wird diese Bohne besser ernährt und größer werden , als wenn mehrere Eizellen befruchtet worden wären. Ein anderer Ernährungsfaktor ist die Zahl der Blätter, die zur Ernährung dieser Hülse dienen, und solche Zufälligkeiten, die alle die Größe einer Bohne beeinflussen, gibt es eine sehr große Zahl.“ Den Fall der Bohnenentwicklung habe ich mit Rücksicht auf die Abhängigkeit von äußeren Faktoren etwas eingehender ana- lysiert, um zu zeigen, wie die fluktuierende Variabilität zum Teil auf vielen anscheinenden Kleinigkeiten beruht, die in ihrer ver- schiedenartigsten Kombination das Endergebnis bestimmen. Ihre Kombination aber hängt wieder, wie man gewöhnlich sagt, von reinen Zufälligkeiten ab. Daher kann auch hier zur Be- rechnung des Gesamtergebnisses die Wahrscheinlichkeits- rechnung herangezogen werden. Wie bei den oben gegebenen statistischen Zusammenstellungen des in verschiedenen Richtungen gemessenen Beobachtungsmaterials sich die auf gefundenen Varianten um einen Mittelwert gruppieren, auf den die größte Zahl der Indi- viduen entfällt, und wie sich in bezug auf dieses Mittel alle Ab- weicher als Plus- und Minusvarianten unterscheiden lassen, so werden wir auch für die ursächliche Erklärung dieses Verhältnisses anzu- nehmen haben, daß die Mittel Varianten unter einer mittelgünstigen Konstellation aller Faktoren entstanden sind, während die extremsten Varianten auf das Zusammentreffen besonders ungünstiger, resp. günstiger Umstände zurückzuführen sind. Wir können daher auch, wenn wir den Mittelwert als o setzen, von Plus- und Minuskon- stellationen sprechen und ebenso jeden einzelnen äußeren Faktor, je nachdem er die Entwicklung um den Mittelwert nach der positiven oder negativen Seite beeinflußt , als fördernden oder hemmenden Entwicklungsfaktor bezeichnen und dementsprechend mit dem Plus- (+) oder Minuszeichen (— ) versehen. Auf Grund solcher Erwägungen hat Baur (1. c. S. 10) eine Berechnung der Zahl der Konstellationen an gestellt, die sich bei Annahme von nur fünf Faktoren ergeben. Da jeder Faktor, auf 328 Achtes Kapitel. den Mittelwert bezogen, fördernd oder hemmend wirken kann, so werden die Plus- und Minusfaktoren mit den großen und kleinen Buchstaben des Alphabets, also die einen als A, B, C, D, E, die anderen als a, b, c, d, e bezeichnet. Es ergeben sich dann, wenn die einzelnen Faktoren voneinander ganz unabhängig sind, 32 ver- schiedene Kombinationen derselben, von denen jede eine besondere Bedingungskonstellation darstellt, die nicht nur möglich ist, sondern auch die gleiche Wahrscheinlichkeit für sich hat. „Wenn wir eine große Zahl, wie 1000 Bohnen, betrachten, dann können wir er- warten, daß etwa je V32 sich unter einer von diesen verschiedenen Konstellationen entwickelt hat. Nehmen wir nun ferner einmal der Einfachheit halber ganz willkürlich an, jeder der günstigen Faktoren A, B, C, D, E, bedeute eine Verbesserung der Bedingungen um -j- 1 (mache etwa eine Bohne um 0,1 mm länger) und jede der ungünstigen P'aktoren bedeute eine Verschlechterung um — 1, so ergeben die 32 möglichen Kombinationen folgende „Werte der Be- dingungskonstellationen“ : ABCDE = +5 ab c d e = — 5 A B C D e oder A B C d E usw. = +3 a B c d e oder a b C d e usw. = —3 A B C d e oder A B c D e usw. = + 1 a B C d e oder a B c D e usw. = — 1 In der Gesamtsumme der 32 möglichen Kombinationen erhalten wir „die Werte +5 und — 5 nur je einmal, -j-3 und — 3 je fünf- mal, -f- 1 und — 1 je zehnmal, d. h. also Bedingungskonstellationen, die extrem-günstig (Wert -f- 5) oder solche, die extrem-ungünstig sind (Wert — 5), kommen nur einmal vor. Konstellationen dagegen, in denen sich die günstigen und ungünstigen Einflüsse nahezu die Wage halten (Wert — j— 1 , — 1), kommen zehnmal vor. Und je ex- tremer ein Konstellationswert wird, desto seltener kommt er vor.“ Nach der schon öfters angewandten graphischen Darstellung (Fig. 44) kann man auf Grund dieser Zahlenwerte sich eine Kurve konstruieren, die zu den früher beschriebenen Kurven über die Verteilung der gemessenen Bohnen nach ihrer Größe oder nach ihrem Gewicht ein Pendant bildet. Auf Grund der schon erwähnten Annahme, daß von 1000 Bohnen sich ungefähr gleich viele unter je einer von den 32 verschiedenen Bedingungskonstellationen ent- wickeln müssen, läßt sich dann weiter folgern, daß von den 1000 Bohnen »j Vi 32 unter der extrem günstigen Konstellation -f- 5> und ebenso 1/S2 unter der extrem ungünstigen Konstellation — 5 auf- Die Variabilität der Organismen. 329 gewachsen sein muß, da diese Konstellationswerte ja nur je einmal Vorkommen. Dagegen müssen V32 sich unter den Konstellations- werten —f— 3, bzw. — 3 entwickelt haben, da ja nur 5 der möglichen Kombinationen diese Werte aufweisen, und endlich müssen je 10/b2 der Bohnen sich unter den Konstellationswerten -f- 1 bzw. — 1 ent- wickelt haben, die je 10 mal Vorkommen“. Demnach würden sich die 1000 Bohnen nach dem „Werte der Bedingungskonstellationen“ in den Zahlenverhältnissen 31,25 156,25 312,5 312,5 156,25 31,25 1 000,00 auf die einzelnen Ordinaten der Kurve verteilen. Die Auseinandersetzungen Baurs können wir zum Schluß mit seinen eigenen Worten in den allgemeinen Satz zusammenfassen, der eine Erklärung für die Verteilungs weise der Bohnen und anderer fluktuierender Varianten gibt: „Da extrem günstige Bedingungs- konstellationen ebenso selten sind, wie extrem ungünstige, und die Konstellationswerte um so häufiger Vorkommen, je mehr sich die günstigen Faktoren und die ungünstigen die Wage halten, ist zu erwarten, daß auch extrem große und extrem kleine Bohnen sehr selten sein werden, und daß die verschiedenen, dazwischenliegenden Bohnengrößen um so häufiger Vorkommen, je weniger extrem sie sind, d. h. je mehr sie sich dem Mittel nähern.“ Bei der Besprechung der fluktuierenden Variabilität habe ich mich bisher darauf beschränkt, verschiedene Untersuchungsreihen und die Zahlenwerte, die durch sie für die Gruppen der einzelnen Varianten ermittelt wurden, mitzuteilen. Auch die Methode, die Ergebnisse graphisch durch Kurven darzustellen, wurde besprochen. Bei der genaueren Betrachtung der einzelnen Zahlenreihen und einer Vergleichung derselben untereinander wird sofort auffallen, daß sich in ihnen eine gewisse Gesetzmäßigkeit unschwer erkennen läßt. Schon Quetelet war bei seiner berühmten statistischen Untersuchung auf sie aufmerksam und dadurch zur Aufstellung des nach ihm benannten QuETELETschen Gesetzes geführt worden. Dasselbe sagt aus, daß die gesetzmäßige Verteilung der verschie- denen Varianten um ein Mittel in der Variationsreihe im großen 330 Achtes Kapitel. und ganzen der NEWTONschen Binomialformel (a + b)n ent- spricht. Dieselbe ist ein sehr einfacher mathematischer Aus- druck für das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Da für das Verständnis der fluktuierenden Variabilität die Statistik mit ihren mathematischen Methoden in den letzten Jahr- zehnten durch die bahnbrechenden Arbeiten von Quetelet, Galton, Da YENPORT, Pearson, Johannsen u. a. eine große Bedeutung ge- wonnen hat, sei auch auf diese mathematische Richtung biologischer Forschung noch etwas näher eingegangen, wobei wir indessen eine nähere Erörterung von Fragen der höheren Mathematik vermeiden werden. Wer eine solche sucht, findet sie in dem grundlegenden Werk von Johannsen und zum Teil in Goldschmidts Lehrbuch der Vererbungs Wissenschaft. Die Ausführung der binomischen Formel (a + b)n ergibt: (a + b)1 = a + b (a-fb)2= a2 + 2ab + b2 (a + b)3 — a3 + 3a2b + 3ab2 + b3 (a + b)4 = a4 + 4a3b + 6a2b2 + 4ab3 + b4 usw. — (a + b)n. Wenn man nun für jeden Buchstaben den Zahlen wert i setzt, so erhält man folgende Auflösungen: (a + b)£= i + i (a + b)2 = i +2 + i (a + b)3 = i + 3 + 3 + i (a + b)4 = i + 4 + 6 + 4 + i etc. etc. (a -f-b) IO= i + io + 45 + 1 20 + 2 io + 252 + 2 10-f- 120 + 45 + 10+1. In den früher mitgeteilten, empirisch ermittelten Werten für die Variantenreihen in verschiedenen Fällen fluktuierender Variabilität wurde eine sehr ähnliche symmetrische Verteilung der Zahlen um ein Mittel aufgefunden. Es ist geradezu überraschend, zu sehen, wie weit die Übereinstimmung zwischen den Berechnungen der ab- strakten Mathematiker und den empirischen Feststellungen geht. Um dies dem Leser zu zeigen, seien zwei Beispiele: Quetelets Messungen an Soldaten und Johannsens Messungen an Bohnen, noch einmal angeführt. Hierbei ist unter die wirklich gefundenen Zahlen werte der Variationsreihe die berechnete ideale Zahlenreihe gesetzt : Größe der Soldaten in Zoll 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 Zahl d. Soldaten pro 1 000 2 2 20 48 75 1 1 7 134 157 140 121 80 57 26 13 5 2 I Theoretische Zahlen 5 9 21 42 72 107 137 153 146 121 86 53 28 13 5 2 o Die Variabilität der Organismen. 331 Das zweite Beispiel betrifft die Variation des Gewichts von 533 Bohnen einer reinen Linie nach Johannsen : Klasseneinteilung 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 cg Zahl der Bohnen 3 9 28 51 in 174 101 44 60 1 5 Theoretische Zahlen 2 8 29 7 1 117 132 100 5 2 1 ^ 4 Um die Wirkungen des Zufalls mit ihrer Gesetzmäßigkeit zu veranschaulichen, hat der englische Forscher Galton einen Apparat, der auch als Kinderspiel bekannt ist, konstruiert. Dieser besteht, wie Fig. 49 zeigt, aus einem flachem, etwas schräg gestellten Kasten, der an seinem unteren Rand durch verti- kale Leisten in 17 gleichgroße Fächer abgeteilt ist. In einer darüber gelegenen Zone sind viele Nadeln in Reihen mit regelmäßigen Abständen so angebracht, daß die Nadeln jeder Reihe genau in der Mitte der Zwischenräume der folgenden Reihe stehen. Im obersten Bezirk findet sich zur Aufnahme kleiner Schrotkörner ein trichterförmiger Raum A mit einer kleinen Öffnung B, durch welche die Schrotkörner einzeln nach unten hinab- rollen und hier in die mit Nadeln be- deckte Zone geraten. Bei jedem Anstoß an eine Nadel haben sie die gleiche Chance, entweder nach rechts (+) oder nach links (— ), wie es der Zufall trifft, abgelenkt zu werden. Wären die Nadeln nicht als Hindernis im Wege, so müßten alle Schrotkugeln durch die Trichter- öffnung in das gerade darunter gelegene Fach fallen. Indem sie aber an die Nadeln anstoßen, findet durch Kombination der zahl- reichen sich ergebenden Möglichkeiten nach dem Zufallsgesetz eine ungleiche Verteilung statt. Da die Wahrscheinlichkeit am geringsten ist, daß die Schrotkörner beim Anprall an einen Stift immer in der gleichen Richtung, sei es nach rechts (+), sei es nach links ( — ), abgelenkt werden, so muß das Endergebnis sein, daß nur sehr wenige Kugeln in die äußersten Fächer geraten, die meisten sich in der Mitte ansammeln und die übrigen sich nach links und rechts davon in abnehmender Zahl verteilen. Die gefüllten Fächer geben dann das Bild einer „Treppenkurve“, wie sie auch schon früher (Fig. 46) für die statistischen Messungen beschrieben wurde. mm Fig. 49. Galtons Apparat zur Erläuterung der Ursachen der Wahrscheinlichkeitskurve, aus Baur. 332 Achtes Kapitel. Durch den GALTONschen Apparat wird uns die Zufallskurve ad oculos demonstriert. Sie zeigt uns, wie Johannsen (1. c. p. 3g) dazu ausführt, „daß bei einer Reihe von Einzelwirkungen, von Zu- fälligkeiten, welche ebenso häufig in einer Richtung wirken können wie in der entgegengesetzten, die schließlichen Resultate, falls sie überhaupt in Zahlen auszudrücken sind, sich in einerWeise gruppieren, welche der Binom ialformel entspricht. Was für derartige aufeinander- folgende Einzelwirkungen, wie im Stecknadelapparat, gilt, hat offen- bar auch Geltung*, wenn die Wirkungen so kurz nacheinander folgen, daß sie gleichzeitig werden. Die Zeitfolge ist hier nicht das Maß- gebende. Das Wichtigste ist das Zusammenwirken, das Zusammen- treffen zahlreicher voneinander unabhängiger und in entgegenge- setzten Richtungen ziehender Einwirkungen. Jede für sich wird eine geringe Verschiebung hervorrufen können, und im großen und ganzen heben sie sich auf.“ So entstehen die Mittelwerte sowohl der Zufallskurven wie der empirisch festgestellten Variationsreihe. Die in entgegengesetzten Richtungen (-J ) ziehenden Einwirkungen (Faktoren) „müssen aber auch in einer gewissen Zahl der Fälle so Zusammentreffen, daß nicht nur geringere, sondern auch ab und zu größere Verschiebungen in der einen oder der anderen Richtung daraus resultieren“. Hieraus erklären sich die Plus- und Minus- varianten in den abfallenden Schenkeln der Zufallskurve mit den Zahlen Verhältnissen, die der Binomialreihe in so auffälliger Weise gleichen. In meiner Darstellung der fluktuierenden Variabilität habe ich solche Untersuchungen herausgegriffen, welche eine große Überein- stimmung der empirisch ermittelten mit den theoretisch berechneten Zahlen der Binomialformel darbieten. Abgesehen davon, daß der- artige Untersuchungen überhaupt noch spärliche sind und zu allge- meinen Schlüssen von weittragender Bedeutung nicht berechtigen, darf nicht unerwähnt bleiben, daß nicht selten auch abweichende Kurven von anderem Charakter erhalten worden sind, für welche die für die Zufallskurve gemachten Voraussetzungen nicht ganz zu- treffen. Die Entwicklungsbedingungen der Organismen sind so komplizierter Art, daß wir sie kaum übersehen und in ihrem Zu- sammenwirken richtig abschätzen können. Starke Begünstigung eines Faktors, wie sie sich auf experimentellem Wege erreichen läßt, kann eine wesentliche Modifikation der Kurve mit mehr oder minder beträchtlichen Abweichungen von der Zufallskurve hervor- rufen. Der Mittelwert kann viel größer ausfallen, als es die theo- retische Berechnung verlangt. Wir erhalten dann eine sogenannte Die Variabilität der Organismen. 333 hochgipfelige Kurve. Eine solche wurde schon in unseren Bei- spielen (Fig. 48) mitaufgeführt ; sie wurde erhalten bei der Zählung der Randblüten in den Blütenständen von Chrysanthemum segetum. Der Mittelwert von 13 Randblüten wurde hier bei 52g Individuen gefunden, während nach der Binomialformel nur die Zahl 243 er- wartet werden sollte. Er ist daher mehr als doppelt so hoch, und da bei der graphischen Methode der Mittelwert die Höhe der Kurve bestimmt, so wird die Kurve ausnehmend hochgipfelig im Vergleich zur idealen Zufallskurve und fällt zu beiden Seiten steil ab. . Fig. 50. Zyklomorphose cler Helmhöhe und Stachelläng-e von Hyalo- daplinia im Anschluß an Wesenberg-Lund nach Woltereck aus Goldschmidt. In anderen Untersuchungen hat die Kurve ein asymmetrisches Bild ergeben, indem der Mittelwert, der den Gipfel bestimmt, mehr oder minder weit nach einer Seite verschoben ist. Nicht seltene Ab- weichungen sind auch Kurven mit zwei und mehreren Gipfeln, oder mit einem Hauptgipfel, neben welchem sich kleinere Gipfel zu beiden Seiten bemerkbar machen. In vielen Fällen werden dieselben auf den Umstand zurückzuführen sein, daß die gemessenen Individuen verschiedenen Rassen oder reinen Linien, die durcheinander ge- mischt sind, angehören und, da sie sich um zwei oder mehr Mittel- werte herumgruppieren, die abnorme Kurvenbildung* verursacht haben. Auch in der Vermischung von verschiedenen Altersklassen derselben Art kann die Abweichung ihre Efklärung finden (Sum- mations- und Sammelkurven). Es liegt hier die Möglichkeit vor, durch strenger durchgeführte Analyse des Untersuchungsmaterials eine Trennung der ungleichwertigen Individuen in zwei oder mehr Gruppen nachträglich herbeizuführen und auf diesem Wege anstatt der zweigipfeligen zwei normale Kurven zu gewinnen. 334 Achtes Kapitel. Wie auf experimentellem Wege einzelne Faktoren in den Be- dingungskonstellationen stärker zur Geltung gebracht und dadurch die Kurven eines Versuchs erheblich verändert werden können, so geschieht dies in der Natur zuweilen auch periodisch und ruft eigen- tümliche Formen der fluktuierenden Variabilität hervor. In dieser Beziehung können in manchen Fällen die Einflüsse der Jahreszeiten von großer Bedeutung werden. Ein schönes Beispiel hierfür liefert die von Woltereck genauer studierte Zyklomorphose von Hyalodaphnia. Diese kleine Süßwassercrustacee pflanzt sich auf parthenogenetischem Wege fort und liefert vom Frühjahr bis Herbst sehr zahlreiche, aufeinanderfolgende Generationen, die in ihrem Habitus im Frühjahr, Sommer und Herbst sehr verschieden aus- sehen. Es ist nämlich ihre Kopf- und Helmhöhe, die auf einem verschieden starken Auswachsen der Scheitelzellen der Larve beruht, in den Frühjahrsmonaten eine sehr geringe, steigt dann bei den Sommergenerationen um mehr als das Doppelte und sinkt dann bei den Nachkommen im Herbst wieder auf die im Frühjahr gegebene Norm zurück. In demselben Sinne variiert der am anderen Ende des Körpers gelegene Schwanzstachel in seiner Länge. Infolge dieser nach der Jahreszeit fluktuierenden Variabilität lassen sich die Varianten zu einer Reihe zusammenstellen, wie sie uns die Fig. 50 zeigt. In diesem Falle ist das ungleiche Wachstum von Kopf- und Schwanzstachel, wie die Experimente von WöLTERECK lehren, auf die Ernährung zurückzuführen, deren Intensität von der geringen Temperatur des Wassers im Frühjahr und Herbst und der viel höheren Temperatur im Sommer abhängig ist. Zum Schluß sei endlich noch auf die besonderen Schwierig- keiten aufmerksam gemacht, welche dem Studium der fluktuieren- den Variabilität dadurch entstehen, daß sich häufig eine reine Trennung der äußeren Faktoren, auf deren Wirksamkeit sie doch allein beruht, von erblichen Faktoren entweder nicht oder nur durch umständliche Kulturversuche herbeiführen läßt. Es ist dies nament- lich bei solchen Organismen schwierig, die sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, und bei denen künstliche Befruchtung mit Schwierigkeiten, wie bei den Säugetieren, verbunden ist, oder bei denen durch mehrere Generationen durchgeführte Inzucht die ganze Konstitution schwächt. Bei geschlechtlicher Fortpflanzung handelt es sich aber, namentlich bei den höheren Organismen, immer um eine Verbindung von Individuen, die mehr oder minder verschieden erblich beanlagt sind. Für eine statistische Untersuchung der fluk- tuierenden Variabilität liegt daher kein gleichartiges Material vor, Die Variabilität der Organismen. 335 da die zu erklärenden Verschiedenheiten nur zum Teil auf äußeren Faktoren, zum Teil aber auch auf einer ungleichen erblichen Be- anlagung der Individuen beruhen. So ist — wie wohl von vorn- herein anzunehmen ist — die von Quetelet erhaltene Varianten- reihe der gemessenen Soldaten nicht nur durch fluktuierende Varia- bilität, sondern auch durch kaum davon zu trennende Momente der ungleichen Anlage der zahlreichen Individuen verursacht. Nicht minder stellt die Nachkommenschaft, die aus einem käuf- lichen Bohnengemisch gezogen wird, kein erblich gleichartiges Unter- suchungsmaterial dar. Daher gewinnt man bei der Messung oder Wägung der Samen verschiedener Pflanzen ebenfalls nur eine Sammel- oder Summationskurve, zu deren Zustandekommen außer äußeren auch erbliche Faktoren beigetragen haben. Es ist ein großes Verdienst von Johannsen, durch gründliche Studien, über welche Näheres schon auf S. 286 — 293 mitgeteilt worden ist, diesen Um- stand erkannt und durch seine Kultur der reinen Linien zugleich die Methode ausgearbeitet zu haben, wie man beim Studium der fluktuierenden Variabilität die inneren von den äußeren Faktoren trennen und aus der Sammelkurve die Kurven der reinen Linien isolieren kann. 5. Die monströsen Varianten. (Bildungsanomalien und Monstrositäten). Den stärksten Beweis für die Macht, mit der äußere Einflüsse auf die Gestaltungsprozesse einzuwirken vermögen, liefern die Bil- dungsanomalien und Monstrositäten. Sie stellen eine fünfte Gruppe der durch äußere Faktoren hervorgerufenen Variabilität der Orga- nismen dar und lassen sich als Varianten definieren, die, durch Be- einflussung früher und frühester Stadien pflanzlicher und tierischer Entwicklung entstanden, den Charakter des Normwidrigen, ver- bunden mit funktionellen Störungen, an sich tragen. Es kann als ein allgemein biologisches Gesetz gelten, daß ein Organismus auf äußere Einflüsse um so mehr durch Veränderungen, die in seiner Körperform sichtbar werden, reagiert, je jünger er ist; oder in anderer Weise ausgedrückt: Merkmale, Formen und Strukturen, die bereits aus einer Anlage entwickelt worden sind, lassen sich entweder gar nicht oder nur in einem geringeren Grade und dann nur in einer ganz bestimmten Richtung durch äußere Faktoren modifizieren, während dieselben Reize, auf die unent- wickelte Anlage angewandt, oft in sehr tief eingreifender Weise Achtes Kapitel. 336 ihre Ausgestaltung verändern. Ein abgelaufener Prozeß kann durch äußere Eingriffe meist nicht wieder rückgängig gemacht, nicht mehr modifiziert, nicht wieder von neuem begonnen werden. Daher muß mit Recht als die vorzugsweise geeignete Periode, in der die Or- ganismen auf äußere Reize durch Mißbildungen reagieren, die Zeit ihrer frühesten embryonalen Stadien bezeichnet werden. Da die Entwicklung, namentlich bei den höheren Tieren, in einer Kette zahlreicher Veränderungen besteht, von denen die eine die andere zur Vorbedingung hat, so läßt sich leicht verstehen, daß gewöhnlich jede Störung in den Systembedingungen (vgl. Kap. V) sich bei der Gestaltung des Endproduktes um so stärker geltend machen muß, je früher sie erfolgt. Denn Veränderung in einem Glied der Kette muß, wenn ein Ausgleich nicht möglich ist, Veränderungen in allen nachfolgenden, von ihm abhängigen Gliedern bedingen, so daß schließlich, wie bei der Entstehung einer Lawine, oft kleine Ür- sachen in ihrer Potenzierung große Wirkungen haben. Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Pflanzenreich. Bei den pflanzlichen Bildungsanomalien tritt der Charakter der Störung oder der Abweichung vom physiologisch Normalen viel weniger als bei den Tieren hervor. Es hängt dies mit ihrer viel einfacheren Organ- und Strukturbildung zusammen. Daher denn auch die Entwicklung nicht in dem Umfang, wie bei den hoch- org-anisierten Wirbeltieren, aus ihrem normalen Gleise gebracht werden kann. Im Zusammenhang hiermit ist bei den Pflanzen die Zahl der Mißbildungen eine viel geringere als bei den Tieren und zumal den Säugetieren', bei denen fast jedes Organ oft in mehr- facher Weise seinen Beitrag zur Teratologie liefert. Zugleich machen auch die Bildungsanomalien bei weitem nicht den abstoßenden Ein- druck wie bei den Tieren und zeigen viel weniger für uns den Charakter des Naturwidrigen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Im Gegenteil tragen sie sogar in Gelen Fällen, wie bei den ge- füllten Blüten, zur Steigerung der Formenschönheit zahlloser Kultur- rassen bei und erregen hier unser besonderes Wohlgefallen. Am häufigsten werden im Pflanzenreich Bildungsanomalien bei den Blüten der Phanerogamen vorgefunden und lassen hier den Charakter der funktionellen Störung in dem Verlust des Geschlechtsapparates am klarsten zutage treten. Seltener betreffen sie Stengel und Blätter. Bildungsanomalien der Blüten kommen in verschiedenen Formen als Petalodie, als Petalomanie und als Pistillodie vor. Die Variabilität der Organismen. 337 Unter Petalodie versteht man die Umwandlung von Staub- gefäß* Anlagen in Kronenblätter. Durch diesen Vorgang entstehen die gefüllten Blüten, wie sie vielen Zierpflanzen eigentümlich sind und bei Rosen, gefüllten Tulpen, Levkojen, Mohn und vielen anderen derartigen Rassen beobachtet werden. Durch die Anomalie wird die Funktion der Blüte, männlichen Samen hervorzubringen, ent- weder vollkommen zerstört, wenn alle Staubfäden von der Um- Fig- 52- Fig. 53- Fig. 51. Papaver somniferum polycephalum mit vollem Kranz in Pistille umgewandelter Staubgefäße. Nach Masters aus de Vries. Fig 52. Fapaver somniferum polycephalum mit wenigen in Pistille umgewandelten Staubgefäßen. Fig. 53. Linaria vulgaris (Leinkraut) mit verbänderten, blühenden Stengeln, nach DE Vries. Wandlung betroffen worden sind, ' oder sie wird wenigstens sehr stark beschränkt, wenn die Umwandlung, wie in vielen Fällen, nur eine teilweise ist. Dann finden sich neben den in Kronenblätter umgewandelten auch noch normal entwickelte Staubgefäße in mehr oder minder großer Anzahl oder alle möglichen Übergangsformen zwischen beiden derart, daß einzelne Staubfäden trotz ihrer be- ginnenden Verbreiterung zu Blättern noch einige mit Pollenkörnern gefüllte Staubbeutel tragen. Den höchsten Grad der Petalodie stellt die Petalomanie O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 22 338 Achtes Kapitel. vor, die bei einigen Kulturrassen von Ranunculus, von Anemonen, von Caltha palustris etc. beobachtet wird. Hier bringen die Blüten- sprosse niemals Stempel und Staubgefäße hervor, sondern produ- zieren nur Blumenblätter in fast unbegrenzter Zahl und Aufeinander- folge. Da solche Pflanzen vollkommen unfruchtbar sind, bleiben sie als Rasse nur in solchen Fällen erhalten, in denen eine Ver- mehrung auf außergeschlechtlichem Wege durch Zwiebeln, Knospen* Stecklinge usw. möglich ist. Eine der seltensten und merkwürdigsten Bildungsanomalien bei Pflanzen ist die Pistillodie, die Metamorphose der männlichen in weibliche Fortpflanzungsorgane (Stempel). Sie kommt zuweilen beim Mohn (Papaver somniferum) vor (Fig. 51 und 52). Hier ist auch ihre Entstehung einem eingehenden Studium von DE VRIES unterworfen worden. Im Umkreis des normalen Fruchtknotens werden die Staubgefäße der innersten Reihe in geringerer oder größerer Zahl in kleine Nebenpistille umgewandelt. „Die Verände- rung betrifft“, wie DE Vries mitteilt, „sowohl den Staubfaden, wie den Staubbeutel, von denen der erstere zu einer Scheide ausgedehnt wird. Innerhalb dieser Scheide können vollkommene und mehr oder weniger zahlreiche Samenknospen entstehen. Die Staubbeutel werden rudimentär, und an ihrer Stelle werden breite, blattartige Lappen entwickelt, welche sich seitlich von der Spitze ausstrecken und die Narben bilden. Gewöhnlich sind diese umgewandelten Organe unfruchtbar, aber in einigen Fällen wird eine geringe Menge von Samen hervorgebracht.“ Aus diesen konnte sogar DE Vries bei der Prüfung- ihrer Variabilität einige Pflanzen auf ziehen. Da gewöhnlich die äußeren Staubgefäße normal und fruchtbar bleiben, bringt die von der Pistillodie betroffene Blüte, wenn der innen ge- legene, normale Hauptstempel mit eigenem Pollen befruchtet wird, eine ebenso reiche Samenernte, wie andere Mohnpflanzen. Eine eigentümliche, aber im ganzen selten auftretende Mon- strosität ist die Zwangsdrehung der Stengel. Sie ist ge- legentlich bei der wilden Karde (Dipsacus silvestris), beim echten Baldrian (Valeriana officinalis) etc. beobachtet worden und besteht darin, daß der Hauptstengel, anstatt normal geradegestreckt zu sein, um seine Längsachse stark gedreht ist. Infolgedessen ist er verkürzt und um ein Mehrfaches verdickt. Der ganze Wuchs der Pflanze und die Stellung ihrer Blätter wird dadurch beeinflußt. Derartige monströse Exemplare fallen durch ihre viel geringere Größe gegenüber normal gewachsenen Individuen auf. Viel häufiger als die Zwangsdrehung erfahren die Stengel Die Variabilität der Organismen. 339 eine abnorme Verbänderung oder Fasziation (Fig. 53). Während sie an ihrer Basis zylindrisch sind, beginnen sie sich nach den Enden zu allmählich abzuplatten und bandartig zu werden. Dabei ist häufig der Endabschnitt durch ungleichförmiges Wachs- tum wie ein Hirtenstab umgekrümmt, oder er ist seiner Länge nach verschieden weit nach unten gespalten. Als Beispiele einer der- artigen Bildungsanomalie können der Hahnenkamm (Celosia cristata), Linaria vulgaris (Fig. 53), Chrysanthemum. Leucanthemum etc. dienen. Von Bildungsanomalien der Blätter seien noch die Albicatio und die Panachure, die auf fehlerhafter Ausbildung des Chlorophyll- apparates beruhen, und die Becherbildungen erwähnt. Letztere finden sich zuweilen bei der Linde und Magnolie etc. und äußern sich darin, daß einzelne Blätter eine Becher- und Tütenform an- nehmen infolge einer teilweisen Verwachsung ihres dem Stiel zu- nächst gelegenen Randes. Die Verwachsung erfolgt schon bei der ersten Anlage. Auf die Mißbildungen bei Pflanzen, deren Aufzählung sich noch um einige weitere, wie Pelorien etc., vermehren ließ, wurde an dieser Stelle eingegangen, weil sie uns auch die Abhängigkeit der Form- bildung von äußeren Faktoren erkennen lassen. Denn daß solche dabei im Spiele sind, läßt sich schon insofern vermuten, als die ver- schiedenen Bildungsanomalien bei allen wilden Arten nur sehr selten an getroffen werden. Sie sind fast ausschließlich den Kulturpflanzen eigentümlich und auf die bei der Kultur vorhandenen abnormen Er- nährungsverhältnisse zurückzuführen. Auch hierfür sind schon viel- fache Beweise auf experimentellem Wege von verschiedenen Pflanzen- physiologen — ich nenne nur Klebs und DE Vries — beigebracht worden. Klebs hat in langjährigen Versuchen die Erscheinungen der Variabilität an mehreren Sempervivum arten studiert und konnte an diesen sonst typisch blühenden Individuen durch bestimmte Kultur- methoden die Mehrzahl der überhaupt bei den Phanerogamen be- obachteten Blütenanomalien künstlich hervorrufen. DE Vries hat sich, veranlaßt durch seine Studien über Mutation, auch mit der experimentellen Erzeugung verschiedener Bildungs- anomalien, wie mit der oben erwähnten Pistillodie des Mohns be- schäftigt. Diese kehrt bei der Aussaat der Samen einer Mutter- pflanze, welche Pistillodie ihrer Blüten dargeboten hatte, immer nur bei vereinzelten Nachkommen in mehr oder minder ausgeprägter Form wieder. Die in der Anlage der Samen hier schon vorhandene, aber latente Neigung zur Anomalie konnte DE Vries durch ver- 22 340 Achtes Kapitel. änderte Kulturbedingungen, welche auf eine intensivere Ernährung hinwirkten, zur wirklichen Entfaltung bringen. Solche Kulturbe- dingungen sind: i) dichtere oder weitere Aussaat der Samen, 2) in- tensive Düngung, 3) Aufzucht der Keimlinge unter starker Belich- tung oder im Schatten. In zwei Gartenbeeten von je einem Quadrat- meter Umfang wurden 500 Mohnpflanzen in dem einen, 150 in dem anderen unter möglichst gleichen Bedingungen gezogen. Im ersten Fall waren 360 Exemplare fast ohne Pistillodie, und nur 10 ent- wickelten einen vollen Kranz von Nebenpistillen. Auf dem anderen Beet dagegen lieferten 150 Exemplare 32 anormale Formen mit einem vollen Kranz von Nebenpistillen, fast 100 mit einem halben Kranz und nur 25 Individuen waren anscheinend ohne Monstrosität. Um den Einfluß der Düngung festzustellen, wurde ein und dieselbe Samenprobe in 3 gleiche Teile getrennt und von diesen ein Drittel auf reich gedüngten Boden, das zweite Drittel auf ein nicht vorbe- reitetes Beet des Gartens und das dritte auf fast reinen Sand aus- gesät, sonst aber möglichst unter den gleichen Bedingungen auf- gezogen. Von den gedüngten Pflanzen gab die Hälfte volle Kränze, von den nicht gedüngten nur ein Fünftel und auf dem Sandboden eine noch geringere Zahl. Durch noch intensivere Düngung mit Hornmehl, das an stickstoffhaltigen Bestandteilen reich ist, konnte die Zahl der Individuen mit stark ausgeprägter Pistillodie in anderen Versuchen bis auf 90 Proz. hinaufgetrieben werden. Wie es in den Versuchen von KLEBS und auch hier keinem Zweifel unterliegen kann, geben äußere Faktoren der verschiedensten Art, indem sie namentlich in den frühesten Entwicklungsstadien auf die Bildung der Knospen einwirken und besonders die Er- nährung beeinflussen, den Anstoß zu allen verschieden abgestuften abnormen Modifikationen. Sie müssen somit als ihre unmittelbare äußere Ursache angesehen werden. Der ursächliche Zusammenhang ist ein ähnlicher wie bei den Standortsmodifikationen, oder wie beim Polymorphismus der Bienen, Termiten und Ameisen, bei denen er schon ausführlicher erörtert wurde. II. Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Tierreich. Wie groß und zahlreich dieselben beim Menschen sind, von dem man sie am besten kennt, lehrt schon ein flüchtiger Blick in ein größeres Lehrbuch der Mißbildungen oder ein Rundgang durch die betreffende Abteilung eines gut ausgestatteten pathologisch- anatomischen Museums. Beim Menschen läßt sich die Frage, auf welche Ursachen derartige abnorme Produkte der Entwicklung Die Variabilität der Organismen. 341 zurückzuführen sind, auf experimentellem Wege nicht aufklären. Wohl aber lassen sich durch ausgedehnte Tierversuche die Wege feststellen, auf denen in der Natur die Entstehung von Mißbildungen zustande kommen kann. Schon liegen solche Versuche in der Lite- ratur in nicht geringer Anzahl vor, teils von Wirbellosen, teils aus der Klasse der Fische, der Amphibien, der Vögel und der Säuge- tiere. Sie lehren, daß Störungen der Entwicklung des Eies aus chemischen Ursachen wohl die häufigsten sind, daß aber auch an- dere Ursachen, wie mechanische, thermische etc., in Frage kommen können. Ich beschränke mich darauf, einige Beispiele von Bildungs- anomalien kurz zu besprechen, die durch Einwirkungen auf den Entwicklungsprozeß befruchteter Eier leicht und sicher erhalten werden können1). Der Zoologe Herbst hat durch einen auf befruchtete Seeigel- eier angewandten chemischen Eingriff die normale Umwandlung der Keimblase in die Becherlarve auf die Dauer unmöglich gemacht und dadurch tiefgehende bleibende Modifikationen der ganzen späteren Entwicklung hervorgerufen. Der Eingriff besteht im Zusatz geringer Mengen von Lithiumsalz zum Meerwasser (auf 1940 ccm Meerwasser 60 ccm einer 3,7-proz. Lithiumsalzlösung in Leitungswasser). Infolgedessen wird derjenige Bezirk der Keim- blase, welcher bei normalem Verlauf zum Darm wird, anstatt in die Blastulahöhle eingestülpt zu werden, in entgegengesetzter Rich- tung nach außen als Fortsatz her vor getrieben. Wenn jetzt die Lithiumlarven, wie sie Herbst im Hinblick auf ihre Entstehungs- ursach§ genannt hat, zu geeigneter Zeit wieder in reines Meer- wasser zurückgebracht werden, so bleibt der Darm nach außen hervorgestülpt, der übrige Körperteil aber beginnt die für die Pluteusform charakteristischen Veränderungen zu erleiden und die Arme, den Wimperring, Mesenchym und Kalknadeln zu ent- wickeln. Um diese Reaktion zu erzielen, muß das Lithiumsalz auf die Eier während der ersten Entwicklungsstadien einwirken. Eier, welche auf späteren Furchungsstadien oder als junge Blastulae 1) Herbst , Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß der veränderten chemischen Zusammensetzung des umgebenden Mediums auf die Entwicklung der Tiere. Mitt. aus der Zool. Stat. zu Neapel, Bd. XL — Hertwig, Oscar , Die Entivicklung des Froscheies unter dem Einjluß schwächerer und stärkerer Kochsalzlösung. Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. XLIV, 1895. Derselbe, Experimentelle Et zeugung tierischer Mißbildungen. Festschr. f. K. Gegenbaur, 1896. — Sloclcard , Ch.f The artificial pro- duction of a single median cyclopean eye in the fish embryo etc. Arch. f. Entwicklung s- mech., Bd. XXIII , 1907 etc. 342 Achtes Kapitel. noch in der Eihülle in die Lithiummischung gebracht werden, er- leiden nicht mehr die oben beschriebene Veränderung. Von besonderem Interesse sind die Bildungsanomalien der Wirbel- tiere; manche von ihnen treten in den verschiedensten Klassen, wie bei Fischen, Amphibien, Vögeln, Säugetieren, infolge des ge- meinsamen Grundplanes ihrer Organisation in ähnlicher Weise auf und kommen sogar beim Menschen vor. Eine derartig weitver- breitete Mißbildung ist die sogenannte Spina bifida, eine par- tielle, am häufigsten in der Lendengegend bestehende Spaltbildung der Achsenorgane, des Zentralnervensystems und der Wirbelsäule. Sie bietet ein besonderes morphologisches Interesse dadurch dar, daß sie auf einer abnormen Ursache beruht, die sehr früh im Ent- wicklungsleben einsetzt, nämlich auf einer Störung in der Anlage des Urmunds, eines der zuerst sich bildenden Organe des Wirbel- tierkörpers. Am leichtesten kann man eine Spina bifida bei Froscheiern durch die verschiedensten künstlichen Eingriffe hervorrufen. In- folge derselben wandelt sich die Keimblase nicht in normaler Weise in die Gastrula um; es nimmt der Urmund eine über- mäßige Ausdehnung an und wird durch einen Riesendotterpfropf offen gehalten. Der exzentrische Verschluß des Urmundes unter- bleibt entweder ganz oder teilweise. Wegen dieser Hemmung kommt es nur zu einer teilweisen Ausbildung der embryonalen Rückengegend. Trotzdem gehen die Differenzierungsprozesse in dem Zellenmaterial der Urmundränder, welche den Rücken durch ihre Verwachsung hätten bilden sollen, weiter vor sich (Fig. 54 und 55). Dadurch entsteht jetzt auf der rechten und linken Seite des Urmundrings je eine halbe Medullarplatte (Fig. 55 mp), je eine halbe Chordaanlage (cA), je eine Reihe von Ursegmenten (mk), von denen sich die quergestreifte Muskulatur des Rückens herleitet. Der Darm bleibt daher, soweit als die Urmundränder nicht mitein- ander haben verschmelzen können (Fig. 55), in der Medianebene des Rückens geöffnet, und da er auf den frühen Entwicklungs- stadien der Amphibien mit Dotterzellen angefüllt ist, bilden diese zwischen den getrennt gebliebenen Hälften der Achsenorgane einen weißlichen Pfropf, der nach außen wie ein Hügel hervortritt. Gewöhnlich wird diese hochgradige Störung im weiteren Fort- gang der Entwicklung mehr oder minder ausgeglichen, oder wie man auch sagen kann, nach der Norm hin reguliert. Es wachsen nämlich die getrennt gebliebenen beiden Rückenhälften noch nach- träglich in der Weise, wie es die Urmundränder bei normalem Ver- Die Variabilität der Organismen. 343 läuf tun, von links und rechts über den Dotterpfropf einander ent- gegen und beginnen dann auch von vorn nach hinten in der Medianebene zu verschmelzen, linke mit rechter Rückenmarkshälfte, linke mit rechter Chordahälfte (Fig. 57). Zuweilen aber erhalten sich Fig. 54 Fig. 55- Fig. 54. Mißgebildeter Froschembryo mit hochgradiger Urmundspalte» vom Rücken aus gesehen. Nach O. Hertwig. k Kopf, kd Eingang in die Kopf- darmhöhle, ur Urmundrand, ar Afterrinne, d Eingar g in den Enddarm. Fig- 55- Querschnitt durch das hintere Drittel des Rumpfes der in Pig. 54 abgebildeten Mißbildung. Nach O. Hertwig. mp Medullarplatte, v Verbindungsstelle der Medullarplatte mit dem Dotter, ch Chorda, ml mittleres Keim- blatt. Fig. 56. Fig. 56. Ältere Mißbildung von Rana fusca mit Urmundspalte vor dem Schwanzende. Nach Hertwig. k Kopf, d Dotterpfropf, ur Urmundrand, ar Afterrinne, n Naht. Fig. 57. Querschnitt durch eine ältere Mißbildung von Rana fusca mit Urmundspalte etwas vor dem Dotterpfropf. Nach Hertwig. ch Chorda, d Darm, us Ursegment, wg WoLFFscher Gang, v Verbindung zwischen beiden Rücken- markshälften (mr). Reste der ursprünglich über ein größeres Rückengebiet ausgedehnten Spaltbildung (Fig. 56), und zwar meist in der späteren Lendengegend vor dem Beginn des Schwanzendes. Indem wir die Spina bifida auf den gestörten Verschluß des embryonalen Urmundes haben zurückführen können, bietet sie uns ein interessantes Beispiel für die Gruppe der sogenannten Hemmungsmißbildungen, zu denen der größte Teil der Bildüngs- ariomalien der Wirbeltiere hinzuzurechnen ist. Wie im Namen so 344 Achtes Kapitel. passend ausgedrückt ist, besteht ihre Eigentümlichkeit darin, daß durch eine von außen gesetzte Störung dieser oder jener Ent- wicklungsvorgang nicht seinen normalen Abschluß hat finden können und durch seine „Hemmung“ eine mehr oder minder auf- fällige Abweichung von der Norm, also eine „Hemmungsmißbildung“ geliefert hat. In dieselbe Kategorie gehören, um aus der großen Zahl nur einige zu nennen, die Lippen-, die Kiefer- und die Gaumen- spalte, oder die Fissura sterni, die Atresia pupillae congenita, der Uterus duplex usw. Ich schließe hieran noch zwei künstlich erzeugte Bildungsano- malien von eigentümlicher Art an. Die eine betrifft noch einmal das Frosch- oder Axolotlei, die andere das Fischei. Eier vom Frosch, Axolotl etc. liefern eine Mißbildung, die in der pathologischen Literatur als Anencephalie und H e m i - kranie bekannt ist, stets dann, wenn sie sich während der ersten Stadien des Furchungsprozesses anstatt in gewöhnlichem Leitungs- wasser in Wasser entwickeln, dem o,6 bis 0,7 Proz. Kochsalz hinzu- gesetzt ist (Fig. 58 — 60). Es ist überraschend, zu sehen, was für eine große Störung eine Kochsalzlösung, welche man gewöhnlich wegen ihrer Unschädlichkeit als physiologische zu bezeichnen pflegt, dennoch zu verursachen imstande ist, wenn sie im geeigneten Zeit- punkt der Entwicklung angewandt wird. In diesem Falle sind es besonders die zur Anlage der nervösen Substanz dienenden Teile des äußeren Keimblattes, welche durch den chemischen Eingriff intensiv geschädigt werden. Auch wenn die Eier nach Ablauf des Furchungsprozesses aus der 0,6-proz. Kochsalzlösung wieder in reines Leitungs wasser übertragen werden, beginnt sich die Schädi- gung doch an der Nervenplatte, nachdem sie im weiteren Verlauf entstanden ist, geltend zu machen. Gewöhnlich wird, wenn ein gewisser Grad der Schädigung nicht überschritten ist, von ihr nur ein kleiner Bezirk betroffen, der dem dritten bis fünften Hirn- bläschen entspricht. Derselbe bleibt flach ausgebreitet (Fig. 58—60), anstatt sich rechtzeitig zum Rohr zu schließen, wie es in der Rücken- marksgegend und auch ganz vorn an der Hirn platte geschieht. Er hat also auch in der Weise, die bei der Spina bifida als verhin- derter Urmundschluß besprochen wurde, eine Art Wachstums- hemmung erfahren. Die nicht zum Verschluß gelangten Abschnitte der Nervenplatte zeigen später Zerfallserscheinungen und sind außerstande, Nervensubstanz zu bilden. Die in der Entwicklung von Frosch und Axolotl während des Furchungsprozesses erzielte Wirkung einer sonst gewöhnlich in- Die Variabilität der Organismen. 345 differenten Kochsalzlösung ist eine so gleichmäßige, daß fast alle zum Versuch verwandten Eier, seien es ioo oder mehr, fast den- selben Befund darbieten. Auch in der Teratologie des Menschen gehören Monstra mit Anencephalie und Hemikranie zu den häufi- geren Befunden. Auf einer Störung in der Hirnentwicklung beruht auch eine eigentümliche Mißbildung, die gleichfalls beim Menschen vorkommt, Fig. 58. Fig. 59. Fig. 58 Embryo von Rana fusca mit Anencephalie. Nach O. Hertwig. Der vom Rücken aus gesehene Embryo entstammt einem Ei, das nach der Befruchtung in einer 0,6-proz. Kochsalzlösung vom 10. — 14. März gezüchtet wurde.. Die Anlagen der dritten bis fünften Hirnblase haben sich nicht zum Rohr geschlossen, sondern bilden eine offene Hirnplatte ( hp ), die von einem Saum der Epidermis s umgeben ist. > Fig. 59. Embryo vom Axolotl mit Anencephalie und einzelnen Spalten im Medullarrohr. Nach O. Hertwig. Das Ei wurde vom 26. Nov. bis 4. Dez. in einer 0,6-proz. Kochsalzlösung gezüchtet, hp offene Hirnplatte, r Rinne zwischen beiden Hälften derselben, s Hautsaum, mrl, mr 2 zwei Spalten im Nervenrohr, sch Schwanzhöcker. Fig. 60. Querschnitt durch die unentwickelt g-ebliebene Hirnanlage des in Eig\ 59 abgfebildeten Embryos in der Geg-end des Ohrbläschens. Nach O Hertwig. hp Hirnplatte, r mediane Rinne derselben, ch Chorda, s Saum der Epidermis an der Grenze der offen gebliebenen Hiinplatte, hb Hörbläschen, kd Kopfdarmhöhle. das Zyklopenauge. Es entsteht dadurch, daß sehr frühzeitig die beiden Augenanlagen, die aus den beiden Seitenwänden des pri- mären Vorderhirnbläschens ihren Ursprung nehmen, sich in der Medianebene einander nähern und eine bald mehr bald minder weitgehende Verschmelzung erfahren. Auch diese, im höchsten Grad auffällige Abnormität ist bei Fischlarven durch den ameri- kanischen Forscher Stockardt künstlich hervorgerufen worden. Das Verfahren ist ein ähnliches wie beim Froschversuch ; nur wird 346 Achtes Kapitel. anstatt Kochsalz ein bestimmter Prozentsatz von Magnesium chlorid zum Meerwasser, in welchem sich die Fischeier entwickeln, hin- zu gesetzt. Aus den im VIII. Kapitel mitgeteilten Beobachtungen und Experimenten läßt sich das folgende Ergebnis ziehen, welches für die Frage nach der Entstehung der Arten von Bedeutung ist: Abgesehen von der Reihe der Metamorphosen, welche die pflanzliche und tierische Art (Spezies) in sehr gesetzmäßiger und konstanter Folge regelmäßig in ihrer Entwicklung durchläuft, re- agiert sie noch durch die verschiedenartigste Formbildung in allen Stadien ihrer Ontogenese — am leichtesten und intensivsten aber in ihren frühesten — auf alle möglichen Veränderungen in den Umweltsfaktoren. Wie leicht zu erkennen ist, geschieht diese Re- aktion jeder Artzelle nicht weniger spezifisch als bei der Form- bildung in ihrer Ontogenese. Die so entstehenden Formen sind nicht erblich, weil durch die Umweltsfaktoren das Idioplasma nicht be- einflußt und jedenfalls nicht auf die Dauer in seiner Konstitution verändert worden ist. Sie gehören daher zu den Modifikationen oder Varianten (Somatosen). Sie dienen noch in vielen Rich- tungen zur Vervollständigung des Artbildes (Vgl. Kap. VII, S. 266); hierbei fallen sie entweder noch in das Bereich der normalen oder der abnormen Formbildung, zwischen welchen sich indessen eine scharfe Grenzbestimmung nicht treffen läßt. Abnorme Formen heißen dann, je nach dem Grad ihrer Abnormität, Mißbildungen oder Monstrositäten. Unter ihnen sind Hemmungsmißbildungen im Tierreich die häufigsten. Normale und abnormale Varianten sind ein Beweis, daß die pflanzliche und tierische Formbildung im höchsten Grad unter der direkten Bewirkung der Umwelt und in vollster Abhängigkeit von ihr erfolgt, daß sie ferner in einer für jede Organismenart durch- aus spezifischen, gesetzmäßigen Weise, also nach einem Entwicklungsgesetz, vor sich geht. Neuntes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten (Fortsetzung). II. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. Nach unserer auf S. 294 — 296 gegebenen Übersicht ist von den im VIII. Kapitel besprochenen Veränderungen pflanzlicher und tieri- scher Gestaltbildung eine zweite wichtige Gruppe neu sich bildender Lebensformen zu unterscheiden, deren Entstehung in einer verän- derten Beschaffenheit der Artzelle selbst oder in der Mutabilität ihres Idioplasma begründet ist. Die zweite Hauptgruppe läßt sich dann weiter noch in drei scharf getrennte Untergruppen zerlegen, die nach ihrer Entstehung wesentlich verschieden voneinander sind. 1) In der einen wird eine Veränderung der Artzelle durch ge- schlechtliche Vermischung zweier artverschiedener Idioplasmen, also durch Bastardzeugung zwischen Vertretern zweier LiNNEscher Arten, oder, was noch häufiger der Fall ist, durch Verbindung von zwei Varietäten oder von zwei reinen Linien herbeigeführt. Auf Grund ihrer Entstehung können die neu gebildeten Organismen als Kombinationen bezeichnet werden. 2) In der zweiten Untergruppe wird die für jede Art gesetzmäßige Chromosomen zahl entweder durch Vermehrung oder durch Ver- minderung infolge äußerer Eingriffe und dadurch zugleich auch die ganze äußere Erscheinung der ausgewachsenen Pflanze in vielen Beziehungen verändert. 3) In der dritten Untergruppe handelt es sich um Veränderungen der idioplasmatischen Konstitution der Artzelle, welche unabhängig von einer geschlechtlichen Vermischung, wie bei der ersten Gruppe, aber unter dem Einfluß äußerer und innerer Faktoren, in einer uns meist unbekannten Weise, allmählich während der Phylogenese der Art erfolgt sind. Die Veränderungen des Idioplasma können ent- weder in einer Umgruppierung oder in einem Neuerwerb oder in einem Latentwerden, schließlich im gänzlichen Verlust von Erb- 348 Neuntes Kapitel. einheiten (Genen) bestehen. Die dritte Gruppe umfaßt daher die Mutationen im engeren Sinne von DE VR1ES. i. Erste Gruppe. Die Kombinationen. Mutation der Artzell o durch Verbindung zweier artverschiedener Idioplasmen1). Die einfachste und zugleich sicherste Methode neue Artzellen zu schaffen, ist das Kombinationsverfahren durch Befruchtung, durch Spaltung der Eigenschaftspaare während der Reduktion und durch daran anschließende Neukombination (vgl. S. 72 — 96). Der Biologe läßt sich hierbei in gewissem Sinne dem organischen Chemiker ver- gleichen, der durch methodische S)mthese, z. B. durch planmäßiges Einführen neuer Glieder in die Grund Verbindung, ganze Reihen von Zuckerarten, von Alkoholen, von Fetten usw., also von Sub- stanzen, die zum großen Teil vor ihrer Entstehung im chemischen Laboratorium in der Welt überhaupt nicht existiert haben, her- stellen kann. Ihre Herstellungsmöglichkeit ist nur in den allge- meinen Naturgesetzmäßigkeiten gegeben und läßt sich bei wissen- schaftlicher Kenntnis derselben vorhersehen. So führt auch der Biologe durch künstliche Synthese zweier Einheiten biologischer Verbindungen, wie wir auch die Idioplasmen zweier Artzellen be- zeichnen können, neue Arten von Lebewesen in die Welt ein. Er hat es in seiner Hand, die Zahl der jetzt die Erde bevölkernden Arten von Pflanzen und Tieren auf das Zehn- und Hundertfache zu vermehren. Wie die Erfahrung uns lehrt, liegen unbegrenzte Möglichkeiten in dem Kreuzungsverfahren kreuzbarer Organismen für den Menschen vor. Er ist sogar imstande, wie der Chemiker gewisse Reihen synthetischer Verbindungen im voraus feststellen kann, die Zahl der möglichen Kombinationen von zwei Idioplasmen, je nachdem sie sich voneinander in einem, in zwei, drei oder mehr Erbfaktoren unterscheiden, also mono-, di-, tri- bis polyhybrid sind, im voraus zu berechnen. Wenn es dem Züchter gelungen ist, zwei kombinierbare Idioplasmen durch Kreuzung zu verbinden , und wenn der so von ihm künstlich hergestellte Bastard bei weiterer Fortzucht in seinem Fortpflanzungsvermögen nicht geschädigt ist, dann ergibt es sich von selbst, daß in der F2- und F3-Generation die möglichen Kombinationen zum Vorschein kommen und sich bei Isolierung auch in ihren neuen Merkmalen konstant erhalten lassen, 1) Weitere Auskunft geben die in Kapitel III zitierten Schriften S. 72. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 349 Das Nähere hierüber wurde schon im III. Kapitel über die Art- zelle und die MENDELschen Kreuzungsregeln auseinandergesetzt (S. 63—68 und 69 — 91); auch wurde dort auf die Formeln, nach denen sich die möglichen Kombinationen vorausberechnen lassen, näher eingegangen. Da sich die Homozygoten bei Reinzucht in der Nachkommenschaft konstant erhalten, so konnten wir sie im VII. Kapitel, das über das System der Organismen handelt, als Neuheiten in der Artbildung betrachten und auf Grund ihrer Ent- stehungsweise als MENDELsche Arteinheiten (S. 284) — denn das sind die künstlich erzeugten Kombinationen — bezeichnen. Daß auch in der freien Natur Kreuzungen zwischen nahe ver- wandten Arten stattgefunden haben und noch immer stattfinden, und daß auf diese Weise konstante Rassen , die zwischen den Arten eine Mittelstellung einnehmen, entstanden sind, ist bekannt. Aber im ganzen sind sie doch im Vergleich zu den Möglichkeiten des MENDELschen Verfahrens spärlich und nur auf einzelne weit verbreitete, wilde Arten beschränkt. Dagegen ist Rassenvermischung ein Kennzeichen für alle vom Menschen zur Zucht gewählten Pflanzen und Tiere. Hier ist durch die über Jahrhunderte aus- gedehnte Kultur bestimmter Arten, hauptsächlich wohl auf dem Wege der Kreuzung, ein Reichtum von neuen Formen, der ganz erstaunlich ist, entstanden. Vermutlich aber wird derselbe von der Gegenwart an noch gewaltig gesteigert werden, seitdem wir in das Wesen und die morphologischen Grundlagen der Kreuzung und in die sich daraus ergebenden Vererbungsgesetze tiefer ein- gedrungen und in den Stand gesetzt sind, nach streng wissenschaft- lichen Methoden planmäßig neue Lebensformen von Pflanzen und Tieren zu unserem Nutzen upd Wohlgefallen zu erzeugen. Um sich ein richtiges Bild von der durch Idioplasmakombination hervorgerufenen Veränderungen in der Welt der Lebewesen zu machen, vergegenwärtige man sich nur die Menge der domestizierten Hühner-, Enten-, Fasanen- und Taubenrassen oder der zahlreichen verschiedenen Kulturformen von Hund, Rind, Schaf, Schwein. Kaninchen, Meerschweinchen, Maus etc. Man denke an die Formen- fülle der kultivierten Pflanzen, der Äpfel-, Birnen-, Kirsch-, Bohnen-, Weizensorten etc. oder an die Mannigfaltigkeit in der Größe, Farbe und Zeichnung vieler vom Gärtner gezüchteten Blumenpflanzen. Wenn man ein Beet, auf welchem ein buntes Gemisch von allen möglichen Abarten des gewöhnlichen Sommerphlox oder des Löwenmauls ausgesät ist, aufmerksam betrachtet, so wird jeder über- rascht sein, wie die Blüten der einzelnen Exemplare, z. B. von Phlox, 350 Neuntes Kapitel. entweder rein weiß oder gelb oder rot oder samtbraun, oft in ver- schiedenen Abstufungen, gefärbt sind, wie außerdem wieder andere in zwei Farben und dabei in bestimmten zierlichen Mustern ger zeichnet sind. MENDELsche Arten erhalten sich, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, nur rein, soweit sie Selbstbefruchter sind; bei Kreuz- befruchtung (Allogamie) treten infolge der nahen Verwandtschaft fortwährend neue Kombinationen durch Verbindung weiblicher und männlicher Keimzellen mit ihren minimal verschiedenen Idioplasmen ein. So kann es zu keiner Beständigkeit im stets wieder neu kom- binierten Idioplasma kommen, da in den folgenden F^, F2- etc, Generationen wieder neue Spaltungen und Rückschläge auf die Ausgangsformen stattfinden. Ein solches Gemisch sehr nahe ver- wandter Individuen, die untereinander sich in kleinen und wenigen, wenn auch zuweilen auffälligen Merkmalen unterscheiden, kann yon dem Systematiker nur unter der höheren Einheit der LlNNEschen Art praktisch zusammengefaßt werden. Es ist wichtig, diesen Gesichtspunkt im Auge zu behalten, da auf ihm auch die oft so auffälligen Unterschiede zwischen den wilden und den in Kultur befindlichen Arten beruhen. Wilde Arten sind meist in der Beschaffenheit aller zu ihnen gehörigen Individuen auffallend uniform und in ihrer Nachkommenschaft durchaus be- ständig. Ihr Idioplasma befindet sich in einem sehr stabilen, gleich- falls uniformen Zustand. Eine kultivierte oder domestizierte Art dagegen besteht aus einem Gemisch von Individuen, die sich in einigen Merkmalen oft in sehr auffälliger Weise unterscheiden, wenn sie auch in ihren Hauptcharakteren, die der Systematiker seiner Beurteilung zugrunde legt, volle Übereinstimmung zeigen. Um einige Beispiele aus der Botanik zu nennen, so erwähne ich durch ungemeine Verschiedenheit ihrer Blüten ausgezeichnete Arten, wie den Sommerphlox, die Betunien, die Stiefmütterchen, die Dahlien, Malven etc. Während außer der Blütezeit die zu einer Art zu- sammengehörigen Pflanzen sich in allen Merkmalen gleichen, bieten sie in ihren Blüten Unterschiede dar, nach denen wir leicht die Individuen zuweilen in viele Gruppen trennen können, nach der weißen, gelben, roten, braunen Farbe der Blumenblätter oder nach den oft ganz charakteristischen Mustern, die entstehen, wenn 2 oder 3 Farben auf einzelne Bezirke der Blumenblätter verteilt sind. Ihr Idioplasma ist in bezug auf die meisten Merkmale zwar auch kon- stant und uniform, wie bei den wilden Arten, in einzelnen Merk- malen aber, von welchen Form, Farbe und Zeichnung der Blüte Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. ^ j abhängen, leicht Veränderungen unterworfen. Diese Erbeinheiten befinden sich also in einem labilen Zustande. Durch sorgfältige Auswahl und Trennung der Individuen der einzelnen Gruppen,, durch mühsame Inzucht kann der Gärtner oft eine künstliche Trennung der LlNNEschen Art mit ihrem bunten Farbenkleid zur Blütezeit in die durch Kultur entstandenen Mendel- schen Arten und in reine Linien erzielen. Es läßt sich, wie die Gärtner sagen, eine gewisse Samenbeständigkeit der Kultursippen erreichen, so daß sie als Handelsartikel in den Samenkatalogen aufgeführt werden können. Diese Beständigkeit ist aber für längere Zeit nur aufrecht zu erhalten, solange die rein gezüchteten Sippen getrennt voneinander auf Beeten gezogen und vor Insekten- besuch geschützt werden. Vereint auf einem Beet, verlieren sie dagegen, wenn sie zu einer allogamen Art gehören, wie es meist der Fall ist, schon in der nächsten oder folgenden Generation ihre Samenbeständigkeit infolge von häufig eintretender Kreuzbefruch- tung der Individuen mit verschiedenen Blütenmerkmalen. Daher liefert jetzt der Samen einer Sippe in der Folge eine mendelnde Nachkommenschaft; seine durch Inzucht mühsam herbeigeführte Samenbeständigkeit ist in kürzester Zeit wieder verloren gegangen. Bei jährlich fortgesetzter gemischter Aussaat von Samen nicht ge- trennter Sippen einer Art entsteht ein immer bunter werdendes Bild der von den einzelnen Pflanzen hervorgebrachten Blüten. Denn nach den MENDELschen Regeln kommen immer neue Kombinationen zwischen den einzelnen Farben und den Farbenmustern zustande. In demselben Maße aber, als durch alle möglichen Zwischen- stufen, gleichsam durch fließende Übergänge, ursprünglich gut ge- trennte Merkmale wieder verbunden werden , verlieren diese an systematischem Wert als Bestimmungsstücke gegenüber den kon- stanten und getrennten Merkmalen. Auf diese Weise kann auch durch fortgesetzte Kreuzung zweier gut ausgeprägter LiNNEscher Arten, sofern nur ihre Bastarde eine vollkommen fruchtbare Nach- kommenschaft liefern, eine neue LlNNEsche Art entstehen, deren einzelne Individuen in einem oder mehreren Merkmalen in weiten Grenzen und scheinbar ohne Regel variieren. Das von den Kulturpflanzen Gesagte gilt zum Teil auch von den in Kultur befindlichen Tierarten. Manche von ihnen bestehen, wie der Haushund, aus vielen Rassen, die sich oft durch sehr zahl- reiche und auffällige Merkmale, wie Jagdhund, Dogge, Pudel, Dachs, voneinander unterscheiden. Trotzdem lassen sie sich leicht mit- einander kreuzen und liefern auch eine fruchtbare Nachkommen- 352 Fünftes Kapitel. schaft. Die Kreuzung verwischt viele Unterschiede und liefert oft bizarr gestaltete Bastardformen, deren Studium und Schicksal in in den folgenden Generationen noch wenig zum Gegenstand von genauen, wissenschaftlichen Untersuchungen gemacht worden ist Über ihre Stellung zu den MENDELschen Regeln läßt sich in diesen Fällen noch wenig Sicheres aussagen, weil sich die Unterschiede auf sehr viele Merkmale und Eigenschaften erstrecken und weil durch jede weitere allogame Fortpflanzung ein neuer, die Unter- suchung erschwerender Umstand hinzutritt. So entstehen hier Iaio- plasmakombinationen, die sich nicht den von Mendel aufgestellten Regeln einfach unterordnen lassen. Auch ist bei der Vielheit heterogener Eigenschaften eine systematische Nachkommenprüfung, wie bei Mono- und Dihybriden, und eine Zerlegung ihrer Eigen- schaften kaum durchzuführen. Die auf tierischem Gebiete schon angestellten und auf die Lehre von Mendel gegründeten Erblich- keitsstudien haben daher mit sehr viel größeren Schwierigkeiten als die Untersuchungen der viel einfacheren Mono- und Dihybriden bei Pflanzen zu kämpfen, zumal wenn diese sich noch durch Selbst- befruchtung fortzüchten lassen. Bei den höchsten in Kultur befindlichen, nur auf geschlecht- lichem Wege sich vermehrenden Organismen gibt es im Grunde genommen überhaupt keine uniforme Art. Wie jedes Individuum sich von anderen in vielen bald mehr bald weniger differierenden Merkmalen unterscheidet, so muß nach den schon früher (S. 7 2 bis 12 1) gegebenen Auseinandersetzungen natürlich auch sein Idio- plasma individuelle Anlagen, die einem anderen fehlen, besitzen. Durch die Befruchtung werden daher auf das Ei neue väterliche Anlagen übertragen, die der Mutter fremd sind, aber im Kind in väterlichen Merkmalen wieder zum Vorschein kommen. Das Zeugungsprodukt läßt sich, da es sich gewöhnlich um viel mehr als zwei differierende Erbeinheiten (Gene) handelt, einem Polyhy- briden vergleichen. Wenn wir auch für diesen Fall die Gültigkeit der MENDELschen Regeln annehrnen wollen, so würde in der Fx- Generation sowohl im weiblichen wie im männlichen Geschlecht bei der Bildung der weiblichen und der männlichen Keimzellen eine Aufspaltung der Merkmalspaare und, da unter ihnen viele Heterozygoten sind, eine ungleichmäßige Verteilung auf die ein- zelnen Keimzellen stattfinden müssen; diese sind somit schon von Haus aus ungleich beanlagt. Eine Trennung in reine Linien ist daher bei solchen höchsten Organismen teils aus diesem Grunde, teils auch deswegen unmöglich, weil bei jeder neuen Befruchtung Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 3^3 immer wieder zwei erblich ungleichwertige Idioplasmen miteinander aufs neue kombiniert werden. So muß das idioplasmatische System in einer beständigen Veränderung, und zwar in doppelter Weise begriffen sein, einmal durch Spaltung der heterozygotischen Merk- malspaare und durch verschiedenartige Verteilung auf die einzelnen Keimzellen und zweitens durch Neukombinationen, die bei jedem Geschlechtsakt stattfinden. Infolgedessen ist zu erwarten, daß die Nachkommen ein und desselben Elternpaares nie eine gleiche erbliche Beanlagung besitzen können. Aus den vorausgegangenen Betrachtungen kann für die Syste- matik folgende Löhre gezogen werden. Bei hochorganisierten Tier- arten mit getrenntgeschlechtlicher Fortpflanzung ist eine weitere Zerlegung in engere systematische Gruppen nach dem Prinzip der MENDELschen Arten und der reinen Linien von JOHANNSEN aus praktischen und theoretischen Gründen meist nicht durchführbar. Die Art stellt daher in diesem Fall ein Gemisch von Formen dar, die infolge ungleicher erblicher Beanlagung in ihren Merkmalen und Eigenschaften voneinander oft sehr verschieden sein können. Im höchsten Maße trifft dies für das menschliche Geschlecht zu. Nicht nur haben seit Jahrhunderten fruchtbare Kreuzungen zwischen der weißen, gelben und schwarzen Rasse, wo sie in nähere Be- rührung miteinander gekommen sind, sondern in noch viel höherem Grad zwischen den zahlreichen Typen, wie zwischen dem germa- nischen, slavischen, semitischen, keltischen, finnischen Typus etc. stattgefunden. Unzählige Idioplasmakombinationen sind auf diese Weise, zumal unter dem Zeichen des gesteigerten Verkehrs und und der zunehmenden Völkermischung, zustande gekommen. Hier- mit knüpfe ich noch einmal kurz an die Betrachtungen an, die uns schon bei der Besprechung der Ahnentafeln im VI. Kapitel (S. 236 — 251) beschäftigt haben. 2. Zweite Gruppe. Mutation der Artzelle durch Veränderung der Chromosomenzahl. Nach dem Zahlengesetz der Chromosomen besitzt jede pflanz- liche und tierische Spezies eine für sie typische Chromosomenzahl. Nur bei der Bildung der reifen Ei- und Samenzellen wird dieselbe durch die Reduktionsteilungen auf die Hälfte herabgesetzt. Der volle Chromosomenbestand wird als diploider, der halbierte als haploider bezeichnet. Durch Verbindung von Systematik und Cyto- logie ist nun zuweilen die Beobachtung gemacht worden, daß bei O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 23 354 Neuntes Kapitel. manchen Arten im Pflanzen- und Tierreich Varietäten auftreten, die sich durch eine verdoppelte Chromosomenzahl auszeichnen und in offenbarem Zusammenhang hiermit einen Riesenwuchs zur Schau tragen. Die Varietät wird daher gewöhnlich mit dem Beinamen gigas bezeichnet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die von DE Vries untersuchte Oenothera lamarckiana gigas. Während Lamarckiana in den diploiden Zellen 14 Chromosomen besitzt, weist die Gigasform deren 28 auf (in den haploiden Ge- schlechtszellen 7, resp. 14). Ferner sind beide unter verwandten Pflanzenformen, abgesehen von den Unterschieden in den Chromo- somenzahlen, noch auf den ersten Blick leicht zu erkennen an ihrem ganzen Habitus, die Gigasform durch ihren Riesenwuchs, durch ihre gedrungene kräftige Gestalt, ihre breiteren Blätter, durch doppelte Größe ihrer kräftig gelb gefärbten Blüten, sowie durch kleine Abänderungen anderer Eigenschaften. Analoge Fälle sind noch von einigen anderen Pflanzen, von denen Tischler eine Zusammenstellung gibt, bekannt geworden. So kommen Primula sinensis und einige Musaarten in einer Gigasform vor. Im Tierreich ist auf Ascaris megalocephala zu verweisen, die in den Varietäten univalens und bivalens auftritt. Von ihnen entspricht die bivalens der pflanzlichen Gigasform. Während die Entstehung der in der Natur beobachteten Gigas- varietäten unbekannt ist, haben March AL und Winkler Mittel und Wege gefunden, sie bei einzelnen Pflanzenarten experimentell herzustellen. Marchal hat bei Laubmoosen die Moosfrucht zer- schnitten und bei der Regeneration aus ihrem Kallus ein Proto- nema mit diploider anstatt mit haploider Chromosomenzahl ge- züchtet. Infolgedessen entstehen im weiteren Verlauf diploide Ge- schlechtszellen und aus ihrer Vereinigung tetraploide Moosrassen, deren Eigenschaften auch sonst noch mehrfach verändert sind. Winkler hat bei der Tomate (Solanum) ebenfalls ein Kallus- gewebe erzeugt und aus diesem Adventivssprosse und schließlich selbständige Tomatenpflanzen in wenigen Exemplaren (Sol. nigrum gigas und Sol. lykopersicum gigas) erhalten, welche in ihren Zellen eine doppelte Chromosomenzahl, 144 statt 72, auf wiesen und eben- falls wie Oenothera gigas sich durch ihren Riesenwuchs, durch etwa doppelte Größe der Zellen und Kerne (Mark-, Schließ-, Pollen- zellen etc.), doppelte Weite der Gefäße, ja selbst durch größere Chlorophyllkörner aiiszeichneten. Ein Gegenstück zu Arten mit Riesenwuchs bilden solche mit Zwergwuchs, der durch experimentelle Herabsetzung der Chromö- Naturwissenschaftliche Bücher aus dem Verlag von Gustav Fischer in Jena Die angegebenen Preise sind die im Juni 1922 gültigen; für das Ausland erhöhen sie sich durch den vorgeschriebenen Valuta-Zuschlag. Die Preise für gebundene Bücher sind unverbindlich. Lehrbuch der vergleichenden Anatomie, von b. naiier, a. o. Prof. der Zoologie an der Univers. Heidelberg. Mit 878 Abbild, im Text. VIII, 914 S. gr. 8° 1904 . Mk 240.— Anatomischer Anzeiger 1903, Bd. 22, Nr. 19: Die Darstellung ist klar, fließend und erschöpfend, auch die zoologisch -systematische Seite des Gegenstandes ist genügend berücksichtigt, so daß das Werk auch gleichzeitig als eine „Zoologie“ benutzt werden kann. Lehrbuch der Paläozoologie. Von O. Abel, 0. ö. Prof, der Paläobiologie an der Univers. Wien. Mit 700 Abbild, im Text. XVI, 500 S. gr. 8° 1920 Mk 160. — , geb. Mk 196.-^ Die Umschau 1921, Nr. 44: „Die Paläozoologie ist ein Teilgebiet der Zoologie und nicht der Geologie . . . Die Ziele der Paläozoologie bestehen vor allem in der Er- forschung der Organisation und der stammesgeschichtlichen Stellung der fossilen Tiere sowie in der Aufhellung ihrer Beziehungen zur Umwelt,“ schreibt Abel zur Einleitung des Werkes. Dementsprechend unterscheidet sich die Behandlung des Stoffes wesentlich von den früheren Werken (Zittel, Steinmann-Doederlein usw.). Die Darstellung richtet sich in Inhalt und Ümfang nach den eben genannten Gesichtspunkten. Morphologie, Embryologie und Öko- logie der heute lebenden Formen einer Gruppe leiten die Abschnitte ein. Die alten Genus- und Speziesaufzählungen fallen weg und werden durch einige charakteristische Beispiele ersetzt. . . . Abels Lehrbuch wird wohl für die Paläontologen und Zoologen — und hoffentlich auch die Geologen! — das Lehrbuch der Paläozoologie werden . . . Die bildliche Ausstattung ist hervorragend. Dr. Loeser Die vorzeitlichen Säugetiere, von o. Ai»ei. Mit 250 Abbildungen und 2 Tabellen im Text. VII, 309 S. gr. 8° 1914 Mk 102.-, geb. Mk 144.— Inhalt: Einleitung. — Die erhaltenen Ueberreste der fossilen Säugetiere. — Der Erhaltungszustand der vorzeitlichen Säugetierreste. — Die wichtigsten Fundorte größerer vorzeitlicher Säugetierfaunen. — Die ältesten Säugetierreste. — Die Einreihung der vor- zeitlichen Säugetiere in das System der lebenden Säugetiere. — Uebersicht der vorzeitlichen Säugetiere. — Aufstieg, Blüte und Niedergang der Säugetier Stämme. — Sachregister. Lebensbilder aus der Tierwelt der Vorzeit. Von Othenio Abel, o. ö. Prof, der Paläobiologie an der Universität Wien. Mit 1 färb. Titelbild und 507 Abbild, im Text. VIII, 643 S. gr. 8° 1922 Mk 120.-, geb. Mk 165. — Inhalt: I. In der Lößsteppe von Krems in Niederösterreich. — 2. In der Busch- steppe von Pikermi in Attika zur unteren Pliozänzeit. — 3. Landschaft und Tierleben des Wiener Beckens in der mittleren Miozänzeit. — 4. Am Bridgersee zwischen den Vulkanen von Wyoming in der mittleren Eozänzeit. — 5. Das Niobrarameer der oberen Kreideformation Nordamerikas. — 6. Inden Sumpfwäldern Belgiens zur unteren Kreidezeit. — 7. Das Tier- leben am Atlantosaurusstrome in Nordamerika und am Tendagurudelta in Ostafrika während der unteren Kreidezeit und oberen Jurazeit. — 8. Am Strande von Solnhofen in Bayern in der Oberjurazeit. — 9. In der Holzmadener Bucht des süddeutschen Liasmeeres. — 10. ln den Wüstengebieten der südamerikanischen Karroo zur Permzeit. — Sachregister. — Autorenregister. Vorlesungen über allgemeine Histologie. Gehalten an der Hochschule für Frauen in St. Petersburg. Von Prof. Dr. Alexander Gurwitsch, St. Petersburg. Mit 204 Abbildungen im Text. VI, 345 S. gr. 8° 1913 Mk 132.—, geb. Mk 168. — Die Vorlesungen, aus denen das vorliegende Büch entstand, wurden für Studierende der Naturwissenschaften gehalten, was eine möglichst gleichmäßige Berücksichtigung des großen zoologischen Gebietes zur Voraussetzung hatte. Darin weicht der Inhalt des Buches von den in der Mehrzahl für Mediziner bestimmten Lehrbüchern der Wirbeltier- histologie ab. Morphologie und Biologie der Zelle. Von Br. Alexander Gnrwitsch, Privatdozent .der Anatomie^in Bern. Mit 239 Abbild, im Text. VI, 487 S. Lex. 80 1904 Mk 108.— , geb. Mk 156.— Münchener medizin. Wochenschrift, 7. Nov. 1905: Gurwitsch stellt sich in dem vorliegenden, für den Anfänger berechneten Werke die Aufgabe, eine umfassende Darstellung von dem* Eigenleben der Zelle zu geben, und zwar vom rein biologischen Standpunkt. Die grundlegenden morphologischen Tatsachen werden dabei beim Leser als bekannt vorausgesetzt. . . . Wir können das vorzüglich ausgestattete Werk jedem zum Studium empfehlen, der_sich für die grundlegenden Fragen der Zellbiologie interessiert. R. Krause Histologisches Praktikum der Tiere. Für Studierende und Forscher. Von Karl Camillo Schneider, a. 0. Prof, der Zoologie a. d. Univers. Wien. Mit 134 Abbildungen im Text. IX, 615 S. 1908 Mk 180.— Praxis und Theorie der Zellen- und Befruchtungslehre, von Prof. Dr. Valentin Häcker, Halle. Mit 157 Abbild, im Text. VIII, 260 S. gr. 8° 1899 Mk 84.— Inhalt: 1. Pflanzliche und tierische Gewebszellen. 2. Einzellige Organismen. 3. Ruhende Kerne: Kerngerüst und Kernkörper. 4. Chemie des Zellkerns. 5. Physio- logie des Zellkerns. 6./7. Zellteilungen: a) Chromatische Figur, b) Achromatische Figur. 8. Centralkörper (Centrosomen). 9./11. Eibildung: a) Keimbläschen, b) Keimflecke und Dotterlcern. c), Richtungskörperbildung. 1 2. Samenbildung. 13. Reduktionsteilung. 14. Be- fruchtung des Metazoen-Eies. 15. Befruchtung. Weitere Tatsachen und Theorie. 16. Keim- bahnzellen. — Zusammenfassung und Schluß. Allgemeiner Bau und Wesen der Zelle. — Literatur-Nachweis. — Sachregister. — Autorenregister. Lehrbuch der Zoologie. Von Dr. Richard Hertwig, o. ö. Professor der Zoologie und vergleichenden Anatomie an der Universität München. Drei- zehnte, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 588 Abbildungen im Text. XVI, 682 S. gr. 8° 1922 Mk 100.—, geb. Mk 140.— Unterrichtsblätter f. Mathematik u. Naturwissenschaft 1918, Nr. 3/4: Das gediegene Werk ist kein wissenschaftliches Handbuch, sondern ein wirkliches Lehrbuch für Studierende, Lehrer und Freunde der wissenschaftlichen Zoologie. . . . Gräntz (Frankfurt a. M.) Lehrbuch der Zoologie für Studierende. Von Dr. .1. E. V. Boas, Prof. der Zoologie an der Kgl. landwirtschaftlichen Hochschule in Kopenhagen. Achte, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 688 Abbildungen im Text. XI, 735 S. gr. 8° 1920 z. Zt. vergriffen. Die 9. Auflage ist in Vorbereitung. Zoologisches Zentralblatt: Das Buch hat die Berechtigung seines Bestehens durch seine weite Verbreitung bewiesen und bedarf keiner neuen Empfehlung. A. Schuberg, Berlin-Großlichterfelde Leitfaden für das zoologische Praktikum, von Dr. wmy Küken- thal, 0. ö. Prof. d. Zoologie und vergleich. Anatomie a. d. Univers. Breslau. Achte, umgearbeitete Auflage. Mit 174 Abbild, im Text. VIII, 322 S. gr. 8° 1920 Mk 112.—, geb. Mk 152.— Praktikum der Insektenkunde nach biologisch -ökologischen Gesichts- punkten. Von Prof. Dr. Walter Schoeniclieii. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 261 Abbild, im Text. X, 227 S. gr. 8° 1921 Mk 68.—, geb. Mk 100. — Literarisches Zentralblatt für Deutschland, 1918, Nr. 34: Das Buch ist hauptsächlich aus den Bedürfnissen des Schulunterrichts hervorgegangen und soll vor allem dem Kandidaten des höheren Schulamts zugute kommen. Es eignet sjch besonders für den Beginn des biologischen Studiums und hat wie alles, was Schoenichen macht, Hand und Fuß. Da er den Stoff meisterhaft beherrscht, ist es -natürlich ein Vergnügen, seinen Ausführungen zu folgen, die von Trockenheit nichts erkennen lassen. Jede höhere Schule sollte das^Werk für den biologischen Unterricht anschaffen. Wie wird einem hier alles, wie man zu sagen pflegt, auf dem Präsentierteller entgegengebracht, was man sich früher mühsam zusammensuchen mußte. Leitfaden für das mikroskopisch-zoologische Praktikum, von Dr. Walter Stempelt, Prof. d. Zoologie und vergleich. Anatomie an der Westfäl. Wilhelms -Universität zu Münster i. W. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 86 Abbild, im Text. "VI, 105 S. gr. 8° 1919 Mk 42.—, geb. Mk 72.— Praktikum der Protozoologie. Von Dr. M. Hart mann, Mitglied des Kaiser- Wilhelm-Instituts f. Biologie in Berlin-Dahlem, Prof, der Zoologie an der Uni v. Berlin. Vierte, wesentlich erweiterte Auflage. Mit 128 teils färb. Abbild, im Text. VIII, 146 S. gr. 8° 1921 Mk 60.—, geb. Mk 72.— Der Mensch. Sein Ursprung und seine Entwicklung in gemeinverständlicher Darstelluug. Von Wilhelm lieche, Prof, an der Universität Stockholm. Zweite, umgearbeitete deutsche Auflage. Mit 867 Abbild, im Text. VIII, 876 S. gr. 8° 1922 Mk 80.—, -geb. Mk 100.— Inhalt: I. Deszendenztheorie. 2. Der Mensch und die Wirbeltiere. Die Ausbildungs- stufen der Wirbeltiere. 3. Die Aussage der ausgestorbenen Lebewesen. 4. Der Mensch im Lichte der vergleichenden Anatomie. 5. Das Ergebnis der Embryologie. 6. Die rudimentären Organe des menschlichen’' Körpers. 7, Das Gehirn. 8. Der Mensch und seine nächsten heute lebendenVerwandten. 9.. Die ersten Menschen. 10. Der Affenmensch von Java. — Die Menschheit der Zukunft. — Register. Frankfurter Zeitung, Nr. 174 vom 25. Juni 1911 : . . . Das Buch von Leche wird ein Handbuch für Lehrer und Studierende werden. Durch seine leicht faßliche Darstellung eignet es sich auch zur Lektüre für Schüler von Oberklassen höherer Schulen. Freunden naturwissenschaftlicher Werke sei es ganz besonders empfohlen, da es sie in wirklich klassischer Weise mit dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse über unsern eigenen Werdegang vertraut macht. Leitfaden für das embryologische Praktikum und Grundriß der Ent- wicklungslehre des Menschen und der Wirbeltiere. Von Professor Dr. Albert Oppel in Halle a. S. Mit 823 Abbild, im Text in 484 Einzeldar- stellungen. VIII, 313 S. gr. 8° 1914 Mk 120.—, geb. Mk 168.— Archiv f ü r En twicklungsm echanik der Organismen, 1914, Band 39, 4: . . . enthält in gedrängter Kürze und klarer Darstellung dasjenige, was zurzeit vom Medi- ziner an deskriptiv embryologischen und an entwicklungsmechanischen Kenntnissen verlangt werden kann und hat durch die Kombination des Beschreibenden und Kausalen den Vorzug vor allen derzeitigen embryologischen Lehrbüchern' . . . Die Fortpflanzung, die Schwangerschaft und das Gebären der Säugetiere. Eine zoologische Feldvorlesung für meine im Felde stehenden Schüler. Von Prof. Dr. Franz Hof lein, Breslau. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Mit 36 Abbild, im Text. IV, 70 S. gr. 8° 1920 Mk 22.— Deutsche mediz. 'Wochenschrift, 1917, Nr. 38: Jeder Naturwissenschaftler und jeder Arzt, der sich nicht gerade besonders mit dem Thema beschäftigt, wird diese Zusammenstellung mit Genuß lesen. Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der niede- ren Wirbeltiere. In systematischer Reihenfolge u. mit Berücksichtigung der experimentellen Embryologie. Von Dr. Heinrich Ernst Ziegler, Prof, an der Universität Jena (jetzt in Stuttgart). Mit 327 Abbild, im Text und 1 färb. Tafel. XII, 366 S. gr. 8° 1902 Mk 120.— Die Säugetierontogenese in ihrer Bedeutung für die Phylogenie der Wirbeltiere. Von A. A. W. Habrecht in Utrecht. Mit 186 Textfiguren. VI, 248 S. gr. 8° 1909 Mk 84 — Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 1910: . . . Das überaus inhaltreiche Werk stellt sich in vielen Fällen in schärfsten Gegensatz zu herrschenden oder geläufigen Ansichten über die Ontogenie der Säuger; es verdient darin alle Beachtung und wird zweifellos in manchem in nicht zu ferner Zeit volle Anerkennung finden, so ins- besondere hinsichtlich der Auffassung der Keimblätterbildung. J. Meisenheimer, Jena Richtlinien des Entwicklungs- und Vererbungsproblems, von Alfred Greil, a. o. Professor der Anatomie a. d. Univers. Innsbruck. Erster Teil: Prinzipien der Ontogenese und des biogenetischen Grundgesetzes. Beiträge zur allgemeinen Physiologie der Entwicklung. (Erweiterter Abdruck aus ,, Zoolog. Jahrbücher“. Bd. 31. Abtlg. f. Zool. u. Physiol.). IV, 352 S. gr. 8° 1912 Mk 120.— Zweiter Teil: Anpassung und Variabilität, Ererbung und Erwerbung, Ge- schlechtsbestimmung. Entwicklungs- und Vererbungstheorien. Grund- züge der allgemeinen Morphologie und Entwicklungsdynamik. IV, 363 S. gr. 8° 1912 I Mk 120.— Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung. Von Prof. Augusf Weid- mann, Freiburg i. Br. Mit 24 Abbild, im Text. XVIII, 628 S. gr. 8° 1892 Mk 144.— Inhalt: Einleitung: a) Historischer Teil, b) Sachlicher Teil. — I. Mate- rielle Grundlage der V er erbungserscheinungen. i. Das Keimplasma. — II. Die Vererbung bei einelterlicher Fortpflanzung. 2. Die Regeneration. 3. Ver- mehrung durch Teilung. 4. Vermehrung durch Knospung. 5. Die idioplasmatische Grund- lage des Generationswechsels. 6. Die Bildung von Keimzellen. ? 7. Zusammenfassung. — III. Die Vererbungserscheinungen bei geschlechtlicher Fortpflanzung. Einleitung: Wesen der sexuellen Fortpflanzung. 8. Veränderung des Keimplasmas durch Amphimixis. 9. Die Ontogenese unter der Leitung des amphimixotischen Keimplasmas. 10. Die Erscheinungen des Rückschlages abgeleitet aus dem amphimixotischen Keimplasma. 11. Dimorphismus und Polymorphismus. 12. Zweifelhafte Vererbungserscheinungen. — IV. Die Abänderung der Arten in ihrer idioplasmatischen Wurzel. 13. Die vermeintliche Vererbung erworbener Eigenschaften. 14. Variation. — Zusammenfassung von I — IV und Abschluß. I Vorträge Uber Deszendenztheorie. Gehalten an der Universität Frei- burg i. Br. Von Prof. August Weidmann. Dritte, verbesserte Auflage. Mit 141 Abbild, im Text und 3 farbigen Tafeln. XXIV, 697 S. 1913 Mk 132.-, geb. Mk 180.— Neue Weltanschauung, 1914, Heft 1: Unter den vielen deutschen Werken, die eine zusammenfassende Darstellung der Deszendenztheorie und der mit ihr verbundenen Probleme enthalten, nimmt das zweibändige Werk Weismanns einen der ersten Plätze ein. . . . Man mag mit manchen Lehren Weismanns nicht einverstanden sein; auf alle Fälle aber sind seine „Vorträge“ ein „Standard Work“ der Darwinistischen Literatur, auf das wir Deutsche stolz sein dürfen. Wer sich über das Gesamtgebiet der Deszendenz- theorie und des Darwinismus orientieren will, dem kann man mit gutem Gewissen raten, die „Vorträge“ zur Hand zu nehmen. Dr. W. B. Verzeichnis der weiteren Schriften Weismanns kostenfrei. August Weismänn. Sein Leiben und sein Werk. Von £rnst Gaupp, weil. 0. ö. Prof, der Anatomie und Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Breslau. VIII, 297 S. gr. 8° 1917 Mk 96.—, geb. Mk 144.— Die Umschau, 1910, No. 11: ... Das Werk wird als Einführung in die De- szendenzlehre, den Darwinismus und insbesondere den Neudarwinismus unvergänglich sein. Dr. Loeser Einführung in die Deszendenztheorie. Sechs Vorträge, gehaltenVon Marl Camillo Schneider, a. 0. Prof, der Zoologie an der Universität Wien. Zweite, erweiterte Auflage. Mit einer Karte, 182 teils farbigen Abbild, im Text u. 3 Tafeln. XII, 386 S. gr. 8° 1911 Mk 114. — , geb. Mk 162. — Fünfzig Jahre Stammesgeschichte. Historisch-kritische Studien über die Resultate der Phylogenie. Von Hrnst Haeckel.' [Abdruck aus „Jenaische Zeitschrift f. Naturwiss.“. Bd. 54.] II, 70 S. gr. 8° 1916 Mk 24. — Ueber verschiedene Wege phylogenetischer Entwicklung, von Prof. Dr. O. JTaekel, Berlin. Mit 18 Abbild, im Text. (Abdr. a. d. Verhandl. des V. internat. Zoologen-Kongresses zu Berlin 1901.) 60 S. gr. 8° 1902 Mk 18. — Die experimentelle Vererbungslehre in der Zoologie seit 1900. Ein Sammelwerk und Hilfsbuch bei Untersuchungen. Von Prof. Dr. Arnold Lang, Zürich. Erste Hälfte. (Mit einem Abschnitt: Anfangsgründe der Biometrik der Variation und Korrelation.) Mit 244 Abbild, im Text und 4 Tafeln. VIII, 892 S. 4° 1914 Mk 342.—, geb. Mk 432.— 0 Inhalt: Aphoristisch? Begriffsbestimmungen. — KI. Hauptteil: Zur allgemeinen Orientierung. (S. 2 — 200.) — II. Hauptteil: Anfangsgründe der Biometrik der Variation und Korrelation. Versuch einer gemeinverständlichen Darstellung und Anleitung zur Anwendung der elementaren biometrischen Methoden. (S. 201 — 464.) — III.r Hauptteil: Ausführlicher Bericht über die planmäßigen Hybridationsversuche mit Tiefen während der Dodekade 1 900/12 (S. 465 — 892): Einleitung zum speziellen Teil. — 1. Abschnitt: Säugetiere. (Nagetiere, Raubtiere, Huftiere.) Deszendenzlehre (Entwicklungslehre). Ein Lehrbuch auf historisch- kritischer Grundlage. Von Dr. S. Tsclmlok, Privatdozent für allge- meine Biologie an der Universität Zürich. Mit 63 Abbildungen im Text und 1 Tabelle. XII, 324 S. gr. 8° 1922 Mk 48.—, geb. Mk 78.— Inhalt: 1. Einleitung. — 2. Die erste formale Voraussetzung der modernen Ent- wicklungslehre: die Erfassung des Geschehens unter dem Gesichtspunkte der „geologischen“ Zeit. — 3. Die zweite formale Voraussetzung der modernen Entwicklungslehre — die Bedingungen für die Aufnahme hypothetischer Elemente (für das Gebiet der „beschrei- benden“ Naturwissenschaften). — 4. Die Erfassung der Mannigfaltigkeit der Lebewesen mit Hilfe des taxonomischen Begriffssystems (zur Geschichte und Logik des natürlichen Systems der Tiere und Pflanzen). — 5. Das natürliche System als der Beweis der De- szendenztheorie. — 6. Ergänzende Beweise der Deszendenztheorie: aus der Morphologie, Embryologie, Chorologie und Chronologie. — 7. Das Problem der Stammbäume. — 8. Das Problem der Entwicklungsfaktoren. — 9. Die Unabhängigkeit der Deszendenz- theorie von dem Stande der Stammbaum- und Faktorenforschung. — 10. Die Gegner der Deszendenztheorie. — 11. Begriffsverwirrung und Uneinigkeit bei den Anhängern der Deszendenztheorie. — 12. Anhang: Über die Lpgik und Geschichte des biogenetischen Gesetzes. — Autörenregister. Register der Pflanzen- und Tiernamen. Vorlesungen über Deszendenztheorien mit besonderer Berücksichtigung der botanischen Seite der Fragen. Gehalten an der Reichsuniversität zu Leiden. Von Dr. J. I*. Lotsy. Zwei Teile. Mit 225 Abbild, im Text und 15 Tafeln. XVII, 799 S. gr. 8° 1906—1908. Mk 240.— Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 1908: . . . Der Verfasser ist außerordentlich belesen in der älteren wie neueren Literatur und hat mit großem Fleiß und Geschick- eine Fülle von Tatsachen und Ansichten zusammengestellt, so daß jeder Freund der Abstammungslehre auf dieses Werk beständig wird zurückgreifen müssen. (L. Plate) Grundzüge der Theorienbildung in der Biologie. Von Professor Dr. Jul. Schaxel, Leiter der Anstalt für experimentelle Biologie an der Univers. Jena. VII, 221 S. gr. 8° 1919 Inhalt: Einleitung. — 1. Darwinismus. 2. Phylogenie. 3. Entwicklungsmechanis- mus. 4. Physiologie. 5. Neovitalismus. 6. Kritische Biologie. — Anmerkungen (1 — 34). — Literaturverzeichnis. Sach- und Namenverzeichnis. z. Zt. vergriffen. Die zweite Auflage befindet sich im Druck. Neue Zürcher Zeitung, 7. Februar 1919: . . . ein Buch, das auf lange Zeit hinaus zur wichtigsten Literatur der Lebenswissenschaften gehören wird. Adolf Koelsch Ueber den Mechanismus der Vererbung, von Dr. jniins schaxei, ao. Prof, für Zoologie an der Universität Jena. 31 S. gr. 8° 1916 Mk 9. — Zeitschr. f. induktive Abstammungs- u. Vererbungslehre, Bd. 1.9, Heft 12: Eine außerordentlich anregende Studie, die dartun will, wie die Entwicklungsmechanik berufen sei, im Sinne Johannsens das „morphologische Korrektiv“ für die zunächst rein sta- tistische, mendelistische Erblichkeitsforschung abzugeben. Idealistische Morphologie und Phylogenetik. (Zur Methodik der systematischen Morphologie.) Von Dr. Adolf Maef, Privatdozent für Zool. a. d. Univers. Zürich. Mit 4 Abbild, im Text. VI, 77S.gr. 8° 1919 Mk 18. — Archiv f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 13, Heft 5/6: . . . Hoffent- lich findet die Schrift in zoologischen Kreisen, besonders nach der Prüfung der von N. neu er- mittelten, ihr zugrunde gelegten Tatsachen, die ihr gebührende Beachtung. Hirsch (Leipzig) Die individuelle Entwicklung organischer Formen als Urkunde ihrer Stammesgeschichte. Kritische Betrachtungen über das sogenannte „biogenetische Grundgesetz“. Von Dr. Adolf Naef, Privatdoz. f. Zool. a. d. ünivers. Zürich. Mit 4 Abbild, im Text.- III, 77 S. gr. 8° 1917 Mk 28.80 Inhalt: Einleitung. — Zur Geschichte des biogenetischen Grundgesetzes. — Über. Wesen und Methodik der systematischen Morphologie. — Über Entwicklung überhaupt und^ die vergleichende Betrachtung von Ontogenesen der Vielzelligen im besonderen. — Über die phylogenetische Betrachtung der organischen Formbildung. — Über die Abänderung der Ontogenesen in der Stammesgeschichte. — Über die Anwendung des Gesetzes und dessen Grenzen. — Über atypische Ähnlichkeiten (Analogien, Konvergenzen). — Leitsätze. — Literatur. Die Umschau, 3. November 1917: . . . Besonders interessant ist das Studium der Schrift, wo sie auf Gebiete kommt, die Hertwigin seinem Werke berührt. Trotz der Kürze ist die Arbeit zu einer Besprechung zu inhaltsreich. Kein Berufskollege kann an ihr vorüber- gehen. . . . Angenehm berührt die ständige Heranziehung auch fossiler Formen. Dr. Loeser Die Biologie und ihre Schöpfer. Von William A. Eocy, Ph. D„ Sc. D., Professor an der Northwestern University. Autorisierte Uebersetzung der! zweiten amerikanischen Auflage von E. Nitardy. Mit einem Geleitworte von Prof. Dr. J. Wilhelmi. Mit 97 Abbild, im Text. XII, 416 S. gr. 8° 1914 Mk 90.—, geb. Mk 132. — Der Hauptzweck des Buches liegt in der Aufdeckung der Quellen biologischer Gedanken und der Hauptwege der biologischen Entwicklung und weiterhin darin, den Leser mit jenen vornehmen Gestalten bekannt zu machen, deren Arbeit die Epochen der Geschichte der Biologie bezeichnet, sowie zu zeigen, daß die Entwicklung der biologischen Anschauungen eine lückenlose ist. Organische Zweckmäßigkeit, Entwicklung und Vererbung vom Standpunkte.der Physiologie. Von Dr. Faul Jensen, Professor a r. d. Univers. Breslau. Mit 5 Abbild, im Text. XV, 251 S. gr. 8a 1907 Mk 60. — Zeitschrift für allgemeine Physiologie, Bd. VIII, Heft3/4: Es ist mit Freude zu begrüßen, daß einmal ein moderner Physiologe sich eingehend mit den Problemen be- schäftigt, die im Titel bezeichnet sind. . . . Wem es darum zu tun ist, durch eine gründliche und scharfe Untersuchung über die ganze Mannigfaltigkeit der deszendenz-theoretischen Probleme einen tieferen Einblick in dieses dunkle. Stück der Werkstatt des Lebens zu ge- winnen, dem darf Jens ens Buch als Führer dringend empfohlen werden. A. Pütter (Göttingen) Die Vervollkommnung in der lebenden Natur. Eine Studie über ein Naturgesetz. Von Dr. Victor Franz, Prof, der phylogenet. Zoologie a. d. Univers. Jena. VI, 188 S. gr. 8° 1920 Mk 60.— Naturwissenschaftliche Monatshefte, 1920, Heft 12: Der biologisch Un* geschulte pflegt häufig Entwicklung und Vervollkommnung zu identifizieren, trotzdem es ein Entwicklungsgeschehen, das im objektiven Sinne Vervollkommnung bedeutet, nicht gibt. Die Entwirrung beider Begriffe und die klare Herausarbeitung des Vervollkommnungsgedankens sind die Hauptaufgabe der vorliegenden Studie, die eine der wertvollsten Neu- erscheinungen auf biologischem Gebiete darstellt. . . . Die Lektüre dieses Buches wird nicht nur jedem Biologen, sondern auch dem philosophisch interessierten Leser eine große Bereicherung bringen. C. W. Schmidt Lebensdauer, Altern und Tod. Von Dr. E. Korsclielt, Professor der Zoologie und vergleich. Anatomie an der Universität Marburg. Zweite, um- gearbeitete und stark vermehrte Auflage. Mit 107 Abbildungen im Text. VIII, 807 S. gr. 8° 1922 Mk 48.— , geb. Mk 78.— Inhalt: Einleitung. — 1. Angaben über die Lebensdauer der Tiere. 2. Lebens- dauer und Altern der Pflanzen. 3. Die verschiedenen Todesursachen. 4. Die Lebens- dauer der Einzelligen. 5. Protozoenkolonie; Zellenstaat und Metazoen, Zelldifferenzierung und Abnutzung. 6. Rückbildung und Untergang von Zellen und Organen beim normalen Lebensprozeß. 7. Beschränkung der Zeilenzahl in den Organen (Zellkonstanz). 8. Das Altern von Zellen im Zellenverband. 9. Altersveränderungen an Organen. 10. Ver- jüngung vonr Zellen und Geweben. 11. Verjüngung und Lebensverlängerung. 12. Ruhe- zustände und Lebensdauer. 13. Fortpflanzung und Lebensdauer. 14. Die Beziehungen der Lebensdauer zum Wachstum und andere sie bestimmende Ursachen. 15. Allgemeine Fragen der Lebensdauer und Todesursachen. Schlußbetrachtungen. — Literatur-, Namen- und Sachverzeichnis. Das Problem des Todes und der Unsterblichkeit bei den pflanzen und Tieren. Von Prof. Dr. Franz Dof lein, Breslau. Mit 32 Abbildungen im Text und 1 Tafel. V, 120 S. gr. 8° 1919 Mk 48.— Inhalt: i. Das Problem des Todes. 2. Der Tod in einem bestimmten Stadium des Lebens (Subitantod). 3; Der Alterstod. 4. Das Problem des Alters und des Todes bei den Einzelligen. 5. Der Partialtod. 6. Der Tod infolge unharmonischer Organisation. 7. Poten- tielle Unsterblichkeit der Gewebezellen. (Teilung und Knospung bei Vielzelligen. Differen- zierung der Keim- und Somazellen. Regeneration und Differenzierung. Gewebekulturen und Unsterblichkeitsproblem. Bedeutung der Geschwülste und Gallen für das Unsterblichkeits- problem.) 8. Endergebnisse. — Literaturverzeichnis. Entwicklungsgeschichtliche Eigenschaftsanalyse (Phänogenetik). Gemeinsame Aufgaben der Entwicklungsgeschichte,' Vererbungs- und Rassen- lehre. Von Valentin Haecker, Prof, der Zoologie in Halle a. S. Mit 161 Abbild, im Text. X, 344 S. gr. 8° 1918 " Mk 144.— Inhalt: 1. Aufgaben der Eigenschafts- oder Rassenanalyse. 2. Entwicklungs- geschichtliche Eigenschaftsanalyse der Einzelligen. 3. Größenunterschiede. 4. Asymmetrie. 5. Haare, Federn und ähnliche Ektodermbildungen. 6. Allgemeines über Pigmentierung. Ferment-Chromogen-Hypothese. 7. Die Farbenrassen der Axolotl und Säuger. 8. Earben- rassen der Vögel. 9. Farbei^assen der Pflanzen. 10. Albinismus und Albinoidismus. 11. Partieller Albinismus, Scheckung und Abzeichen. 12. Tigerstreifung, Apfelung, Tiger- fleckung, Schimmelung. 13. Weißbuntheit bei Vögeln, niederen Wirbeltieren und Pflanzen. 14. Wildzeichnung. 15. Bisherige Ansichten über die Ursachen der Zeichnung. 16. Zeich- nung und Hautwachstum. 17. Zeichnung und Hautwachstum beim Axolotl. 18. An- wendung der Hautwachstumshypothese auf besondere Fälle. 19. Zeichnung der Vögel. 20. Anomalien der Extremitäten und des Schwanzes. 21. Kämme, Hörner, Geweihe. 22. Schädelform und Gesichtstypus. 23. Eine entwicklungsgeschichtliche Vererbungsregel. 24. Entwicklungsgeschichtliche Eigenschaftsanalyse, Konstitutionslehre und Völkerkunde. 25. Entwicklungsgeschichtliche Vererbungsregel und Pluripotenz. — Sach- und Autorenregister. Allgemeine Physiologie. Ein Grundriß der Lehre vom Leben. Von Dr. med. et phil. Max Verworn, Prof der Physiologie und Direktor der physiolog. Instituts d. Univers. Bonn. Sechste, neu bearbeitete Auflage. Mit 333 Ab- bildungen im Text. XVI, 766 S. gr. 8° 1915 z. Zt. vergriffen. Die 7. Auflage befindet sich im Druck. Deutsche Revue, Stuttgart, Juli 1909: . . . Der meisterhaft klare Stil Verworns ermöglicht trotz der strengen Wissenschaftlichkeit des Buches nicht nur jedem gebildeten Laien die Lektüre, sondern wird sie ihm auch -von Seite zu Seite genußreicher gestalten. . . . Verworns Grundriß der Lehre vom Leben müßte in der Bücherei jedes Gebildeten einen Platz finden. Elemente der Tierphysiologie. Ein Hilfsbuch für Vorlesungen und prak- tische Uebungen an Universitäten und höheren Schulen, sowie zum Selbst- studium für Zoologen und Mediziner. Von Dr. Walter Stempelt, 0. ö. Prof, der Zoologie, vergleich. Anatomie und Physiologie, Direktor d. zoolog. Instituts d. Univers. Münster i. W., und Dr. Albert Koch, Assistent am zoolog. Inst. d. Univers. Münster i. W. Mit 360 Abbild, im Text. XXIV, 577 S. gr. 8° 1916 z. Zt. vergriffen. Die 2. Auflage befindet sich in Vorbereitung. Vergleichende chemische Physiologie der niederen Tiere, von Dr. Otto von Fürth, Privatdozent a. d. Univers. Straßburg L E. XIV, 670 S. gr. 8« 1903 x Mk 192.— Inhalt: Chemische Vorbegriffe. Einleitung: Die chemische Zusammensetzung des Protoplasmas. — 1. Blut. — 2. Die Atmung. — 3. Die Ernährung. — 4. Die Exkretion. — 5. Tierische Gifte. — 6. Sekrete besonderer Art. — 7. Die Muskeln. — 8. Die Gerüst- substanzen. — 9. Die Farbstoffe der Gewebe. — 10. Reservestoffe und Aschenbestandteile. — 11. Die Produkte der Sexualdrüsen. — 12. Die chemischen Existenzbedingungen wirbel- loser Tiere. — Register (27 S.). Vergleichende Physiologie. Von Dr. phil. et med. August Püttei*, Professor in Bonn. Mit 174 Abbildungen im Text. VIII, 721 S. gr. 8° 1911 Mk 204.—, geb. Mk 264.— Archiv für Zellforschung, Bd. X, 1913: . . . Es mag kaum ein biologisches Werk geben, das so sehr zum eignen Forschen anregt wie gerade dieses' . . . Ehrhard (München) Vergleichende Physiologie wirbelloser Tiere, von Professor Dr. H. Jordan, Tübingen. Erster Band. Die Ernährung: Nahrung, Nahrungserwerb, Nahrungsaufnahme, Verdauung und Assimilation. Mit 277 Abbild, im Text. XXII, 788 S. gr. 8° 1913 Mk 288.—, geb. Mk 360;— Die Naturwissenschaften, 1913, Heft 14: ... Eine wertyolle Bereicherung unserer Literatur. Besonders geeignet ist es für den angehenden Forscher, der sich gründlich in die Materie einarbeiten will . . . Mit großer Gewissenhaftigkeit hat der Verf. in 7 jähriger Arbeit den Stoff zusammengetragen und verarbeitet. Er behandelt die Tatsachen se.hr objektiv, gelegentlich rein referierend, und hält mit seiner Kritik stark zurück . . . Reichliche Literaturnachweise in Fußnoten erleichtern dem Leser, sich jeweils selbst über Tatsachen und Probleme zu orientieren. Tierphysiologisches Praktikum. Eine Anweisung für praktische Kurse und Vorlesungsversuche an Universitäten und höheren Schulen, sowie ein Leitfaden der Experimentalphysiologie für Zoologen, Mediziner und Lehrer höherer Lehr- anstalten. Von Dr. phil. Hubert Erhard, Privatdoz. f. Zoologie an der Univers. Gießen. Mit 83 Abbild, im Text. XXVI, 127 S. gr. 8° 1916 Mk 52.80, geb. Mk 90.— Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Konservieren von Tieren, von Prof. Dr. Friedrich »ahi. Dritte, verbesserte und vermehrte Auflage. Mit 274 Abbildungen im Text. IX, 147 S. gr. 8° 1914 Mk 48.—, geb. Mk 78.— Grundlagen einer ökologischen Tiergeographie. Von Professor Dr. Friedrich Dahl. Mit 11 Abbild, im Text und 2 Karten. VIII, 106 S. gr. 8° 1921 Mk 44.-, geb. Mk 56.— Inhalt: 1. Die Verteilung der Tierarten auf die Biologie und die Feststellung ihrer Häufigkeit. 2. Die ökologischen Faktoren. 3. Ausbreitungsmittel und Ausbreitungshindernisse. 4. Die vergleichende Biocönotik. 5. Die Verbreitung der Tierarten. 6. Entwicklungszentren und Ausbreitungsherde auf der Erde. 8. Eine tiergeographische Einteilung der Erdoberfläche. — Register. Die moderne Weltanschauung und der Mensch, sechs öffentliche Vorträge. Von Dr. phil. Benjamin Vetter, weil. Prof, an der sächs. techn. Hochschule in Dresden. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Ernst Haeckel in Jena und einem Bildnis des Verfassers. Sechste Auflage. XII, 143 S. gr. 8° 1921 Mk 32.—, geb. Mk 44.— Inhalt: 1. Einleitendes. — 2. Das einheitliche Weltbild der modernen Forschung. — 3. Der Mensch. — 4. Das Sittengesetz auf natürlicher Grundlage. — 5. Religion und Philo- sophie. — 6. Entwicklungsgeschichte der Religion und ihre philosophische Begründung. Zu- sammenfassung der Eigebnisse und Ausblick auf künftige Zustände des Menschengeschlechts. Die Zeichenkunst im Dienst der beschreibenden Naturwissenschaften. Von Ferdinand Bruns, Zeichenlehrer am Realgymnasium in Barmbeck- Hamburg. Mit 6 Abbildungen im Text und 44 Tafeln. VIII, 100 S. 4° (30x23 cm). 1922 Mk 90.—, geb. Mk 115.— Inhalt: Einleitung. — Das Zeichnen der „Primitiven“. — Zeichnen nach ebenen Gebilden: 1. Blattformen. 2. Schmetterlingsflügel. 3. Die Verwendung der Hinweisstriche. 4. Das Kopieren. 5. Das Zeichnen nach ebenen Schnitten. — Zeichenapparate. — Re- produktionstechnik: Die photomechanischen Reproduktionsmethoden (Lichtdruck, Autotypie, Strichätzung). ■ — Zeichnen nach räumlichen Gebilden: 1. Das Projektionszeichnen (Blatt- spurstränge, Blütengrundrisse). 2. Blattüberschneidungen (Gedrehte und gewundene Achsen- gebilde). 3. Die Perspektive (Blütenstände). — Die Silhouette. — Schwarz-Weiß-Malerei. — Licht und Schatten. — Spiegelung und Reflex. — Das Zeichnen nach mikroskopischen Präparaten. — Das Wandtafelzeichnen. — Aus der Geschichte des naturwissenschaftlichen Zeichnens. — Namen- und Sachverzeichnis. HOFBUCHDRUCKEREI F. MITZLAFF, RUDOLSTADT Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. somenzahl auf die Hälfte der Norm erreicht worden ist. So hat Günther Hertwig parthenogenetische Larven von Bufo dadurch gezüchtet, daß er ihre Eier mit Froschsamen, der durch intensive und lange Bestrahlung mit Radium zur normalen Weiterentwick- lung unfähig gemacht worden war, zur Entwicklung anregte. Die auf diesem Weg erhaltenen parthenogenetischen Krötenlarven zeigten nun nicht nur bei der Teilung ihrer Kerne die haploide Chromo- somenzahl 12, sondern auch im Zusammenhang hiermit einen Zwerg- wuchs. Sie wiesen nur die halbe Größe im Vergleich zu normal entwickelten Larven auf. Der Zwergwuchs sprach sich fast in allen Verhältnissen ihrer Organisation aus, in der Kleinheit ihrer Zellen und ihrer bläschenförmigen Ruhekerne von fast allen Organen, wie Gehirn, Rückenmark, Augen, Linsen, Hörbläschen, Muskelprimi- tivbündeln, Muskelsegmenten etc. aus. Ähnlich waren die Ergeb- nisse bei parthenogenetischen, nach der gleichen Methode gewonnenen Larven von Triton. Leider lassen sich alle diese parthenogene- tisch entwickelten Amphibien nicht über ein gewisses Larven- stadium und ein Alter von 3 — 4 Wochen hinauszüchten, so daß es zur Zeit aussichtslos erscheint, eine zweite Generation auf diesem Wege zu erhalten, um die Konstanz der Rasse festzustellen. Was dagegen die Gigasformen der verschiedenen Pflanzen- arten betrifft, so ist von ihnen bekannt, daß sie sich durch mehrere Generationen hindurch bei der Stammbaumzucht als durchaus kon- stant erweisen. Daher tragen DE Vries, Gates, Baur u. a. gegen- über abweichenden Ansichten durchaus keine Bedenken, dieselben als gute Arten anzusehen. 3. Dritte Gruppe. Mutation der Artzelle durch direkte Veränderung ihres Idioplasma. (Heterogenesis von Korschinsky. Idiovariation 1). Außer der Veränderung durch Kombination, die nur auf dem Wege der Befruchtung erfolgt, und außer der Veränderung durch Vermehrung oder Verminderung der Chromosomenzahl kann das 1) de Vries, H., Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich, Bd. 1. Die Entstehung der Arten durch Mutation, 1901. — D er selb e , Gruppenweise Artbildung, 1913. — Derselbe. Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation. Vorlesungen, ins Deutsche über- tragen ron H. Klebahn, Berlin 1906. — Korschinsky , S., Heterogen esis und Evo- lution. Ein Beitrag zur Theorie der Entstehung der Arten, Flora, Bd. 89, 1901. — Nilsson-Ehle , Kreuzungsnntersuchungen an Hafer und Weizen, Lund 1909. — Fischer, E., Experimentelle Untersuchungen Über die Vererbung erworbener Eigen- schaften. Allg. Zeitschrift f. Entomol. , Bd. 6, 1901. — Derselbe, Weitere Unter- suchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. Ebenda, Bd. 7, 1902. — 23 Neuntes Kapitel. 356 Idioplasma eine andere Beschaffenheit infolge direkter Bewirkung durch Verlust von alten oder durch Erwerb von neuen Anlagen oder durch Umgruppierung derselben gewinnen. Das Studium dieser wichtigsten Form der Mutabilität ist durch die Idioplasma- theorie von NäGELI und durch die bahnbrechenden Untersuchungen von DE V RIES wesentlich gefördert worden und hat zurzeit sich einer besonderen Beachtung und Wertschätzung zu erfreuen. In- dem ich mich ihm zuwende, sei gleich von vornherein bemerkt, daß ich den Begriff der Mutabilität, wie schon aus der im ersten Satz dieses Abschnittes gegebenen Definition (S. 347) hervorgeht, in einer etwas allgemeineren Fassung, als es von DE Vries ge- schieht, gebrauche. Denn abgesehen von der Kombination zweier Idioplasmen durch Befruchtung und abgesehen von der Verände- rung der Chromosomenzahl, verwende ich ihn nicht nur für sprung- weise erfolgende, sondern überhaupt für alle Veränderungen, die im idioplasmatischen System eintreten und dauernde Umgestaltungen der Organismen in ihrer Nachkommenschaft zur Folge haben. Da wir vom Bau des Idioplasma nichts Bestimmtes "wissen, können auch Veränderungen in ihm nur in hypothetischer Form vorgestellt werden. Sie können darin bestehen, daß einzelne An- lagen im Gegensatz zu anderen geschwächt werden und schließlich vollkommen verloren gehen (Verlustmutation), während andere eine allmähliche oder plötzliche Stärkung erfahren. Im ausgebildeten Organismus würde sich dies durch geschwächte oder verstärkte Ausbildung oder durch vollständigen Verlust eines Merkmals für uns wahrnehmbar machen. Es können aber ferner auch ganz neue Anlagen zu dem bereits vorhandenen Schatz hinzuerworben werden. Sie können sich entweder allmählich entwickeln oder mehr unver- mittelt auftreten, so daß der ausgebildete Organismus sich von seinen Vorfahren durch ein früher nicht vorhanden gewesenes Merkmal in auffälliger Weise unterscheidet. Veränderungen im Idioplasma können aber auch auf Umgruppierungen oder auf einer veränderten Konfiguration der im idioplasmatischen System schon vorhandenen zahlreichen Erbeinheiten beruhen, geradeso wie das Wesen einer in einem labilen Zustand sich befindenden kompli- zierten chemischen Verbindung durch Umlagerung einzelner Atome oder Atomgruppen verändert werden kann. Standfuss, Zur Frage der Gestaltung und Vererbung auf Grund 28-jäliriger Ex- perimente. Vortrag, Zürich 1905. — Tower , JV. L., An investigation of eeolution in chrysomelid beetles of the genus Leptinotarsa. Washington, published by the Carnegie Institution, 1906. — Man vergleiche auch die in Kap. XIII und XIV zitierten Schriften über Vererbung. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, Im Grunde genommen handelt es sich in den kurz auseinar^der- gesetzten Veränderungen des Idioplasma nur um Möglichkeiten ; denn was wirklich in ihm geschieht, entzieht sich ja unserer Wahr- nehmung, da es sich auf dem unseren Sinnen nicht zugänglichen Molekulargebiet abspielt. Wahrnehmbar werden uns die im Idio- plasma vorausgesetzten Veränderungen erst in ihren Folgen, in den veränderten erblichen Merkmalen des ausgebildeten Organismus, (Man vergleiche hierüber Kap. XIII.) Bei dem gegenwärtigen, noch wenig befriedigenden Zustand unserer Kenntnisse werde ich mich darauf beschränken , einige besser erforschte Fälle von Mutation aus dem Protisten-, Pflanzen- und Tierreich zu besprechen. Auch auf diesem Gebiete sind die Versuche an Tieren viel schwieriger auszuführen und daher noch wenig zahlreich. a) Mutation der Artzelle im Protistenreich. Um durch experimentelle Versuche Mutationen künstlich zu erzeugen, sind die einzelligen Lebewesen ganz besonders geeignet, weil bei ihnen unzählige Generationen aufeinander folgen und sich schon im Laufe eines Jahres unter den gleichen abgeänderten Kultur- bedingungen aufziehen lassen. Daher sind auf diesem Gebiet ge- wiß noch viele und wichtige Ergebnisse von einer zielbewußten Forschung zu erwarten. Obwohl eine solche erst in jüngster Zeit begonnen hat, liegen doch bereits schon einige wichtige Ergebnisse vor, von denen ich eine kurze Zusammenstellung aus meiner all- gemeinen Biologie (IV Aufl. 1912. S. 686 — 689. V Aufl. 1920. S. 716 — 719) gebe. Wie durch Pasteur und andere experimentell festgestellt ist, können virulente Bakterienarten, wie der Milzbrandbazillus, die Mikroorganismen der Hühnercholera etc., ihre giftigen Eigenschaften verlieren, wenn sie unter außergewöhnlichen Bedingungen in be- sonderen Nährlösungen oder bei hoher Temperatur gezüchtet werden. Die so durch äußere Eingriffe neuerworbenen Eigenschaften haften in manchen Fällen den Bakterien so fest an, daß sie dieselben auch auf ihre Nachkommen übertragen. Es müssen also auch hier wieder materielle Veränderungen in ihnen eingetreten sein , die erblich sind, so daß man von einer neuen, künstlich erzeugten „physio- logischen Varietät“ des Milzbrandbazillus etc. sprechen kann Die Varietät behält auch ihre Eigenschaften in vielen Generationen bei, wenn die abnormen Zuchtbedingungen schon längst aufgehört haben, z. B. wenn sie sich in einem für Milzbrand sonst empfäng- 358 Neuntes Kapitel. liehen Versuchstier entwickelt; sie kann sogar dieses gegen die virulente Varietät immun machen. Ferner lassen sich aus farbstoff bildenden Bakterien unter ge- eigneten Kulturbedingungen farblose Rassen züchten, in denen der neuerworbene Charakter, auch wenn sie sich wieder unter normalen Verhältnissen befinden, für längere Zeit erblich fixiert ist. Eine neue Rasse erhielt auf diese Weise Schottelius durch Kultur des Micrococcus prodigiosus bei 41 0 C. Gleichzeitig war bei ihr auch die Produktion von Trimethylamin unterdrückt. Ebenso züchteten Charrin und Phisalix den Bacillus pyocyaneus und Laurent den roten Kieler Bazillus in farblose Rassen um. Die Eigenschaft, Sporen zu bilden, welche viele einzellige Organismen zeigen, kann ebenfalls unterdrückt, und durch erbliche Fixierung können sporenlose (asporogene) Rassen gezüchtet werden. Roux gewann eine solche durch Zusatz von etwas Karbolsäure zu einer Kultur von Bacillus anthracis, PHISALIX durch Erwärmung auf 42 0 C. „Die fixierte asporogene Rasse gewann die Fähigkeit zur Sporenbildung auch dann nicht zurück, als durch geeignete Be- dingungen (Passage durch den Tierkörper) die Virulenz restau- riert wurde, die in den genannten Experimenten zugleich mit der Fähigkeit zur Sporenbildung unterdrückt worden war.“ Besonders sorgfältig sind die wichtigen Versuche an ver- schiedenen Arten von Hefepilzen (Saccharomyces), welche Hansen über eine Reihe von Jahren ausgedehnt hat, wobei er sich der Zucht „in reinen Linien“ bediente. Dadurch daß er die Hefezellen bei höheren Temperaturen, bei denen Wachstum noch stattfindet, einige Zeit kultivierte, gelang es ihm, die Sporenbildung zu unter- drücken. Diese kehrte auch dann nicht zurück, wenn die so be- handelten Objekte wieder unter Bedingungen gebracht wurden, unter denen es. normalerweise zur Sporenbildung kommen würde. Die neu entstandene asporogene Form war derartig erblich ge- festigt, daß die neuerworbene Eigenschaft bei fortgesetzter Rein- kultur unter normalen Verhältnissen sich als völlig konstant erwies. „Es hat hier offenbar“, bemerkt auch Johannsen (1Q09, 1. c. p. 344 und 1915, 1. c. p. 654) zu diesem Versuch, „die hohe Temperatur eine Störung in der genotypischen (d. h. erblichen) Grundlage der genannten Organismen hervorgerufen.“ Auch er bezeichnet sie als „künstlich erzeugte Mutation“. b) Mutation der Artzelle im Pflanzenreich. Von Gärtnern und Tierzüchtern ist hie und da beobachtet worden, daß unter einer großen in Kultur befindlichen Zahl von Individuen Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. ^ g einer bestimmten Pflanzen- oder Tierspecies zuweilen einzelne Exem- plare auftreten, die sich in irgendeinem auffälligen Merkmal von ihresgleichen unterscheiden und dasselbe auch auf ihre Nachkommen- schaft übertragen. Sie können dann durch getrennte Fortzucht zum Ausgangspunkt für eine neue Pflanzen- oder Tierrasse werden, zumal wenn die plötzlich neu aufgetretene Eigenschaft das besondere Interesse des Züchters erweckt und irgendeinen Vorteil darzubieten scheint. Über derartige Fälle ist in der Literatur schon vor Jahr- hunderten und bis in die Neuzeit teils von Züchtern, teils auch von Forschern berichtet worden. Zusammenstellungen hierüber mit anschließenden allgemeinen Erörterungen sind von Ch. Darwin in seinem großen Werk über das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation, ferner von den Botanikern Kor- SCHINSKY und DE Vries gegeben worden. Fast alle diese Fälle sind aber nicht wissenschaftlich genauer verfolgt und bis ins ein- zelne hinein aufgeklärt worden. Erst in den letzten Jahrzehnten hat de Vries einen großen Fortschritt auf diesem Gebiet herbei- geführt. In seinem ausgezeichneten zweibändigen Werk „Die Mu- tationstheorie, Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich“ hat er sich als Ziel die Aufgabe ge- stellt, durch direkte Beobachtung, sowie durch Kulturen und Ver- suche die Gesetze kennen zu lernen, welche die Entstehung neuer Arten beherrschen. Da bei Pflanzen, die sich im Zustand der Mu- tation befinden, neue Arten nicht nur einmal oder in wenigen Indi- viduen, sondern alljährlich und in großer Anzahl erzeugt werden, hält er es für möglich, durch genaue Beobachtung solcher Pflanzen in groß angelegten Kulturen und durch experimentelle Nachkommenprüfung mutierender Individuen die Entstehung von Arten ebenso leicht wie jede andere Naturerscheinung zum Gegenstand genauer Unter- suchung zu machen. Um zu erfahren, was eine sprunghafte Mutation ist und wie sie entsteht, wird es sich daher empfehlen, wenn wir einige Fälle be- sprechen, die von de Vries nach seinem Programm analysiert worden sind. Als solche wähle ich die Hervorbringung gefüllter Blüten von Chrysanthemum segetum und die Entstehung der Pelorie bei Linaria. Mutation von Chrysanthemum segetum. Schon von vielen Gartenpflanzen werden gefüllte Varietäten gezogen und von Gärtnern in den Handel gebracht; manche von ihnen haben bereits ein hohes Alter. In einem 1671 erschienenen, Neuntes Kapitel. 360 mit Abbildungen ausgestatteten Buche des Holländers Munting werden, wie DE Vries ausführt, viele gefüllte Varietäten von Mohn, Leberblümchen, Goldlack, Veilchen, Caltha, Althaea, Colchicum, Immergrün etc. beschrieben. Die ersten gefüllten Petunien ent- standen 1855 zufällig und plötzlich aus gewöhnlichem Samen der ungefüllten Art in einem Garten in Lyon; sie haben die Mutter- pflanzen geliefert, von denen die im Handel befindlichen zahlreichen Varietäten abstammen. Einer jüngeren Zeit gehören auch die ge- füllten Kornblumen und die gefüllten Glockenblumen an. Fig. 61. Experimentelle Umwandlung” der gewöhnlichen Blüte von Chrysanthemum segetum in die gefüllte Form. Nach de Vries. i gewöhn- liche Form, 2 Chr. grandiflorum mit bereits vermehrter Zahl der Strahlenblüten, 3 Chr. segetum grandiflorum plenum, eines der Köpfchen, die in den Kulturen des Verfassers 1899 zuerst Zungenblüten in der Scheibe zeigten, 4 fast völlig und 5 völlig gefülltes Körbchen. Um die Entstehung einer gefüllten aus einer einfachen Blüte Schritt für Schritt zu verfolgen, wählte DE Vries zu seinen Ver- suchen die Saat- Wucherblume, Chrysanthemum segetum, die bis dahin nur als ungefüllte wilde Art bekannt war, aber einer Gattung angehört, von der schon verschiedene andere Arten im Garten kultiviert werden und auch als gefüllte Varietäten, wie Chrysanthe- mum indicum, carinatum, inbricatum, inodorum etc., bekannt sind. Chrysanthemum gehört zu den Kompositen, deren Korbblüte aus einer Scheibe kleiner Röhrenblüten und einem einfachen Kranz größerer Zungenblüten besteht, deren Zahl der fluktuierenden Varia- bilität unterliegt und zwischen 8—21 für gewöhnlich schwankt (Fig. 61, 1). Durch mehrjährige Kulturen isolierte DE Vries eine reine Linie einer Mutterpflanze, bei deren Nachkommen die Zahl der Randblüten um 21 fluktuierte und sich auch in den folgenden Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. Generationen konstant erhielt. Im Jahre 1896 fand er unter 1500 Pflanzen ein Exemplar, bei welchem 2 Endköpfchen 22 Randblüten besaßen; er ließ es durch Insekten mit dem Blütenstaub einiger der besten Pflanzen derselben Gruppe befruchten, während alle übrigen Exemplare vernichtet wurden. Durch fortgesetzte Zucht in 3 Jahren und Auswahl der geeignetesten Blüten (Fig. 61, 2) wurde die Durchschnittszahl der Randblüten bis auf 34, schließlich auf 48 und 66 gesteigert, doch war hiermit immer noch nicht der entscheidende Schritt zur Füllung getan ; denn dieser beruht darauf, daß mitten in der Scheibe Zungenblüten zwischen den röhren- förmigen entstehen. Erst im Herbst 1899 wurde eine solche Ver- änderung an 3 Köpfchen einer Pflanze zum ersten Male bemerkt (Fig. 61,3). Von da an machte die Füllung bei weiterer Kultur rasche Fortschritte. Im Jahre 1900 konnten 100 Zungenblüten, im Jahre 1901 deren sogar 200 in den Körbchen gezählt werden. Diese sind, wie de Vries hierzu bemerkt, so vollkommen gefüllt, wie die besten Körbchen der schönsten gefüllten Handelssorten der Kompositen (Fig. 61, 4 und 5). Von dieser Zeit an war die neue Rasse auch wirklich sichergestellt; „sie war mit einem Mal dauernd und konstant geworden“. Denn wie DE Vries besonders hervor- hebt, wurden wirkliche Atavisten oder zurückschlagende Pflanzen nach der ersten Reinigung der Rasse nicht mehr gesehen ; auch bei fortgesetzter Kultur wurden im Sommer 1903 ebenso viele und ebenso vollständig gefüllte Köpfchen erhalten wie vorher. In dem soeben in seinen einzelnen Zügen dargelegten Vorgang sieht DE Vries das Bild einer in Sprüngen erfolgten Mutation. „Der Sprung kann von dem Vorfahr im Jahre 1895 oder von der Pflanze von 1899, welche die ersten zentralen Zungenblüten zeigte, gemacht worden sein, oder der Umschlag kann allmählich während dieser 4 Jahre aufgebaut worden sein. In jedem Fall war ein Sprung da, der im Gegensatz steht zu der Anschauung, welche eine sehr lange Folge von Jahren für die Entwicklung jeder neuen Eigenschaft in Anspruch nimmt.“ Mit dem Auftreten der ersten Zungenblüten in der Scheibe war eine neue Sachlage geschaffen ; es handelte sich bei der weiteren Kultur jetzt nicht mehr um Aus- lese. Denn „alle Nachkommen dieser ursprünglichen mutierten Pflanze zeigten die neue Eigenschaft, Zungenblüten in der Scheibe, ohne Ausnahme. Nicht an allen Körbchen, auch nicht an der Mehr- zahl der Körbchen einiger Individuen, aber an einigen Körbchen gaben alle Pflanzen einen deutlichen Beweis von dem Besitz der neuen Eigenschaft. Dieselbe war bei allen Vertretern der neuen 3 62 Neuntes Kapitel. Rasse zugegen und war niemals vorher bei irgendeinem ihrer Eltern und Großeltern bemerkt worden.“ Hierin sieht DE Vries offenbar einen plötzlichen Sprung, zum mindesten in der äußeren Gestalt der Pflanzen; aber es scheint ihm „die einfachste Vorstellung zu sein , daß dieser sichtbare Sprung direkt jener inneren Ver- änderung entspricht, welche die vollständige Erblichkeit der neuen Eigenschaft hervorbringt“. Mutation von Linaria vulgaris. Von der wilden Art von Linaria vulgaris ist die pelorische Mutation, wie sich in der Literatur nachweisen läßt, zu verschie- denen Zeiten und in verschiedenen Ländern mehrfach von selbst entstanden. Während beim gewöhnlichen Leinkraut nur ganz vereinzelte pelorische Blüten von Zeit zu Zeit beobachtet werden, bringt die Varietät solche ganz ausschließlich hervor (Fig. 62). Bei seinen mit Linaria an- gestellten Versuchen mußte DE Vries acht Jahre verwenden, um das Zustandekommen der Mutation festzustellen. Er begann seine Gartenkulturen 1886 mit einigen im Freien gesammelten wilden Pflanzen, die eine oder zwei pelorische zwischen den normalen Blüten zeigten. Die aus den Samen gezüchteten Pflanzen blühten reichlich, brachten aber 1889 nur eine und 1890 nur 2 pelorische Blüten Fig. 62. Linaria vul- hervor- In der dritten Generation wurde garis, Leinkraut, pelori- unter einigen Tausenden von Blüten nur VRms^D^Fig. 62Cze“t eine einzige pelorische Blüte mit 5 Spornen die gewöhnliche Form der aufgefunden. Sie brachte reichlich Samen her- uctfBiüiL5SrrPeiosriSch: vor> der aiiein für die Kuitur von 18 ^ aus- Rechts ist eine Blüte der gesät wurde. Die Keimlinge wurden einzeln normalen Art. jn Töpfe mit stark gedüngter Erde ge- steckt, unter Glas zugedeckt erhalten und dadurch zu früherer Blüte gebracht. Unter ihnen war aber nur eine Pflanze mit einer pelorischen Blüte aufzufinden. Diese und ein zweites gewöhnliches Individuum derselben Kultur wurden, da die Blüten nur bei Kreuzbefruchtung durch Bienen Samen hervorbringen, zur weiteren Fortzucht bestimmt, alle übrigen Exemplare vernichtet. Aus diesem Pflanzenpaar ist dann die pelorische Rasse von DE Vries entstanden. Aus ihrem Samen konnten 1894 50 blühende Pflanzen gezüchtet Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. ^53 werden. „Unter diesen wurden vereinzelte pelorische Blüten in etwas größerer Zahl als in den vorauf gehenden Generationen be- merkt, indem 1 1 Pflanzen eine, zwei oder sogar drei solche Bildungs- abweichungen trugen.“ Außerdem aber war noch eine einzelne Pflanze vorhanden, die nur pelorische Blüten hatte ; sie wurde über- wintert, blühte im nächsten Jahre wieder reichlich und brachte wieder ausschließlich pelorische Blüten hervor. Das Ziel der acht- jährigen Versuche, die Hervorbringung einer pelorischen Rasse aus einer normalen Stammform war erreicht unter genauer Beobachtung der Ahnenreihe von 4 Generationen, bis die ge- wünschte Mutation in einem Exemplar mit einem Male auftrat. DE Vries erblickt in diesem Experiment den sicheren Nach- weis eines plötzlichen Sprunges von normalen, jahrelang in Zucht befindlichen und einer strengen Kontrolle unterworfenen Pflanzen mit sehr seltenen pelorischen Blüten zu einem ausschließlich pelo- rischen Typus, in dem keine Erinnerung an den früheren Zu- stand zurückblieb. Denn keine einzige Blüte an der mu- tierten Pflanze schlug zu dem ursprünglichen Typus zurück. Auch ist es wichtig, zu beachten, daß keine Übergangs- stufen bemerkt wurden. Denn unter den Tausenden von Blüten, welche die Eltern während zweier Sommer getragen hatten, war nur die einzige Blüte, welche zum Versuch und zur Fortzucht be- nutzt wurde, bei täglicher Durchsicht gefunden worden. Als nach diesem Ergebnis DE Vries den Rest des Samens von der Mutterpflanze, welcher die vollständige Mutation geliefert hatte, aussäte und ebenso wie früher etwa 2000 junge Pflanzen in kleine Töpfe mit gut gedüngtem Boden pflanzte, erhielt er 1750 blü- hende Pflanzen und fand unter ihnen wieder 16 vollständig pelorisch gewordene Exemplare. Das zweite Experiment hatte daher etwa 1 Proz. Mutanten in der ganzen Ernte geliefert. Durch weiter ausgedehnte Versuche mit anderem Material wurde außerdem noch festgestellt, daß die Mutation sich in ver- einzelten Fällen — es wurden noch 3 Mutanten erhalten — wieder- holen kann. Sie muß daher als der Ausdruck einer verborgenen Tendenz betrachtet werden. Endlich wurde durch fortgesetzte Zucht der Mutanten noch die Frage geprüft, ob die Pelorie zu einer erblich konstanten Eigenschaft geworden ist. Die Beant- wortung der Frage ist bei Linaria mit einigen Schwierigkeiten verknüpft, weil die pelorischen Pflanzen in hohem Grade unter sich unfruchtbar sind; nur bei Kreuzung mit den normalen Rassen liefern sie einen guten Samenertrag. Trotz dieser Schwierigkeiten 364 Neuntes Kapitel. gelang es von den vor Fremdbestäubung behüteten Mutanten ver- einzelte rudimentäre Kapseln mit wenigem Samen zu erhalten. Aus ihnen wurden 119 Pflanzen zur Blüte gebracht. Unter diesen waren 106 Exemplare, also etwa 90 Proz. pelorisch, dagegen nur 13 Exem- plare oder 10 Proz. normal, das heißt: sie waren zum ursprüng- lichen Typus zurückgeschlagen oder Atavisten. Nach dem Ausfall dieses Experiments kann die als Mutation aufgetretene Pelorie in der neuen Linariarasse als eine erblich gewordene Eigenschaft, als ein Neuerwerb ihres Idioplasma, angesehen werden. Wenn wir jetzt noch die Frage nach den Entstehungsursachen der beiden als Beispiel auf geführten Mutationen auf werfen, so möchte ich nur folgendes hierzu bemerken : Die Ursache wird zum Teil in einer gewissen Disposition des Idioplasma einzelner Arten zu suchen sein, Veränderungen schon bei leichteren An- stößen zu erfahren, als es bei konstanteren oder mehr in sich ge- festigten Arten der Fall ist. Die Anstöße aber oder die äußeren Faktoren, die bei Chrysanthemum, bei Linaria und anderen ähnlichen Fällen zur Entstehung einer Mutation erforderlich sind, werden in der Kultur und besonders in der mit ihr verknüpften, reichlichen Er- nährung zu suchen sein. Der große Gegensatz, der zwischen der Uniformität der wilden Arten und der Neigung zu Veränderungen bei allen in Kultur befindlichen Arten besteht, spricht sehr für diese Annahme. Die Gärtner sind daher auch im allgemeinen der An- sicht, daß reichliche Ernährung bei Pflanzen das Auftreten von Ver- änderungen begünstigt, z. B. darauf hinwirkt, gefüllte Blumen her- vorzubringen. Auch DE Vries, Klebs u. a. messen der eingrei- fenden Veränderung in der Ernährung eine Ausschlag gebende Bedeutung bei. In den Versuchen mit Chrysanthemum segetum und mit Linaria wurden die jungen Keimpflanzen, aus denen schließ- lich Füllung der Blüten und Pelorie an einzelnen Mutanten erzielt wurden, in reichlich gedüngter Gartenerde großgezogen. Es scheint daher, daß das Auftreten von Veränderungen irh Idioplasma oder von Mutationen auf dem Zusammenwirken innerer und äußerer Faktoren beruht. In dieselben allmählich tiefere Einblicke zu ge- winnen, wird eine der Hauptaufgaben sein, mit welchen sich die experimentelle Biologie in Zukunft noch zu beschäftigen haben wird. Von theoretischen Gesichtspunkten aus wird diese Frage noch einmal in dem Kapitel über Vererbung eingehender erörtert werden. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 3Ö5 Weniger genau studierte Mutationen im Pflanzenreich. Im Anschluß an die sorgfältiger untersuchten und daher aus- führlicher behandelten Fälle von Mutation auf botanischem Gebiet gebe ich noch eine kurze Übersicht über einige andere sprung- hafte Veränderungen, welche in der einschlägigen Literatur gewöhn- lich auf geführt werden. Viel erwähnt wird als eine plötzlich neu- entstandene, elemen- tare Art das schlitz- blätterige Schöllkraut, Chelidonium maius 1 a c i n i a t u m (Fig. 64). Es unterscheidet sich von der gewöhnlichen Form , Chelidonium maius (Fig. 63), durch seine tief fiederteiligen Laubblätter und durch die Kronblätter der Blüte , deren Rand ebenfalls durch mehrere Einschnitte in 2 Lappen mit kleineren Läppchen abgeteilt ist. Es wurde im Jahre 1590 vom Apotheker SPRENGER in Heidelberg zum ersten Male in seinem Garten entdeckt, in welchem er viele Jahre vorher das gewöhnliche Schöllkraut gezogen hatte. Es wurde von ihm in mehreren Exemplaren an einige Botaniker verschickt, welche es als eine neue Art anerkannten. Von Heidelberg aus ist das Chelidonium maius laciniatum, welches sonst an keinem an- deren Standort beobachtet werden konnte, in vielen anderen Gärten Europas kultiviert, auch in England eingeführt worden, und wird jetzt auch in verwildertem Zustand beobachtet. Von Anfang an ist es samenbeständig gewesen, so daß es jetzt in jeder Beziehung als Fig. 63. Chelidonium maius. Die gewöhnliche Form. Nach de Vries. Neben dem Zweige sind eine Blüte und ein Kronblatt für sich noch etwas größer abgebildet. 366 Neuntes Kapitel. eine vollständig elementare Art angesehen werden muß, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch Mutation aus Chelidonium maius in Heidelberg entstanden ist. Eine dornenlose Abart der Gleditschia sinensis, welche 1774 aus China in Europa eingeführt worden ist, wurde 1823 in der Baumschule von Caumzet unter zahlreichen Sämlingen einer Aussaat in 2 Exemplaren gewonnen. Es ist wahrscheinlich, — kann aber nicht sicher nachge- wiesen werden, — daß viele Bäume mit zer- schlitzten Blättern, wie die schlitzblättrigen Ul- men , Erlen , Ahorn e Haselnüsse, Birken, Buchen u. a., in ähnlicher Weise wie das Chelido- nium laciniatum durch gelegentlich auf tretende Mutation entstanden sind. Auch die Trauer- form mancher Laub- bäume und Koniferen ist bei größeren Aussaaten bei einem oder bei wenigen Exemplaren als plötzlich ausgebildete Neuheit beobachtet wor- den, so Gleditschia tria- canthos pendula in einer . Chelidonium maius laciniatum, Baumschule zu Chäteau- schhtzblatterige Mutation des Schöllkrauts. Nach DE Vrjes. Neben dem Zweige sind eine Blüte und ein Thierry , die Trauben- Kronblatt, die das Varietätsmerkmal der grünen Laub- DtrQ Tf , Filfte Kd,ei Oberschnabels, ° Di Dillenkante des Unterschnabels. „unter sich befestigt, bald durch krämpenartig umgeschlagene Leisten, die ineinander greifen (Cicaden), bald durch gekrümmte Haken oder Dornen, die den ver- dickten vorderen Rand der Hinterflügel umfassen (Bienen und Schmetterlinge). In anderen Fällen überragen die Ränder der Vorderflügel die hinteren um eine solche Strecke, daß sie sich nicht aneinander vorbeibewegen können.“ Für die beiden anderen Typen der Flugwerkzeuge , die den 442 Zehntes Kapitel. Vögeln und den fliegenden Säugetieren eigen sind, gilt die schon früher für die Flossen der Meerschildkröten und der Pinnipedier gemachte Bemerkung, daß sie durch einen Funktions Wechsel und durch eine hiermit zusammenhängende Umbildung aus der Ex- tremität der Landbewohner, die ursprünglich als Hebelwerk ein- gerichtet war, her vor gegangen sind. Bei den Vögeln und Fleder- mäusen ist dies wieder in einer wesentlich verschiedenen Weise geschehen. Die Vögel benützen nur das vordere Extremitätenpaar als Flügel. Die Aufgabe, an diesem eine genügend große Flug- fläche herzustellen, ist mit Hilfe des Federkleides gelöst worden (Fig. 95). In der Haut des Schwanzes und der vorderen Extremitäten haben die Federn eine sehr beträchtliche Größe, eine regelmäßige Anordnung und einen sehr kunstvollen Bau erhalten. Sie werden von den einfacheren Dunen als Konturfedern unterschieden und diese zerfallen wieder in Schwanz- und Flugfedern. An jeder Konturfeder ist schon ihre Fahne (Vexillum) für sich als eine kleine Flugfläche ausgebildet. Sie setzt sich aus zwei Reihen parallel verlaufender, verhornter Äste (Rami) zusammen, die zu beiden Seiten des Federschaftes dicht nebeneinander in einer Ebene an- geordnet sind. Damit nun die Fahne als eine zusammenhängende Tragfläche gegen die Luft wirken kann, dürfen die kleinen Horn- ästchen durch den Luftdruck, dem die Vogelflügel beim Gebrauch ausgesetzt sind, nicht umgebogen und überhaupt nicht aus ihrer Lage gebracht werden. Auch hierfür ist durch eine besondere Einrichtung gesorgt. Bei mikroskopischer Untersuchung wiederholt nämlich jeder Ramus „im kleinen das Bild, welches die gesamte Feder ergibt: wie diese mit den Ästen, sind die Äste wieder in Aedriger Anordnung links und rechts mit den Radien ausgerüstet. Die Radien bedingen den festen Zusammenschluß des Vexillums, da bei der großen Nähe benachbarter Äste die zugewandten Radien sich in ihrem Verlauf kreuzen und decken; dabei greifen die hinte- ren mit den gebogenen Häkchen, den Radioli, von oben zwischen die vorderen ein.“ (RiCH. Hertwig.) Jedes Seitenplättchen des Schaftes wird so mit dem zunächstliegenden durch zahlreiche Häkchen fest verbunden, und es wird durch diese Vorrichtung, wie Bergmann und Leuckart bemerken, „nicht bloß dem Ganzen der nötige innere Zusammenhang gegeben — man kann sich an frischen Schwungfedern leicht von dem Aneinanderhängen der Blättchen überzeugen — sondern es wird auch der Weg, welchen die Luft zwischen den Blättchen hätte, großenteils verstopft.“ Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 443 Die Einrichtung bietet eine gewisse Analogie zu den früher (S. 441) besprochenen, umgekrümmten Leisten und Haken dar, durch welche bei Insekten der vordere und hintere Flügel einer Seite zu einer einheitlichen Flugfläche miteinander verbunden werden. Wie schon das Vexillum für sich eine kleine Flugfläche dar- stellt, so sind auch die Schwungfedern in der Haut der vorderen Extremität so angeordnet, daß sie zusammen wieder eine große Flugfläche in vollkommener Weise bilden. Zu dem Zwecke sind sie in mehreren Reihen (D, D;, D"), die sich dachziegelartig über- einander legen, in der Haut befestigt, in welche sie sich mit der Federspule tief einsenken. Hier sind sie durch Sehnen unterein- ander verknüpft , so daß sie gleichzeitig , ohne aus ihrer Ordnung zu kommen, aufgerichtet und niedergelegt werden können. Auch kleine, eigene Muskelchen, die sich an den Schaft ansetzen, treten mit in Wirksamkeit. Indem sich die Schwungfedern sowohl mit ihren Fahnen als auch durch ihre Übereinanderlagerung in Reihen teilweise decken, wird die Flugfläche für Luft undurchlässig und widerstandsfähig genug, um auch bei kräftigem Fliegen die Luft wie die Flosse das Wasser, zu verdrängen. Fig. 96. Plüg-elskelett des Storches. Nach Gegenbaur. h Humerus, r Radius, u Ulna, c, c' Carpalia der ersten Reihe, m verschmolzene Carpalia der zweiten Reihe und Metacarpen, p, p\ pu Phalangen der 3 ersten Finger. Ihre feste Stütze finden die Flügel in einem Knochengerüst das die typischen Stücke der landbewohnenden Wirbeltiere auf- weist, aber entsprechend dem eingetretenen Wechsel der Funktion seinen neuen Aufgaben in anderer Weise als bei der Flosse ange- paßt ist (Fig. 96). Denn da die Flügel aus dem früher erwähnten Grunde eine viel größere Oberfläche als die Flosse besitzen müssen, so sind auch Humerus (A), Radius (r), nnd Ulna (u) sogar von er- heblicher Länge; Metacarpus (m) und Phalangen (p, p\ p“) sind in der Zahl der Radien stark reduziert. Da ferner die Flügel als einarmige Hebel gleich der Flosse wirken, sind die Gelenke, durch welche die Knochen in Ober-, Unterarm und Hand verbunden sind, in ihrer Beweglichkeit sehr beschränkt. Carpalknochen, Metacarpus und Phalangen sind, soweit sie keine Rückbildung erfahren haben, sogar teilweise untereinander verschmolzen. Ein vollständig freies 444 Zehntes Kapitel. Gelenk besteht nur zwischen Humerus und Schultergürtel. Dieser ist als Stützpunkt für den Flügel, dessen Bewegung besonders große Muskelmassen erfordert (s. S. 162), in seinen einzelnen Teilen (Sternum mit Crista, Furcula und Coracoid) auch entsprechend kräftig ausgebildet. Bei den fliegenden Säugetieren dienen als Tragflächen zum Schweben in der Luft zwei mächtige Hautfalten, die sich zu beiden Seiten des Körpers der vorderen und hinteren Extremität entwickelt haben (Fig. 97). Sie füllen aber nicht nur den Zwischenraum zwischen diesen aus, sondern setzen sich sowohl nach vorn bis zum Kopf als nach rückwärts bis zum Schwanzende der Wirbelsäule fort. Sie erzeugen so im ausge- breiteten Zustand eine noch viel größere Oberfläche als die beiden Flügel desVogels mit ihren Konturfedern. Um die dünne, nachgiebige Flughaut im ausgebreiteten Zustand beim Gebrauch zu versteifen und den sie be- wegenden Muskeln feste Angriffspunkte zu bieten, werden die Skeletteile der beiden Extremitäten ver- wandt. Dieselben sind zwar in morphologischer Be- ziehung die gleichen wie bei den Gehwerkzeugen der Landbewohner, aber an ihre besondere Gebrauchsweise auch wieder wie bei der Flosse der Pinnipedier und Seeschildkröten, nur in entgegengesetzter Richtung, angepaßt. Dies tritt besonders an der vorderen Extremität hervor, da hier die Flughaut die größte Ausdehnung erreicht und auch durch die Muskulatur der vorderen Gliedmaßen wie bei den Flügeln der Vögel in Bewegung versetzt wird. Wie bei diesen sind daher Ober- und Unterarmknochen stark verlängert, aber noch mehr schließen sich an die kleinen Carpalstücke die enorm langen Knochen derMittelhand und der Finger an und nehmen wie die Speichen eines ausgespannten Regenschirms den großen Randbezirk der Flughaut zwischen sich. Da zum Gebrauch der Gliedmaßen zum Fliegen eine kräftige Flugmuskulatur erforderlich ist, sind die Brustmuskeln, wie schon für die Klasse der Vögel aus- . einandergesetzt wurde (S. 162), gut ausgebildet; ferner ist in Fig. 97. Skelett und Flughaut des fliegenden Hundes. Nach Huxley. Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 445 Korrelation hierzu auch eine Crista sterni, allerdings im Vergleich zur Crista der Vögel in geringeren Dimensionen als Ansatzfläche für die Muskulatur entstanden. Auch noch in anderer Richtung läßt sich der Grundsatz, daß die Gebrauchsweise die Gestalt der Teile bestimmt und in den verschiedenen Klassen des Tierreichs zu konvergenter Natur- züchtung führt, an den Extremitäten in unzähligen Einzelheiten nach weisen, von denen nur noch zwei kurz hervorgehoben seien. Bei Fortbewegung auf dem Lande treten die beiden hinteren Gliedmaßen als Werkzeuge, um den Körper vorwärts zu stoßen, nach ihrer Lage vorzugsweise in Wirksamkeit, während die vorderen mehr zur Stütze und häufig auch wegen nachbarlicher Beziehungen zum Kopf zur Ausführung feinerer Manipulationen benutzt werden. Dementsprechend sind die Hintergliedmaßen sowohl in ihrem Skelett als auch in der zur Bewe- gung erforderlichen Mus- kulatur kräftiger entwickelt, wie man an dem Hinter- lauf der Hasen , die unter den Nagetieren die besten Läufer sind , deutlich er- kennen kann. Am aus- geprägtesten aber wird dieser Unterschied, wenn XT Weibchen von Locusta caudata. ’ Nach Brunner von Wattenwyl. Nur die Beine die t Ortbewegung auf der linken Seite abgebildet. Das hinterste Beinpaar dem Lande sich in eine ist zu Sprungbeinen umgebildet. I Legebohrer. sprungartige ver- wandelt. Denn das Springen beruht darauf, daß die hinteren Gliedmaßen durch besonders kräftige Muskelaktion von dem Erd- boden abgestoßen werden, während die vorderen hierbei überhaupt nicht in Aktion treten. Daher sehen wir bei allen springenden Landtieren, mögen sie dem Stamm der Wirbeltiere oder der Arthro- poden angehören , die Hinterextremitäten in allen ihren Bestand- teilen solche Dimensionen annehmen, daß sie oft um ein Mehrfaches die vorderen an Länge und Dicke übertreffen. Unter den Säuge- tieren ist dies bei den Springmäusen und in besonders hohem Grade bei dem Känguruh der Fall, bei dem ein auffälliger Größenunter- schied zwischen den kleinen , zum Laufen überhaupt nicht mehr benutzten, vorderen Extremitäten und den gewaltigen Sprung- beinen besteht. An diesen sind in Korrelation zu der sehr kräftigen Muskulatur auch alle Skelettstücke des Oberschenkels, des Unter- 446 Zehntes Kapitel. Schenkels und des Fußes entsprechend länger und stärker ausge- bildet. Ganz analoge Verhältnisse bieten hierzu die springenden Insekten dar, die auch wieder den verschiedensten Ordnungen und Familien angehören können und daher in keinem verwandt- schafdichen Zusammenhänge miteinander stehen , wie die Heu- schrecken (Fig. 98), die Flöhe etc. etc. Ihre hinteren Gliedmaßen (Fig. 98) zeigen eine dem Känguruh vergleichbare Umwandlung; sie sind in ihren einzelnen Abschnitten oft doppelt und dreifach so lang wie die vorderen und entsprechend kräftig gebaut. Zumal der Femur ist enorm dick, da in ihm die beim Springen in Aktion tretende, kräftige Streckmuskulatur eingebettet ist. Sehr lehrreich sowohl für die Anpassung der Extremitäten an ihre besondere Gebrauchsweise, als auch für konvergente Natur- züchtung ist die Ordnung der Huftiere (Fig. 99). Ihre meisten Vertreter zeichnen sich durch die Schnelligkeit ihres Laufes aus, obwohl ihre zwei Beinpaare eine größere Körperlast zu tragen und fortzubewegen haben. Im Vergleich mit anderen Ordnungen der Säugetiere hat der Fußabschnitt ihrer Gliedmaßen eine wichtige und eigenartige Veränderung dadurch erfahren, daß „die primitive plantigrade Lokomotion“, wie sich GEGENBAUR ausdrückt, in die „digitigrade“ umgewandelt ist. Aus ursprünglichen Sohlengängern sind Zehengänger geworden. Anstatt der ganzen, durch Tarsus, Metatarsus und Phalangen gestützten Fußfläche dienen nur die letzten Fußglieder zum Stützpunkt des schweren Körpers und sind im Zusammenhang hiermit in einen dicken, durch Verhornung der Epidermis entstandenen Huf eingeschlossen. Tarsus, Metatarsus und die ersten Phalangen beschreiben mit dem Boden, von dem sie durch Muskelaktion abgehoben sind , einen mehr oder minder spitzen Winkel und schließen sich dadurch in ihrer Richtung an die Unterschenkelknochen an. Indem die Metatarsen sich noch außerdem in der Längsrichtung stark vergrößert haben , rückt das Fußgelenk sehr weit vom Boden ab und wird vom Laien nicht selten mit dem Kniegelenk verwechselt. Durch diese Einrichtung ist das zusammengesetzte Hebelwerk, welches die Extremität der Landbewohner darstellt, noch um einige weitere auf den Boden senkrecht gestellte Hebelarme (Metatarsus, Phalangen) vermehrt und noch komplizierter geworden ; zugleich ist der ganze Rumpf über den Boden mehr in die Höhe gehoben, und der Mechanis- mus seiner Lokomotion vervollkommnet. Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 447 Die Verlagerung des Stützpunktes des Körpers auf das letzte Zehenglied hat dann noch weiter zur Folge, daß die 5 Zehen, in welche die pentadaktyle Grundform der Säugetiergliedmaßen ausläuft, durch den Körper in ungleicher Weise belastet sind ; denn die mittleren liegen mehr in der Drucklinie des Körpers als die seitlichen. Jene werden daher in höherem Maße als diese funktionell in Anspruch genommen. Und das äußert sich wieder bei der Ge- staltbildung wie überall im Organismenreich darin, daß die stärker beanspruchten, mittleren Zehen kräftiger entwickelt werden, während die anderen die entgegengesetzte Richtung einschlagen und schließ- lich infolge ihrer immer geringer werdenden Beanspruchung mehr oder minder stark oder ganz verkümmern. In erster Linie sind hiervon die erste und die fünfte Zehe als die am meisten rand- ständigen betroffen. Hier liegt nun wieder ein interessanter Fall konvergenter Naturzüchtung vor. Denn bei den beiden Unterord- nungen der Ungulaten, bei den Perissodactylen und den Arti o- dactylen, ist die beschriebene Umgestaltung des Fußskeletts in ganz selbständiger Weise eingetreten, weil bei ihnen trotz gleich- artiger funktioneller Umwandlung zugleich auch ein wichtiger morphologischer Unterschied besteht, der uns von einer Erklärung aus Vererbung auf Grund gemeinsamer Abstammung ganz abzu- sehen zwingt. Der Unterschied liegt darin, daß bei den Perisso- dactylen (Fig. 99 A) die dritte mittlere Zehe (III) allein zur Haupt- stütze, auf der die Last des Körpers ruht, geworden ist, bei den Artiodactylen (Fig. 99 B) dagegen teilen sich dritte und vierte Zehe (III und IV) gleichmäßig in diese Aufgabe und sind daher gleich stark entwickelt. Im Hinblick auf dieses scharfe Unterscheidungs- merkmal werden ja auch die einen als Unpaarhufer, die anderen als Paarhufer bezeichnet. In jeder der beiden Gruppen lassen sich die zu ihnen gehörigen Arten in einer Reihe anordnen, die uns gleichsam die einzelnen Stationen in der Rückbildung der ursprünglich pentadaktylen Grund- form veranschaulicht. In beiden Reihen stehen am Anfang der Umwandlung die Arten, deren Fußskelett sich aus 4 ungleich großen Zehen aufbaut (Fig. 99 A 1 und B 1). In beiden ist die erste Zehe ganz rückgebildet. Unter den Paarhufern gehören hierher die Schweinearten (Fig. 99 B 1). Ihre zweite (II) und fünfte ( V ) Zehe sind viel kleiner als die dritte (III) und vierte (IV), die gleich stark sind, am Fußrand erheblich weiter vorstehen und daher den Boden allein berühren. Auch die Metatarsalia 2 und 4 sind schwächer und 448 Zehntes Kapitel. kürzer und mit ihren die Zehen tragenden Gelenkflächen mehr nach oben gerückt. Unter den Wiederkäuern (Fig. 99 B 2 u. 3) hat die Rückbildung der seitlichen Zehen noch weitere Fortschritte gemacht, und es sind bei ihnen zugleich die dritten und vierten Metatarsalia untereinander zu einem kräftigen Skelettstück verschmolzen, das an seinem distalen Ende zwei getrennte Gelenkflächen besitzt und die beiden Hauptzehen trägt Bei dem Hirsch (B 2), der Ziege u. a. sind die zweiten und fünften Metatarsalia mit den zugehörigen Zehenphalangen (II und V) so stark verkümmert, daß sie mit ihren A Perissodactylen B Artiodactylen Tapir Nashorn Pferd Schwein 3 zf /n Hirsch Kamel Fig. 99 A u. B. Fußskelett der vorderen Extremität der Huftiere. Nach Flower aus R. Hertwig. A Fußskelett der Perissodactylen oder Unpaarhufer. B Fuß- skelett der Artiodactylen oder Paarhufer. U Ulna, R Radius, s Scaphoid (Radiale), l Lunatum (Intermedium), c Triquetrum (Ulnare), p Pisiforme, trn Trapezium, td Tra- pezoid, m Capitatum, u Hamatum, m 2, m5 Rudimente des Metacarpus II u. V. II bis V die zweiten bis fünften Finger. Hufen, den Afterklauen, nur noch als nutzlose Anhängsel dem ver- schmolzenen Metartarsus ansitzen. Bei den Tylopoden (Fig. 99 B 3) sind auch diese Reste geschwunden. Ihr Fußskelett besteht jetzt nur noch aus den verschmolzenen dritten und vierten Metatarsen, die an getrennten Gelenkflächen die kräftige dritte und vierte Zehe (III und IV) tragen. Damit hat der Reduktionsprozeß in dieser Reihe seinen höchsten Grad und seinen Abschluß erreicht. Vergleichen wir hiermit als Pendant die Perissodactylen (Fig. 99 A). Ein vierzehiges Fußskelett findet sich beim Tapir (Fig. 99 A 1). Die dritte Zehe (III) ist die kräftigste und springt Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 449 am vorderen Fußrand am weitesten nach außen vor; etwas schwächer und kürzer sind die zweite (II) und vierte (IV), einander gleich großen Zehen. Die fünfte (V) ist die kleinste und tritt am weitesten am lateralen Fußrand zurück. Wenn diese sich ganz rückgebildet hat, wie beim Rhinoceros, ist das Fußskelett ein dreizehiges ge- worden (Fig. 99 A 2). Nun beginnen auch die zweite und vierte Zehe dem Reduktionsprozeß, den sie beim Tapir und Nashorn schon begonnen haben, ganz zu verfallen; beim Pferd (Fig. 99 A 3) sind sie schon vollkommen geschwunden, bis auf ihre beiden Metatar- salia (II und IV), die sich als sehr dünne, biegsame Knochen- stäbchen „Griffelbeine“ genannt, dem ansehnlichen Metatarsale der dritten Zehe (III) angelagert haben. So hat das Pferd auch das dem Kamel entsprechende Endstadium der ganzen Reduktionsreihe erreicht. Fig. 100. Vorderfuß der Stammform des Pferdes. 1 Orohippus (Eocän), 2 Mesohippus (unteres Miocän), 3 Miohippus (Miocän), 4 Protohippus (oberes Pliocän), 3 Pliohippus (Pleistocän), 6 Equus. II — V zweiter bis fünfter Finger. Nach Wieders- HEIM. Der auf vergleichend -anatomischem Wege festgestellte Um- wandlungsprozeß der pentadactylen Grundform in eine paarhufige oder unpaarhufige Endform beim Kamel resp. Pferd hat durch paläontologische Forschungen noch an Interesse gewonnen. Be- rühmt sind besonders die fossilen Formen aus der Familie der Equiden. In den verschiedenen Schichten des Tertiärs hat man Skelette von Pferdearten gefunden, die, je nachdem sie einer älteren oder einer jüngeren Erdformation angehören, auch eine Reihe von Formen des Fußskeletts zeigen, die sich durch allmählich erfolgende Reduktion voneinander ableiten lassen (Fig. 100). Der im Eocän gefundene Orohippus (1) gleicht dem Tapir (Fig. 99 A 1) in seinem vierzehigen Fußskelett. Dreizehig wie das Rhinoceros (Fig. 99 A 2) sind Mesohippus aus dem unteren Miocän (Fig. 100,2), Miohippus (3) aus dem Miocän und Protohippus (4) aus dem oberen Pliocän; sie zeigen aber noch untereinander kleine Unterschiede in der Reduktion, O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 29 450 Zehntes Kapitel. indem das Metatarsale (F) bei Mesohippus schon rudimentär, bei Miohippus noch kleiner geworden und bei Protohippus ganz ge- schwunden ist. „Im Pleistocän beginnen dann die einzehigen Pferde- arten (Fig. ioo, 5 und 6), zunächst die noch mit großen Griffel- beinen ausgerüstete Gattung Pliohippus (F), dann die Repräsen- tanten der Gattung Equus (6) selbst.“ Um die Verschiedenheiten zwischen der Entwicklung der ver- v schiedenen Strahlen des pentadactylen Typus bei den Perissodac- tylen und Artiodactylen kausal zu erklären, wurde auf Seite 447 die Annahme gemacht, daß statische Momente auf die Entwicklung der Knochen in der Art einwirken, daß die funktionell stärker beanspruchten kräftiger werden und umgekehrt die entlasteten schwächer. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht ein schon 1864 von Sedillot ausgeführtes lehrreiches Experiment. Der französische Physiologe entfernte bei jungen Hunden von den beiden Unterschenkelknochen teilweise die Tibia, indem er das Mittelstück resezierte. Die ganze Last des Körpers, welche sich sonst auf Tibia und Fibula verteilte, wirkte jetzt allein auf letztere ein. Die Folge von derartigen Operationen war, daß nach längerer Zeit die Fibula, die normalerweise fünf- bis sechsfach schwächer als die Tibia ist, diese an Größe und Dicke erreicht hatte, ja endlich selbst noch übertraf. Elftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur (Fortsetzung). Dritter Abschnitt. Die Anpassung der Organismen aneinander. Aus seinen umfassenden und scharfsinnigen Beobachtungen der lebenden Natur hat Darwin, wie er selbst sagt, einen Folge- satz von größter Wichtigkeit abgeleitet, nämlich den Satz: „daß die Struktur eines jeden organischen Gebildes auf die wesentlichste, aber oft verborgene Weise zu der aller organischen Wesen in Be- ziehung steht, mit welchen es in Konkurrenz um Nahrung oder Wohnung kommt oder vor welchen es zu fliehen hat oder, von welchen es lebt.“ In der Tat sind die Organismen nicht nur mit der unbelebten Natur, sondern ebenso auch untereinander durch ein ungemein verwickeltes Netz von Beziehungen verbunden. Bald sind die Beziehungen nur locker, bald mehr oder minder fest, so daß sie die ganze Lebensweise und selbst die Organisation und Struktur eines Geschöpfes wesentlich mitbestimmen und zuweilen über Leben und Tod desselben entscheiden. Sie entwickeln sich hier zwischen verschiedenen Pflanzenarten, dort zwischen Pflanze und Tier, dort wieder zwischen zwei Tierarten und führen dadurch zwischen den Lebewesen die mannigfachsten Zusammenhänge her- bei, von denen man einige besonders auffällige mit eigenen Namen als Symbiose, als Kommensualismus, als Parasitismus etc. bezeichnet hat. Somit bildet die Erörterung, wie die spezifische Gestaltung der Geschöpfe durch ihre Beziehungen von anderen beeinflußt wird, eine wichtige Ergänzung zu dem vorausgegangenen Abschnitt. a) Anpassungen zwischen Pflanzenarten. Die berühmteste Anpassung zweier Pflanzenarten aneinander liefern uns die Flechten. Wegen ihrer eigentümlichen Form und 29 45 2 Elftes Kapitel. Lebensweise wurden sie in früheren Zeiten allgemein für eine arten- reiche und weitverbreitete Klasse niederer, leicht unterscheidbarer Pflanzen gehalten, bis durch die morphologischen Untersuchungen von De Bary und Schwendener und durch die experimentellen und entwicklungsgeschichtlichen Arbeiten von Baranetzky, Rees und Stahl nachgewiesen wurde, daß sie eine soziale Verbindung von zwei Pflanzen, die im System weit auseinanderstehen, also eine Symbiose von Pilz- und Algenarten sind. Anstatt einer einfachen Fig. ioi. Stark vergrößerter Durchschnitt durch ein Stück riechte. Nach Stahl. Die Eiechte setzt sich zusammen i) aus den Pilzfäden (P) die, sich in allen Richtungen durchkreuzend, ein dichtes Geflecht bilden, und 2) aus den Algen- zellen (^4), die grün gefärbt und wie Stücke einer Perlschnur aneinandergereiht, im Pilz- geflecht liegen. Organismen art, wie wir sie im System gewöhnlich vor uns haben, repräsentiert jede Flechte ein merkwürdiges Doppelwesen (Fig. 101). Ihre eine Komponente sind Pilzfäden (P) aus der Abteilung der Ascomyceten ; sie liefern durch ihre Verzweigung ein dichtes Ge- flecht, in dessen Maschen als zweite Komponente zahllose kleine Algenzellen (A) mit bald grünen, bald roten, bald gelben Farb- stoffen ein geschlossen sind. Da die Algen wegen ihres Farbstoffes auf Licht und Luft zur Unterhaltung ihres Lebensprozesses an- gewiesen sind, nehmen die Flechten bei ihrem Wachstum ähnliche Formen an, wie die vielzelligen, chlorophyllhaltigen Pflanzen. Ent- weder bilden sie, wie die Laubflechten, flächenartig ausgebreitete Blätter und Krusten, oder sie stellen, wie die Bartflechten, vielfach verzweigte, kleine Büschel dar. Ihre zahlreichen verschiedenen Anpassungen der Organismen aneinander. 453 Arten aber kommen dadurch zustande, daß immer eine bestimmte Pilzart sich nur mit einer bestimmten Algenart vergesellschaftet. Durch ihre Symbiose ergänzen sich die beiden artverschiedenen Komponenten der Flechten in ihrem Stoffwechsel, der ja bei Pilzen und Algen in einem gewissen Gegensatz erfolgt. Denn die Algen- zellen allein sind wie die chlorophyllhaltigen Pflanzen befähigt, die Kohlensäure der Luft aufzunehmen und zu zersetzen und aus diesem Ausgangsmaterial Kohlehydrate und mit ihrer Hilfe wieder andere organische Substanzen zu bilden ; dagegen sind die Pilze, da ihnen mit dem Chlorophyll auch die Kohlensäureassimilation abgeht, zu ihrem Lebensunterhalt auf schon fertig vorhandene organische Sub- stanzen angewiesen. Die Pilze sind daher entweder Parasiten auf anderen Pflanzen oder vegetieren auf organischen, in Zersetzung begriffenen Substraten, z. B. als Humusbewohner. Als Bestandteile der Flechten aber sind die zur Gruppe der Ascomyceten gehörenden Pilze in ihrer Verbreitung von organischen Substraten unabhängig geworden, da sie das notwendige Nährmaterial sich direkt von den Assimilationsprodukten der Algen aneignen. Diesen dagegen werden Salze und Flüssigkeit wieder von dem auf einer Unterlage ausge- breiteten Pilzmycel zugeführt. Infolgedessen sind die Flechten be- fähigt, an Standorten vorzukommen, auf denen jeder Komponent für sich allein zugrunde gehen würde. Vermögen sie doch Krusten selbst auf festen Gesteinen, auf Sand-, auf Quarz- und Granitfelsen zu bilden, indem die Pilzfäden in sie eindringen und die Mineralien zersetzen, während sie sich von den Algenzellen mit organischer Substanz versorgen lassen. Auch bei den Flechten besteht also zwischen ihren beiden Kom- ponenten eine physiologische Arbeitsteilung. Diese unterscheidet sich aber von den Fällen, die wir schon früher im vierten Kapitel (S. 139) eingehend besprochen haben, in einem sehr wesentlichen und wichtigen Punkte. Während bei Pflanzen und Tieren die arbeitsteilig gewordenen Zellen, auch wenn sie noch so stark von- einander differenziert worden sind, artgleich bleiben, erhält sich bei den Flechten die Artverschiedenheit der beiden Komponenten, auch bei der innigsten Gemeinschaft, selbst dann, wenn die eine ohne die andere nicht existieren kann und wenn das von ihnen gebildete Doppelwesen den Eindruck eines einheitlichen Organismus beim Beobachter hervorruft und vom Systematiker daher auch als eine Species behandelt wird. In einem Punkte tritt die doppelartige Natur der Flechten stets in voller Klarheit zutage, nämlich bei ihrer Fortpflanzung. Die Pilzzelle besitzt niemals die Fähigkeit, eine 454 Elftes Kapitel. Algenzelle hervorzubringen. Die eine Zellenart kann auf die andere ihre Eigenschaften nicht übertragen. Soll ein neuer Flechtenorga- nismus daher gebildet werden, so ist dies nur in der Weise möglich, daß der Pilzkörper und der Algenkörper ihre eigenen Fortpflanzungs- zellen liefern. Diese werden dann nach ihrer Abtrennung vom Mutterorganismus bei ihrer Keimung wieder durch Zufall zusammen- geführt und vereinigen sich von neuem zu einem Mischgebilde. Aus der Pilzspore wächst ein Mycelfaden hervor, der sich eine Zeitlang durch Sprossung vergrößern kann, aber schließlich zugrunde geht, wenn er nicht mit der als Partner ihm zugehörigen Algenart zusammentrifft. Ist dies aber geschehen, so legt er sich ihr innig an und umspinnt sie mit Seitenästen, die er treibt. Beide beein- flussen sich dann in der Art ihres Wachstums so sehr, daß sie zu- sammen eine durch bestimmte Merkmale genau charakterisierte Lebensform bilden, welche weder mit Pilzen noch mit Algen eine entfernte Ähnlichkeit hat. Zu einer interessanten Anpassung kommt es übrigens auch bei der Fortpflanzung vieler Flechten. Anstatt daß sich die Keime der beiden Symbionten getrennt aussäen und durch zufälliges Zusammen- treffen zu einem Doppel wesen von neuem vereint werden, können im Flechtenthallus auch gleich Fortpflanzungsprodukte, die beide Be- standteile enthalten , entstehen. Es sind kleine, sporenähnliche Körperchen aus wenigen Algenzellen (Gonidien), die gleich von Pilzhyphen umsponnen sind. Sie werden Soredien genannt. In- dem sie an manchen Stellen in größerer Zahl angelegt werden, treten am Thallus Wülste und Polster auf, die bei erlangter Reife aufbrechen und ihren Inhalt, ein feines, mehliges Pulver, ausstreuen. Durch den Wind über weite Strecken verbreitet können die Soredien, wo sie geeignete Bedingungen auf einem Substrat finden, gleich zu einer neuen, jungen Flechte auswachsen, da sie ja schon beiderlei artverschiedene Fortpflanzungszellen in sich vereinigen. So ist der Fortbestand des Doppel wesens schon gleich beim Fortpflanzungsakt durch die Soredien sichergestellt. Nicht minder deutlich als bei den Flechten läßt sich der Ein- fluß , den die Anpassung zweier Pflanzen aneinander auf ihre Lebensweise und Gestaltbildung ausübt, beim pflanzlichen Para- sitismus, also bei den zahlreichen Fällen erkennen, in denen eine Art als Parasit von einer anderen als ihrem Wirt in irgendeiner Weise Nutzen zieht. Ohne auf die verschiedenartigen, oft sehr interessanten Anpassungserscheinungen der parasitischen Pilze ein- zugehen, will ich nur an einigen höher organisierten Pflanzen kurz Anpassungen der Organismen aneinander. 455 nachweisen, wie die Anpassung an eine Wirtspflanze die Beschaffen- heit mancher Organe und Gewebe in mehr oder weniger auffälliger Weise abändert. Ich wähle die Mistel, die Cuscuta- und Orobanche- arten, welche eine Stufenfolge interessanter, auf Parasitismus be- ruhender Metamorphosen darbieten. Die Mistel (Viscum album) schmarotzt auf den Ästen von Apfelbäumen, Pappeln und anderen Arten, aus deren Holzkörper sie anstatt aus dem Boden Feuchtigkeit und Nährsalze aufsaugt. Zu dem Zweck durchbohren ihre Wurzeln die junge Baumrinde, in deren tieferen Schichten sie weiterwachsen und von hier aus unter rechtem Winkel zahlreiche kleine Seitenzweige, die Senker, in den Holzkörper hineintreiben. Mit ihrer Hilfe bezieht die Mistel aus dem Saftstrom des Wirtes ihren eigenen Bedarf. Die Ausbreitung der Viscumwurzeln im Wirtsgewebe anstatt in der Erde hat zur Folge, daß sie von dem charakteristischen Bau echter Wurzeln wenig erkennen lassen. „Selbst das so bezeichnende axile Gefäß- bündel ist“, wie Sachs hervorhebt, „wesentlich reduziert; besonders auffallend aber ist die den Umständen angepaßte Eigentümlichkeit der Senker, daß ihr Vegetationspunkt sich in Dauergewebe um- wandelt, während das allerdings unbeträchtliche Längenwachstum an derjenigen Stelle fortgeführt wird, welche in der Cambiumschicht des Baumastes liegt.“ Dagegen ist der oberirdische Teil der Mistel durch den Parasitismus nur wenig verändert, da er in Zweige und Blätter mit chlorophyllhaltigen Zellen gegliedert ist, in derselben Weise wie andere Phanerogamen funktioniert . und selbst durch Erzeugung von Kohlehydraten etc. zum Wachstum beiträgt. Viel'intensiver sind manche andere Phanerogamen, wie Cus- cuta, Orobanche etc., durch den Parasitismus verändert worden, indem sie sich in ihrer ganzen Ernährung von dem Wirt abhängig gemacht haben. Sie haben ihren Chlorophylapparat eingebüßt und müssen daher außer Saft und Salzen auch noch fertige organische Substanzen, Kohlehydrate, Zucker usw. in gelöstem Zustand von der zweiten Pflanze beziehen. In solchen Fällen äußert sich die para- sitische Lebensweise nicht nur in einer noch intensiveren Veränderung der Wurzeln, sondern auch in einer weitgehenden Umgestaltung des oberirdischen Pflanzenkörpers. Die Wurzeln sind in Haustorien um gewandelt, welche an verschiedenen Stellen in den Wirtskörper eindringen und ihn bis ins Mark hinein durchsetzen. Hierbei verlieren sie noch mehr als bei der Mistel den typischen Bau der Wurzeln. Denn das Gewebe der Haustorien löst sich schließlich in einzelne Zellfäden auf, die sich auf das innigste mit dem Gewebe der Wirtspflanze und mit 456 Elftes Kapitel. ihren Gefäßen im Holzkörper verbinden und dadurch befähigt werden, ihnen jetzt auch organische Verbindungen zu entziehen. In anderen Fällen eines derartig weiter entwickelten Parasitismus (Rafflesiaceen) ist es dann nur bei sorgfältiger Untersuchung möglich, überhaupt eine Grenze zwischen den durcheinander gewachsenen Geweben der beiden Spezies nachzuweisen. Der Parasit bestreitet jetzt seinen gesamten Haushalt auf Kosten der Wirtspflanze, und dies macht sich dann auch wieder bei der ganzen Gestaltung seiner oberirdischen Teile geltend. Der Mangel des Chlorophylls, der die echten Schma- rotzer, wie Orobanche, Cuscuta, Monotropa, Rafflesien, etc. kenn- zeichnet, wirkt der Oberflächenentwicklung, welche chlorophyllhaltige Zellen nach den früher besprochenen Regeln pflanzlichen Wachs- tums (S. 381) notwendig machen, direkt entgegen und macht sie über- flüssig. Daher „besitzt keine einzige chlorophyllfreie oder sehr chlorophyllarme Pflanze“, wie L. Sachs (1. c. 1882. p. 444) zu- sammenfassend bemerkt, „den gewöhnlichen Habitus, am aller- wenigsten die großen Blätter, überhaupt die Flächenentwicklung und den schlanken Wuchs der normalen Pflanzen. Dies ist in so hohem Grade der Fall, daß jeder auch nicht mit botanischen Dingen Vertraute sofort in den chlorophyllfreien Schmarotzern und Kopro- phyten Organismen von ganz eigenartiger Struktur erkennt. Kein anderes biologisches Verhältnis bewirkt eine so tiefgreifende, die gesamte Organisation treffende Veränderung in den Pflanzen, wie der Chlorophyllmangel und die Aufnahme organischer Substanz : dies geht so weit, daß auch die Fortpflanzungsorgane in hohem Grade degradiert und beeinflußt werden, daß alle chlorophyllfreien Pflanzen, selbst wenn sie von hochorganisierten phanerogamen Typen abstammen, durch äußerst kleine, oft fast mikroskopische Samen ausgezeichnet sind und daß die Embryonen in diesen Samen oft nur wTenigzellige, äußerlich nicht gegliederte Körper darstellen : bei den Rafflesien, Balanophoren, Orobanchen, Monotropa ohne jede Spur von Wurzel- und Sproßanlage, bei den Cuscuteen nur mit schwacher Andeutung einer solchen.“ b) Anpassungen zwischen Pflanze und Tier. 1. Die Anpassung der insektenfressenden Pflanzen. Auch Pflanzen und Tiere können in so innige Lebensbeziehungen zueinander treten, daß infolgedessen die wunderbarsten Anpassungen in der Gestaltung einzelner Organe zustande kommen. Bald ist hierbei die Pflanze, bald das Tier der veränderte und angepaßte Anpassungen der Organismen aneinander. 457 Teil, bald ist bei beiden eine gegenseitige Veränderung nach Art eines korrelativen Verhältnisses ein getreten. Kann es wohl, wenn wir mit dem ersten Gegenstand unseres Themas beginnen, etwas Merkwürdigeres als die Einrichtungen geben, durch die sich die „insektenfressenden Pflanzen“ abweichend von fast allen Phanerogamen nach Art von Fleischfressern ernähren! Nachdem die ersten Beobachtungen und Experimente über Ver- dauung tierischer Substanzen durch einzelne Pflanzen schon früher von mehreren Forschern, Kanby, Treat, Hooker (1866 — 1874) gemacht worden waren, hat Darwin in seiner Monographie „Insectivorous plants“, 1875, das interessante Thema erschöpfender behandelt und zu einem Gegenstand von allgemeinwissenschaftlichem Interesse ge- macht Jetzt kennt man nicht weniger als 500 insektenfressende Phanerogamen, die 15 Gattungen angehören und für den gleichen Zweck zum Teil ganz verschieden- artige Einrichtungen unabhängig von- einander entwickelt haben. Um einen Ein- blick in dieselben zu gewinnen , soll hier nur auf Drosera, Pinguicula, Dionaea und Nepenthes kurz eingegangen werden. Unser einheimischer Sonnentau, Dro- sera rotundifolia, welcher auf Moorflächen gedeiht , besteht aus einer Rosette von wenigen gestielten kleinen Blättern, aus deren Mitte zur Blütezeit ein Blütenstengel senkrecht emporsteigt. Jedes Blatt (Fig. 102) ist kreisrund und trägt auf seiner Oberfläche stielartige Auswüchse, die soge- nannten Tentakel, die nach dem Rande an Länge zunehmen. Die Tentakel sind an ihren Enden knopfartig verdickt und zu einer Art von Drüse umgewandelt, durch die sie glänzende Tröpfchen eines zähen, klebrigen Schleims ausscheiden, mit ihnen kleine In- sekten, die auf das Blatt kriechen, festkleben und bis zu ihrem Tode festhalten. Hierauf wird durch den Reiz des festgeklebten Insekts eine saure und pepsinhaltige Flüssigkeit von den Drüsen- haaren ausgeschieden, zugleich aber werden durch ihn auch die in der weiteren Umgebung gelegenen Tentakel veranlaßt, sich umzu- krümmen, sich über das Insekt hinüberzulegen und es mit ihrem her- vorquellenden Sekret zu übergießen. Durch allmählich erfolgende Fig. 102. Blatt von Drosera rotundfolia, von oben gesehen , mit einge- krümmten Tentakeln auf der linken Seite. Nach Darwin. 458 Elftes Kapitel. Umbiegung des ganzen Blattrandes wandelt sich schließlich das Blatt in eine mit dem sauren, peptonisierenden Ferment gefüllte Schale um. Wenn nach längerer Zeit alle verdaubaren Bestand- teile des Insekts in Lösung übergeführt und von den Pflanzenzellen resorbiert worden sind, richten sich die Tentakel allmählich wieder in ihre ursprüngliche Lage auf, und ebenso breitet sich das Blatt wieder glatt aus, an dessen Oberfläche die ausgesaugten Chitinhüllen so lange anhaften, bis sie abfallen. Fig. 103. Finguicula vulg-aris, Fettkraut. Nach Weismann. A Die ganze Pflanze mit eingerollten Blatträndern und einigen von ausgeschiedenem Schleim gefangenen Insekten. B Querschnitt durch ein solches Blatt, 50 mal vergrößert, r Rand desselben Dr, Dr‘ die zweierlei Drüsen, bei C 2 80 mal vergrößert. Ähnliche Verhältnisse bietet das gleichfalls in Mooren ver- kommende Fettkraut, Pinguicula vulgaris, dar (Fig. 103 A). Es besitzt eine Rosette von dicken, saftgrünen, zungenförmigen Blättern. Auf der sammetartigen Oberfläche derselben (Fig. 103 C) finden sich zwei Arten von Drüsen, die ein peptonisierendes, saures Sekret ausscheiden und sich mit einem Pilzhut vergleichen lassen, der bei der einen Art einem längeren Stiele aufsitzt, bei der anderen fast im Niveau der Blattfläche liegt. An der klebrigen Oberfläche Anpassungen der Organismen aneinander. 459 feslgehaltene Insekten werden allmählich in einen großen Tropfen Sekret eingeschlossen, abgetötet und verdaut. Auch hier rollen sich die Blattränder infolge des Reizes langsam nach oben zusammen (Fig. 103 B). Die bei Drosera und Pinguicula noch wenig ausgebildete* Fähig- keit der Blätter, sich an ihren Rändern einzukrümmen, hat zu einer weit vollkommneren , merkwürdigen Einrichtung bei der Fliegen- falle, Dionaea muscipula, geführt. Ihre Blätter (Fig. 104 A) bestehen aus zwei symmetrischen Hälften, die durch eine breite, die Fort- setzung des Stiels bildende Mittelrippe voneinander getrennt sind. Im Zu- stand der Ruhe haben sie die Form einer Rinne, deren Wände zusammen einen rechten Winkel bilden. Die Ränder der Blätter sind mit einer Reihe starker langer Stacheln besetzt. Ferner erheben sich auf der oberen Fläche jeder Hälfte drei feine Borsten, die gegen jede Berührung äußerst empfindlich sind, wie die Tastborsten in der Oberhaut wirbelloser Tiere. Ihre Berührung hat ein plötzliches und kräftiges Zusammenklappen der beiden Blatthälften zur Folge (Fig. 104 B). Wenn daher Fliegen oder selbst größere und kräftigere Tiere, wie Kellerasseln, auf das Blatt kriechen und an die Tastborsten anstoßen, so eines Blattes mit geschlossener Spreite, werden sie sofort durch das Zu- sammenklappen der Blatthälften in eine Falle eingeschlossen. Es besteht für sie um so weniger eine Möglichkeit, aus dem Ge- fängnis zu entschlüpfen, als die oben erwähnten starken Stacheln der beiden Ränder wie die ineinander geschobenen Finger zweier Hände zusammengreifen und einen festen Verschluß herstellen, der sich nicht früher löst, als bis die eingefangene Beute verdaut ist. Denn in der Tat kann man das zusammengeklappte und zu einem Sack geschlossene Dionaeablatt mit einem tierischen Magen ver- gleichen. Wird doch von zahlreichen Drüsenhaaren mit scheiben- förmigen Endköpfchen ein ähnliches Sekret wie bei Drosera etc, ausgeschieden. Je nach der Größe des eingefangenen Tieres kann, es 3 bis 6 Tage dauern, bis die Verdauung beendet ist und bis die Fig. 104. Blatt von Dionea muscipula. Nach Kerner. A Blatt- spreite Spr. geöffnet. St Stiel, Steh sensitive Stacheln. B Durchschnitt Elftes Kapitel. 460 beiden Blatthälften sich wieder öffnen und zur Ruhestellung zurück- kehren. Während die bisher besprochenen Blätter mit Drüsenhaaren viel Gemeinsames in ihrem Bau haben und sich von Pinguicula zu Drosera und von dieser zu Dionaea in einer immer vollkommener werdenden Reihe anordnen lassen, ist bei einer anderen Familie fleischfressender Pflanzen, bei den Nepenthesarten, die Einrichtung zur Fleischverdauung nach einem anderen Prinzip und in einer besonders merk- würdigen komplizierten Weise ausgeführt. Auch die Nep enth es- Arten treten in Moor gebieten von Asien, Ceylon und Mada- gaskar am Rande von Wäldern auf; sie sind zugleich Kletterpflanzen, welche sich an Bäumen und Sträuchern emporwinden. Als Insektenfalle dient ihnen eine Kanne (Fig. 105 Fk), die bei manchen Arten eine Höhe von 4 — 10 cm, bei anderen aber sogar von 30 cm erreicht. Sie hat sich in höchst eigentümlicher Weise aus dem Ende einer Ranke (St) entwickelt, welche aus der Spitze der langen Blätter hervor- wächst, die Zweige anderer Pflanzen um- schlingt, dann eine Strecke weit frei in der Luft herabhängt und zuletzt wieder nach oben scharf umbiegt. Das nach oben umgebogene Rankenende ist trichterartig erweitert (Fk), im Inneren ausgehöhlt und dadurch zur kannenförmigen Insektenfalle umgewandelt, die sich in ihrem Aus- sehen mit der Blüte einer Aristolochia ver- gleichen läßt und durch ihre oftmals bunte Färbung die Aufmerk- samkeit der Insekten erregt. Der Rand (R) der Kanne ist nach unten umgeschlagen und mit einer Reihe nach abwärts gerichteter, spitzer Stacheln versehen. Da er Honig ausscheidet, lockt er viele Insekten, unter ihnen auch Ameisen, zum Besuch und zur Nahrungs- aufnahme an. Flierbei sind die Besucher der Gefahr ausgesetzt, in die Höhle der Kanne hineinzufallen. Denn die Innenwand der- selben ist im oberen Bezirk unter dem umgebogenen und gezahnten Rand spiegelglatt. Wenn daher die nach Honig suchenden Insekten beim Herumkriechen auf die gleichsam glatt polierte Fläche ge- langen , verlieren sie den Halt und fallen in eine mehrere Zenti- Fig. 105. Kanne von Nepenth.es villosa. Nach Kerner. St Stiel des Blattes, Spr dessen Spreite, Fk Fang- kanne, R der mit abwärts ge- krümmten Stacheln besetzte Rand derselben. Anpassungen der Organismen aneinander. 461 meter hohe Verdauungsflüssigkeit, von welcher der Boden gefüllt ist. Sie ist das Sekret von vielen tausend kleinen Hautdrüsen, welche den unteren Bezirk der inneren Kannenwand bedecken. Auch sie enthält, wie bei den anderen insektenfressenden Pflanzen ein pepsinartiges Ferment, zu dem noch von dem Moment an, wo eingefangene Insekten verdaut zu werden beginnen, eine von der Wand ausgeschiedene Säure hinzutritt. Bei anderen Nepenthesarten beobachtet man auch Kannen von etwas einfacherem Bau, als ihn die eben beschriebene Nepenthes villosa zeigt, so daß ein vergleichendes Studium uns hier ebenfalls mit einer Stufenfolge einfacher und dann immer vollkommener werdender Einrichtungen bekannt macht. Indessen muß man sich hüten, im Hinblick auf die interessanten Einrichtungen zum Einfangen und Verdauen von Insekten den hieraus erwachsenden Nutzen für die betreffenden Pflanzen zu über- schätzen. Denn wie durch Versuche von verschiedenen Seiten fest- gestellt ist, können Drosera, Dionaea, Nepenthes etc. sich auch ohne Zufuhr animalischer Kost allein durch ihre Wurzeln und chlorophyll- grünen Blätter während mehrjähriger Kultur wie gewöhnliche Pflanzen ernähren und erhalten. Nur kräftiger scheinen die Exem- plare auszufallen, denen gleichzeitig Gelegenheit zum Insektenfang gegeben ist. Daher betrachtet Sachs (1. c. p. 452) die Verdauung kleiner Tiere nicht gerade als eine absolute Notwendigkeit für die Existenz der insektivoren Pflanzen, sondern nur als eine Nachhilfe zu ihrem kräftigeren Gedeihen „Mir scheint“, erklärt er, „daß wir bei den insektivoren Pflanzen den merkwürdigen Fall erleben, daß die Natur komplizierte Einrichtungen veranstaltet, um schließlich einen höchst unbedeutenden Effekt zu erzielen ; denn wenn auch nicht bezweifelt werden darf, daß die kleinen Mengen eiweißartiger Substanz, welche die insektivoren Pflanzen aus tierischen Körpern in sich aufsaugen, ihrem Gedeihen nützlich sind, so fällt anderer- seits doch der Gegensatz auf zwischen den komplizierten Einrich- tungen zu diesem Zweck und der offenbar höchst geringen bio- logischen Leistung derselben ; denn es ist gewiß nicht zweifelhaft, daß gerade die hervorragendsten Insektenfresser, wie Dionaea und Nepenthes, auch ohne diesen gelegentlichen Zuschuß an organischer Substanz immerhin gedeihen können.“ 2. Die Anpassung der Mundwerkzeuge der Insekten an die Art des Nahrungserwerbs. Viel mehr als die Pflanzen an die Tiere sind diese an jene in ihrer Lebensweise und Organisation auf das allermannigfachste an- 4 Ö2 Elftes Kapitel. gepaßt. Vor allen Dingen gilt dies für die Klasse der Insekten. Die große Zahl der Arten, die man auf 250000 schätzt, hängt da- mit zusammen, daß sehr viele in ihrer Existenz von ganz bestimmten Pflanzen abhängig sind, auf denen sie leben und sich ernähren. Der Systematiker hat dieses Verhältnis häufig dadurch zum Aus- druck gebracht, daß er den Speciesnamen nach der Nährpflanze gewählt hat. So spricht man bei den Schmetterlingen von einem Wolfsmilch-, einem Krapp-, einem Linden-, einem Pappel-, einem Ligusterschwärmer, einem Föhren-, einem Kiefernspinner, einem Kohlweißling etc., oder in der Ordnung der Schnabelkerfe von einer Aphis rosae, A. brassicae, A. tiliae etc., von einem Chermes abietis , Ch. laricis , einer Reblaus (Phylloxera vastatrix) etc., oder von einem Coccus cactei, der sich auf Kakteen, und einem C. lacca, der sich auf Ficus religiosa findet. Und wie an verschiedene Pflanzen , so können Vertreter der Insekten sich auch wieder an die verschiedenen Teile der Pflanzen, an ihre chlorophyllhaltigen Blätter, an ihre Blüten, an ihr Wurzelwerk angepaßt haben, indem sie von ihnen ausschließlich Nahrung beziehen. Zu den Organen der Insekten, die von der Lebensweise auf bestimmten Pflanzen- teilen am meisten beeinflußt werden, gehören die Extremitäten und ganz besonders die Mund Werkzeuge. Auch die letzteren sind, wie die vergleichende Anatomie lehrt, Extremitäten der Kopfseg- mente, die wegen ihrer Lage in der Umgebung der Mundöffnung eine Verwendung im Dienste der Nahrungsaufnahme gefunden haben und dementsprechend umgebildet worden sind. Allen In- sekten kommen 3 Paar Mundgliedmaßen zu, die nach ihrer Lage von vorn nach hinten als Mandibeln, als erste und zweite Maxillen bezeichnet werden. Da die zweiten Maxillen gewöhnlich in der Medianebene untereinander zu einem unpaaren Stück verschmolzen sind, heißen sie auch Unterlippe oder Labium. Meist bestehen die Mundgliedmaßen aus mehreren, beweglich untereinander verbundenen Stücken. Je nach der Ernährungsweise haben sie eine sehr verschiedene Form in den einzelnen Ordnungen der Insekten angenommen und können hiernach in beißende, leckende, saugende und stechende eingeteilt werden. Der gemeinsamen Grundform, auf welche sich dieselben trotz aller nicht unerheblichen Differenzpunkte zurückführen lassen, stehen die beißenden Werkzeuge der Coleopteren, der Orthopteren, der Schmetterlingsraupen etc. am nächsten (Fig. 106). Sie werden zum Ergreifen der Nahrung, wie der Stengel und Blätter der Futter- pflanzen und zum Abnagen benutzt. Zu diesem Zweck ist die Anpassungen der Organismen aneinander. 463 Mandibel (md) zu einer kräftigen, mit gezähntem Rand versehenen Beißzange umgewandelt. Die erste Maxille (mx) besteht aus mehre- ren, gelenkig verbundenen Gliedern, der Cardo (c) und dem kräfti- geren Stipes (st). Erst dieser trägt nebeneinander eine äußere und eine innere Kaulade (le u. li), von denen gewöhnlich nur die innere Fig. 106. Beißende (kauende) Mundgliedmaßen der Schabe (Periplaneta orientalis). Nach R. Hertwig. Fig. 107. Leckende Mundgliedmaßen der Hummel (Bombus terrestris). Nach R. HERTWIG. Für die Figuren 106 und 107 gelten folgende Bezeichnungen: l Laden, Ir Ober- lippe, md Mandibeln, c Cardo, st Stipes, le und li Lobus externus und internus, pm ( p ) Palpus der Maxille {mx), sm Submentum, m Mentum, gl Glossen, pg Paraglossen, pl Palpus labialis der Unterlippe (Za), hy Hypopharynx. mit Kauzähnen oder mit einer scharfen Schneide ausgestattet ist und wie die Mandibel mit zum Kauen dient. Zu beiden gesellt sich außerdem noch ein mehrfach gegliederter Taster (pm Palpus) hinzu. Ähnlich ist die zweite Maxille beschaffen, nur mit dem Unterschied, daß hier die beiden ersten Gliedstücke, die Cardo und der Stipes, in der Medianebene untereinander zu einem unpaaren Stück {m) verschmolzen sind. Während bei den meisten Insekten die Mundwerkzeuge zum Fressen von Blättern wie bei den Raupen der Schmetterlinge dienen Fig. 106. Fig. 107. C sm 464 Elftes Kapitel. und dementsprechend in der eben beschriebenen Weise zum Beißeh eingerichtet sind, haben sie sich bei anderen Abteilungen an eine Blumennahrung angepaßt, indem sie den von den Staubbeuteln sich leicht ablösenden Pollen oder den flüssigen, von den Nectarien abgeschiedenen Honig aufnehmen. So sind aus den beißenden die leckenden und die saugenden Mundgliedmaßen hervor- gegangen, die in zwei verschiedenen Formen, die eine bei den Bienen und Hummeln, die andere bei den Schmetterlingen, Vor- kommen. Bei den Bienen und Hummeln (Fig. 107) ist die Um- wandlung durch eine bedeutende Verlängerung der beiden Maxillen herbeigeführt worden. An den zweiten Maxillen oder dem Labium haben sich besonders die beiden Laden stark verlängert; gleich- zeitig sind hierbei die beiden inneren Laden (gl) im Anschluß an das Mentum (m) und Submentum (sm) in der Medianebene ver- schmolzen und zu einer tieferen Halbrinne umgebildet, welche Zunge oder Glossa (gl) heißt und der wichtigste zum Lecken und zum Saugen dienende Abschnitt ist. Auf ihrer ganzen Oberfläche wird die Zunge von kurzen, feinen Borsten dicht bedeckt. Auch an den ersten Maxillen sind die Kauladen ( l ) stark in die Länge gewachsen und zu Halbrinnen eingekrümmt. Sie legen sich als Scheiden um die Zunge herum und vervollständigen sie so zu einem Saugrohr. Dagegen sind bei den Bienen und Hummeln die Mandibeln (md) nahezu unverändert geblieben ; sie werden noch für allerhand Neben- verrichtungen gebraucht. Noch weit vollkommener als die Bienen sind die Schmetter- linge in dem Bau ihrer Mundwerkzeuge an das Honigsaugen aus Pf lan zenblüten angepaßt (Fig. 108). Die ersten Maxillen (mx) sind bei ihnen zu einem außerordentlich langen Säugrüssel umgewandelt, der beim Nichtgebrauch wie eine Uhrfeder zu einer Spirale zu- sammengerollt werden kann. Eine jede Maxille bildet nämlich eine Halbrinne, die aus zahlreichen, durch Muskelfasern verbundenen und daher gegeneinander beweglichen, kleinen Gliedern zusammen- gesetzt ist. Durch ihre feste Zusammenlagerung entsteht ein ge- schlossenes, biegsames Saugrohr. (Man vergleiche den links abr gebildeten Querschnitt mx 1 -j- mx2.) Dagegen sind alle übrigen Mundgliedmaßen nur wenig entwickelt oder zum Teil sogar rudi- mentär. Besonders gilt dies für die Mandibeln (md), aber auch das unpaare Labium (la). das bei den Bienen (Fig. 107 gl) zur langen Glossa ausgewachsen ist, bleibt hier sehr klein, während die an ihm seitwärts ansitzenden Palpi labiales (pl) leidlich ausgebildet sind. Noch in zwei Beziehungen verdienen die Mundwerkzeuge der Schmetterlinge als wichtige Zeugnisse für die hohe Anpassungs- Anpassungen der Organismen aneinander. 465 mx ; mx /im. fähigkeit tierischer Organe unsere besondere Beachtung. Einmal wird uns ein Vergleich der Mundwerkzeuge des ausgebildeten Schmetterlings mit seinem Jugendzustand als Raupe zu einer wich- tigen Folgerung führen. Denn wir lernen aus ihm, daß dieselben morphologischen Teile im Lebenslauf ein und desselben Individuums in einer ganz verschiedenen Form und Größe auftreten und in ganz verschiedener Weise bei der Nahrungsaufnahme verwandt werden. Während des Raupenstadiums findet ja das eigentliche Wachstum der Schmet- terlinge statt. Die Rau- pen sind daher sehr gefräßige Tiere , die große Quantitäten ve- getabilischer Nahrung durch Abnagen von Blättern aufnehmen, dagegen kommen die Schmetterlinge, die gar nicht mehr wachsen, mit äußerst wenig Blütenhonig aus. Dem- , , , , Fig. 108. Saugende Mundgliedmaßen eines entsprechend haben Schmetterlings. Nach Savigny. Bezeichnungen sind jene beißende (Fig. IOÖ), wie *n Fig. 106 u. 107. Anstatt der rechten Maxille ,. , ,, , ist ein Stück des Rüssels dargestellt, um zu zeigen, wie diese saugende IVlund- ^ie ünke (mxl) und die rechte Maxille (mx2) sich zu einem Werkzeuge (Fig. 108) ; Rohr vereinigen; am rechten Palpus (pl) ist die Behaarung dort sind die Mandibeln we£Selassen- kräftige Kau- und Beißstücke ( Fig . 106 md), hier sind sie rudimentär oder ganz rück gebildet (Fig. 108 md). Mit den ersten Maxillen aber verhält es sich gerade umgekehrt : dort sind sind sie nur kleine Gebilde (c, st, le , li,) hier dagegen zu dem langen Säugrüssel (Fig. 108 mx) umgestaltet. Wie man sieht, hat die verschiedene Lebensweise der Raupen- und Imagoform auch einen Funktions- wechsel an den zur Nahrungsaufnahme dienenden Mundgliedmaßen herbeigeführt, und mit dem Funktions Wechsel geht wieder eine vollständig andere Gestaltung ein und desselben Organteils bei der Raupe und dem Schmetterling Hand in Hand. Wirklich „ein schöner Beweis, wie die Lebensweise des Tieres bestimmend auf den Bau der Organe einwirkt“, sagt Richard Hertwig von diesem Verhältnis. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 30 466 Elftes Kapitel. Der Fall ist auch geeignet, um an ihm einen erst später im Kapitel XIV zu besprechenden Trugschluß von WEISMANN (Vor- träge etc., 1902, Bd. II, p. 93) zu erläutern, daß die festen Chitin- stücke der Gliedertiere als ein geradezu erdrückendes Beweismaterial gegen die Anschauungen der Lamarckianer zu verwerten sind. Allerdings können sich die kräftigen Beißzangen der Raupen, so- fern sie erstarrte Chitinprodukte sind, nicht in die Mundgliedmaßen, die später an ihre Stelle treten, um wandeln. Aber unter dem Chitin liegt ja auch noch die bildungsfähige Substanz des Körpers, die auf Reize nach wie vor reagiert; und diese ist es, welche sich umbildet, wenn die dem Raupenleben angepaßten Werkzeuge nicht mehr ihrer Aufgabe entsprechen und bei der Häutung abgeworfen werden. Im Puppenstadium liefert die bildungsfähige Substanz, in- dem sie entsprechende Metamorphosen eingeht, einen für andere Aufgaben dienenden Ersatz. So sind denn die Organe, die Weis- mann seinen Lesern als passiv vorführt, in Wahrheit ebenso aktiv, wie Muskeln und Drüsen, wenn man, wie sich von selbst versteht, nicht das Plasmaprodukt, sondern die zu ihm gehörige Matrix als das aktiv Veränderliche ansieht. Wie könnte sich eine Entwicklung überhaupt an einem anderen als einem aktiven Substrat abspielen! 3. Die Anpassung der Blüten der Phanerogamen an den Insektenbesuch. Wenn die zu einem langen biegsamen Rohr umgewandelten Maxillen der Schmetterlinge, wie wir sehen, zum Honigsaugen aus Blüten eingerichtet sind, so lassen sich auf der anderen Seite die Blüten der Phanerogamen als Organe betrachten, deren Eigentüm- lichkeiten auch durch den Insektenbesuch mit ins Leben gerufen worden sind. In diesem Punkte stimme ich sowohl mit Nägeli als auch mit Weismann überein, von denen der letztere bemerkt, daß die Blumen eine Reaktion der Pflanzen auf den Besuch von Insekten sind, daß sie hervorgerufen sind durch diesen Besuch (1. c. Bd. I, p. 202). „Es würde wohl Blüten, nicht aber Blumen, d. h. Blüten mit großen, farbigen Hüllblättern, mit Saft und mit Honig im Inneren geben, wenn die Blüten nicht seit langen Zeit- räumen schon von den Insekten aufgesucht worden wären.“ Gehen wir daher auf dieses sehr interessante Verhältnis von gegenseitiger Abhängigkeit pflanzlicher und tierischer Formbildungen noch etwas näher ein. Wie uns Systemathik und Morphologie des Pflanzenreichs lehren, sind die Geschlechtsorgane ursprünglich unscheinbare und Anpassungen der Organismen aneinander. 467 wenig auffällige Bildungen gewesen und werden als solche auch jetzt noch in allen niederen Pflanzenabteilungen gefunden : bei den Kryptogamen und Gymnospermen, bei einem Teil der Mono- und Dikotylen, wie bei den Gräsern und den kätzchentragenden Bäumen. Alle diese Pflanzen sind zugleich „windblütig“, d. h. die in den Beuteln der Staubfäden massenhaft gebildeten Pollenkörner werden zur Blütenzeit als feiner Staub durch den Wind auf weite Ent- fernungen verstreut und dienen zur Befruchtung der weiblichen Geschlechtsorgane, wenn sie durch Zufall auf den klebrigen Stempel derselben fallen. Um zu verstehen, wie sich aus so unscheinbaren Anfängen die Entstehung der Blüten und ihre Befruchtung durch Insekten ableiten läßt, muß man im Auge behalten, daß die Staub- gefäße metamorphosierte Blätter und in ihrer niedersten Form auch noch wirklich kleine, schuppenförmige Blätter sind. Auch weiß man ja im Hinblick auf die gefüllten Blüten, die man bei sehr vielen Arten von Phanerogamen durch Gartenkultur erzielt hat, wie leicht sich oft Staubfäden in bunte Kronenblätter durch Er- nährungsreize umwandeln lassen. Nicht unberechtigterscheint daher die NÄGELische Hypothese (1. c. p. 149), daß durch den stetig wiederkehrenden Reiz, welchen die „blütenstaub- und säfteholenden Insekten“ (Fliegen, Bienen etc.) während zahlloser Generationen ausübten, die ursprünglich schüppchen artigen Blätter der Urblüten zum stärkeren Wachstum und zur Umwandlung in Kronenblätter angeregt worden sind. Sind doch die Stellen der Pflanze, an denen sich die Geschlechtszellen bilden, überhaupt durch einen größeren Reichtum an embryonalem Gewebe ausgezeichnet und schon da- durch umbildungsfähiger als ausgewachsene Pflanzenorgane. Und daß die Stiche und Biße der Mundgliedmaßen von Insekten beim Pollensammeln und das Anklammern mit ihren spitzen Extremi- tätenenden und ihr hastiges Herumkriechen als mechanische Wachs- tumsreize wirken können, ist auch nicht als unwahrscheinlich zu bezeichnen. Wenn wir ferner Honigdrüsen oder Nektarien, welche zuweilen auch an Laubblättern Vorkommen, besonders häufig am Grunde der Blüten entstehen sehen, so dürfte es ebenfalls mit der von Insekten ausgehenden Reizung und mit der Zusammensetzung der vom Reiz betroffenen Pflanzenregion „aus einem weichen, saf- tigen Gewebe“ in ursächliche Beziehung zu bringen sein. Honig- absonderung wurde aber dann wieder ein Lockmittel für die nah- rungssuchenden Insekten. Nach unserer Auffassung hat sich so Schritt für Schritt zwischen den Blüten der Urpflanzen und den sie besuchenden Urinsekten 30 468 Elftes Kapitel. ein Gegenseitigkeitsverhältnis ausgebildet, welches in demselben Maße, als es ein festeres geworden ist, auch auf den Bau der an ihm beteiligten Lebewesen einen um gestalten den Einfluß ausgeübt hat. Von einem wirklichen Gegenseitigkeitsverhältnis auch in physio- logischer Hinsicht muß man sprechen, weil auch für viele beteiligte Pflanzen ein Nutzen für ihre Fortpflanzung aus dem Insektenbesuch erwachsen ist. Denn wie schon 1793 der scharf beobachtende Konrad Sprengel in seiner berühmten Schrift : „Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ festgestellt hat, spielen die Insekten bei der Befruchtung der Phanero- gamen, bei denen häufig die Übertragung des Pollens von den männlichen auf die weiblichen Geschlechtsorgane nicht mehr in der ursprünglichen Weise durch den Wind geschieht, eine wichtige Vermittlerrolle. Wenn Bienen, Hummeln und Schmetterlinge auf den Blumen Nahrung suchen, streifen sie mit den Chitinhärchen, die sich in großer Zahl auf vielen Stellen ihrer Körperoberfläche erheben, von den Staubbeuteln reife Pollenkörner ab und bringen sie beim Besuch einer anderen Blüte mit der klebrigen Oberfläche ihres Pistills in Berührung. Sie führen so zwischen mehreren Pflanzen- exemplaren Kreuzbefruchtungen aus, die für das Gedeihen vieler Arten nach langjährigen Experimenten von Darwin förderlicher als Selbstbefruchtung sind. Es gibt sogar viele Blütenpflanzen, bei denen ohne Insektenbesuch eine Befruchtung überhaupt unmöglich geworden ist. Dieser Fall tritt gewöhnlich dann ein, wenn ihre Pollenkörner im reifen Zustand nicht mehr, wie bei den windblütigen Pflanzenarten, einen trockenen Staub bilden, sondern durch eine klebrige Substanz Zusammenhängen, die durch Desorganisation und Verquellung ihrer oberflächlichen Zelluloseschichten entstanden ist. Ob auch diese Veränderung, wie Nägeli vermutet, durch einen von Insekten ausgeübten Reiz zu erklären ist, mag dahingestellt bleiben. Die vielen merkwürdigen Einrichtungen, die aus den innigen Lebensbeziehungen zwischen den nahrungssuchenden Insekten und den auf ihre Vermittlung bei der Befruchtung angewiesenen Blüten- pflanzen zustande gekommen sind, pflegen in der modernen Literatur der Selektionstheorie mit Vorliebe und Ausführlichkeit behandelt zu werden. Einer wissenschaftlichen Erklärung im strengen Sinne sind sie meist nicht zugänglich. Daher sei nur auf eine interessante, leichter verständliche Korrelation eingegangen, die zwischen den röhrenförmigen Blütenkronen mancher Phanerogamen und der Länge der Rüssel der sie besuchenden Schmetterlinge beobachtet werden Anpassungen der Organismen aneinander. 469 kann. Es läßt sich hier ein interessantes Verhältnis feststellen, das man recht gut als „eine doppelte Anpassung“ bezeichnen kann. In manchen Pflanzenfamilien, wie bei den Winden, den Lippen- blütern, den Orchideen etc., sind die Kronenblätter zu einer bald kürzeren bald längeren, engen Röhre verschmolzen, in deren Grund sich die Nektarien befinden. In diesem Falle können nur solche Schmetterlinge aus ihnen den Honig gewinnen, deren Säugrüssel die nötige Länge besitzen, um bis zu den verborgenen Nektarien vorzudringen. Nach einer Zusammenstellung von Weismann (Vor- träge, 1902, Bd. I, p. 221) zeigen schon unsere Schwärmer, Macro- glossa stellatarum und Sphinx Convolvuli, eine erstaunliche Länge des Rüssels. Bei Sphinx beträgt die Länge 8 cm ; aber bei Macro- silia Cluentius in Brasilien schon über 20 cm. Nun wächst in Madagaskar eine Orchidee, deren Nektarien 30 cm lang und im Grund fast 2 cm hoch mit Honig angefüllt sind. Wenn auch diese Orchidee, wie zu erwarten ist, von einem Schwärmer besucht wird’ der den Honig aussaugt und zugleich die Befruchtung vermittelt, so müßte sein Rüssel ebenfalls zu der enormen Länge von 30 cm ausgewachsen sein. Denn lange Röhren erfordern entsprechend lange Mundwerkzeuge, wenn diese die Nahrung an ihrem Grund erreichen sollen. Es liegt also hier ein ausgesprochenes Korre- lationsverhältnis vor. Wie ist dasselbe zu erklären? Hierbei ist bei der Verlängerung des Schmetterlingsrüssels zu berücksichtigen, daß er ein biegsames, muskulöses und darum auch einigermaßen dehnbares Organ ist. Er ist daher bei stärkerer Be- anspruchung in besonderen Fällen auch fähig, sich über das ge- wöhnliche Maß zu verlängern. In dieser Beziehung liegt ein ähn- liches Verhältnis vor, wie bei einer Drüse, z. B. der Niere, die in der Sprache der Physiologen noch über eine Reservekraft verfügt. Darunter versteht man die Fähigkeit, bei erhöhter Beanspruchung mehr Harnstoff, selbst bis auf das Doppelte der normalen Leistung auszuscheiden, wie es nach der operativen Entfernung von einer der beiden Nieren geschieht (vergleiche Seite 167). Also kann sich bei Voraussetzung eines ähnlichen Verhaltens auch der Schmetterlings- rüssel, wie die Niere durch Ausnützung ihrer Reservekraft, den veränderten Verhältnissen in gewisser Weise anpassen. Von der Niere ist dann weiter bekannt und experimentell bewiesen, daß sie bei fortgesetzter stärkerer Beanspruchung, wie nach einseitiger Nierenexstirpation , eine Funktionshypertrophie erleidet und sich allmählich fast bis auf das Doppelte des ursprünglichen Volums 470 Elftes Kapitel. vergrößern kann. Es liegt daher nahe; auch eine dauernde Ver- längerung des Schmetterlingsrüssels infolge dauernd erhöhter funktio- neller Beanspruchung als möglich anzunehmen. Was zweitens die Verlängerung der Blumenrohren betrifft, so vermutet Nägeli, daß sie in gleicher Weise entsteht, wie die großen Blumenblätter aus kleinen. -„Durch die beständigen Reize, welche die kurzen Rüssel der Insekten ausübten“, bemerkt er (1. c. p. 150), „wurden die kurzen Röhren veranlaßt, sich zu ver- längern. Dieses Wachstum erfolgte als notwendige Wirkung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich als unvorteil- haft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenrohre, welche, weil durch die nämliche Ursache bewirkt, eine allgemeine Erschei- nung bei den Individuen einer Sippe war, verminderte sich für die Insekten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu größeren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels so lange, als eine Verlängerung der Blumenrohre ihr vorausging. Dabei ist selbstverständlich, daß jede Pflanze nur zu einem begrenzten Wachs- tum der Blume und jedes Insekt nur zu einem begrenzten Wachs- tum des Rüssels sich befähigt zeigt.“ Wenn diese Erklärung richtig ist, so sind die erläuterten pflanz- lichen und tierischen Einrichtungen in demselben Sinne zueinander koadaptiert, wie die zusammenpassenden Flächen eines Kugelge- lenks, oder wie die Durchmesser des ernährenden Blutgefäßes zu der Größe eines von ihm versorgten Muskels oder einer Drüse. , Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt, die langröhrigen Blüten aus röhrenlosen und kurzröhrigen, die langen Rüssel aus kurzen. Beide haben sich ohne Zweifel in gleichem Schritt ausgebildet, so daß stets die Länge der beiden Organe ziem- lich gleich war“ (Nägeli, 1. c. p. 150). Leicht würden sich noch zahlreiche andere Anpassungen in der Lebensweise und Organisation zwischen Pflanze und Tier zu- sammenstellen lassen; doch scheint mir die getroffene Auswahl schon einen genügenden Einblick in die hier vorliegenden inter- essanten Verhältnisse zu geben. c) Anpassungen zwischen zwei Tieren der gleichen oder verschiedener Art. Je inniger die Lebensgemeinschaft ist, in welche einzelne Tiere der gleichen oder verschiedener Art zueinander treten, in um so Anpassungen der Organismen aneinander. 47 1 höherem Grade erhalten sie auch Gelegenheit, sich gegenseitig an- einander anzupassen und nicht nur funktionell, sondern auch in ihrer Organisation sehr durchgreifende Veränderungen zu erfahren. Um über die Mannigfaltigkeit der hier vorliegenden Beziehungen und der durch sie bedingten Koadaptationen einen Überblick zu gewinnen, betrachten wir i) die Tierstöcke und Tierstaaten, 2) die Anpassungen zwischen beiden Geschlechtern und zwischen Mutter und Frucht. 1. Die Tierstöcke und Tierstaaten. Tierische Individuen, die sich außer durch Keimzellen noch auf vegetativem Wege durch Knospen vermehren können, werden durch diese auch zur Bildung von Stöcken befähigt, wenn der Mutterorganismus mit seinen durch Knospung erzeugten Tochterindi- viduen in dauerndem Zusammenhang bleibt. Besonders die Cölen- teraten zeigen uns die verschiedenartigsten Stufen in der Ausführung dieser neuen Art sozialer Vereinigung. Während in einigen Stöcken noch ein Individuum dem anderen mehr oder minder gleicht, ist bei anderen eine Arbeitsteilung mit Differenzierung und eine so weitgehende Integration der Individuen erfolgt, ähnlich wie bei den in Gewebe und Organe differenzierten Zellen eines vielzelligen Organismus. Am weitesten ist der Polymorphismus der Indi- viduen bei den Siphonophoren (Fig. 109) gediehen. In Anpassung an die einzelnen Aufgaben des Stockes sind einige Individuen, welche die ursprüngliche Grundform am getreuesten bewahren, ent- weder zu Freßpolypen (hy) oder nach Verlust des Mundes und bei reichlicher Ausstattung mit Sinneszellen zu Tastpolypen (P) ge- worden; andere haben sich in die Medusenform umgewandelt und dienen entweder als Schwdmmglocken (sg) zur Fortbewegung des Stockes oder als Geschlechtsglocken (go) zur Erhaltung der Art durch Erzeugung männlicher und weiblicher Keimdrüsen. In be- stimmten Verhältnissen und Zahlen an einem Stamm verteilt, funktio- nieren jetzt die Individuen, die wir bei anderen Arten des Cölen- teratenstammes als selbständige Lebewesen, als solitäre Hydroid- polypen und als solitäre Medusen verbreitet sehen, nur noch als unselbständig gewordene Organe eines einheitlichen Individuums höherer Ordnung. Je weiter der Polymorphismus durchgeführt ist, um so mehr erscheint der ganze Siphonophorenstock wie ein ein- heitlicher Organismus. Derartige Tierstöcke lehren uns zweierlei: Erstens kann wohl nicht daran geweifelt werden, daß ursprünglich am Siphonophoren- stock alle Individuen als Hydroidpolypen durch Knospung ent- 472 Elftes Kapitel. standen und einander gleich gewesen sind. Daher liegt hier der Fall einer nebeneinander erfolgenden und sich ergänzenden Um- bildung gleichgeformter Personen in sehr verschiedenen Richtungen vor. Bei diesem Prozeß kann eine Personalselektion (vergleiche das XVI Kapitel, Abschnitt c) — und dies ist die zweite Lehre, auf welche ich ein be- sonderes Gewicht lege, — für die Um- wandlung in eine Schwimm- oder Geschlechtsglocke oder in einen Tasterpolyp etc. nicht geltend ge- macht werden. Denn ein Kampf ums Dasein zwischen den Hydroidpolypen eines Stockes und eine aus ihm folgende Vernichtung einzelner und Erhaltung anderer zweckmäßig ver- änderter Formen findet ja überhaupt nicht statt ; er ist schon deswegen völlig ausgeschlossen, weil die Ein- zelwesen eine sich ergänzende Lebens- gemeinschaft ausmachen und wie Organe einer höheren Einheit Zu- sammenwirken. So geben denn im Fall der polymorphen Tierstöcke nur die Prinzipien der Arbeitsteilung, der Differenzierung und der Koadapta- tion zwischen einer Anzahl sich be- dingender organischer Einheiten, die nach ihrer Stellung im System ver- schiedenen Einflüssen unterliegen, Fig. 109. Schema einer Si- eine Erklärung im Sinne der direkten phonophore. Aus Lang, sb Luft- . , . . . ... kammer, sg Schwimmglocken, ds Deck- Bewirkung, soweit eine solche uber- stücke, t Tentakeln, go Gonophoren, haupt möglich ist. Geschlechtsmedusen, hv Freßpolypen, AT. . , . . . , . . , p Taster, st Stamm. A — H verschiedene Nicht minder klar scheint mir Arten der Ausbildung und der Grup- das Verhältnis bei den sozialen pierung der Individuen. . T-.. A lierstaaten, den Bienen, Ameisen und Termiten, zu sein. Auch auf dieses einzugehen, liegt um so näher, als es schon Darwin sehr ausführlich besprochen hat. Denn es schien ihm hier in der Tat die ernsteste spezielle Schwierigkeit für seine Theorie vorzu- liegen, zugleich aber schien ihm auch die Beseitigung der Schwierig- Anpassungen der Organismen aneinander. 473 keit der beste Beweis für die Macht der natürlichen Zuchtwahl zu sein. Ebenso spielen die sozialen Tierstaaten in Weismanns Schriften eine große Rolle und werden von ihm zur Widerlegung des LAMARCKschen Prinzips verwertet. Obwohl in den Bienen-, Ameisen- und Termitenstöcken die einzelnen Individuen morphologisch voneinander ganz getrennt und nur durch soziale Beziehungen verbunden sind, bieten sie trotzdem in ihrer Gestalt und Arbeitsweise fast ebenso große Unterschiede, Fig. iio. Drei Arbeiterinnen der Ameisenart Pheidolog-eton diversus. aus Indien. Nach Weismann. A Größte Arbeiterform, B mittlere, C kleinste Arbeiterform wie in manchen Siphonophorenstöcken dar. Im Bienenstaat finden sich außer der Königin und den Drohnen, welche allein sich fortpflanzen und zur Erhaltung der Art dienen, noch die etwas ab- weichend gebauten, mit besonderen Instinkten begabten und un- fruchtbaren Arbeiterinnen. Noch größer aber fallen die Unter- schiede bei den Termiten und bei manchen Ameisenarten aus. Häufig sind hier die Arbeiterinnen in 2 oder 3 Kasten ge- teilt. Wie weit dieselben voneinander abweichen können, geht aus den Abbildungen von Termes lucifugus (Fig. 40) und von einer indischen Ameisenart, Pheidologeton diversus (Fig. 110), hervor. Nicht nur die ganzen Tiere, sondern auch einzelne Körperteile, Kopf, Kiefer etc., zeigen ganz enorme Schwankungen in ihren Dimensionen, worüber Darwin eine sehr anschauliche Darstellung 474 Elftes Kapitel. gibt. „Die Verschiedenheit ist ebenso groß, als ob wir eine Reihe von Arbeitsleuten ein Haus bauen sähen, von welchen viele nur 5 Fuß 4 Zoll und viele andere bis 16 Fuß groß wären (i 13); dann müßten wir aber noch außerdem annehmen, daß die größeren vier- bis dreimal so große Köpfe als die kleineren und fast fünfmal so große Kinnladen hätten. Überdies ändern die Kinnladen dieser Arbeiter von verschiedener Größe wunderbar in Form, in Größe und in der Zahl der Zähne ab. Aber die für uns wichtigste Tatsache ist, daß, obwohl man diese Arbeiter in Kasten von verschiedener Größe unterscheiden kann, sie doch unmerklich ineinander über- gehen, wie es auch mit der so weit auseinanderweichenden Bildung ihrer Kinnladen der Fall ist.“ Bei der Beantwortung der Frage, wie die Verschiedenheiten zwischen den Individuen der Tierstaaten zustande gekommen sind, besteht auf den ersten Blick eine große Schwierigkeit darin , daß die Arbeiterinnen der Bienen, Termiten und Ameisen unfruchtbar sind. Ihre Geschlechtsorgane werden zwar angelegt, beginnen aber früh mehr oder minder zu verkümmern. Daher können ihre Eigen- tümlichkeiten — wie WEISMANN ganz mit Recht bemerkt — offen- bar nicht durch Vererbung der Resultate von Gebrauch oder Nicht- gebrauch erklärt werden, „da die Arbeiterinnen keine Nachkommen liefern, auf die etwas vererbt werden könnte.“ Auch hat schon Darwin (1. c. p. 310) sein Erstaunen ausgesprochen, daß noch nie- mand den lehrreichen Fall der geschlechtslosen Insekten der be- kannten Lehre Lamarcks von den ererbten Gewohnheiten ent- gegengesetzt hat. Denn Darwin und Weismann sind der An- sicht: die einzige Möglichkeit der Erklärung bestehe in der An- nahme, daß wie einzelne Personen auch ganze Tierstöcke Gegen- stand der natürlichen Zuchtwahl sein können und daß solche bestehen geblieben sind, deren Geschlechtstiere durch Zufall die Fähigkeit erlangt haben, unfruchtbare, der Gemeinde nützliche Mitglieder mit abweichenden Eigenschaften , bessere oder schlechtere Arbeiter hervorzubringen. „Wir stehen hier“, behauptet WEISMANN (Vor- träge, 1902, Bd. II, p. 1 1 1), „vor der Alternative, entweder diesen Faktor (das Selektionsprinzip) zu einer genügenden Erklärung aus- zubilden, oder aber auf jede Erklärung zu verzichten.“ Eine solche Alternative besteht nun aber keineswegs. Darwin und noch mehr Weismann haben, wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten klarzulegen versucht habe, die Bedeutung der Be- dingungen bei der Entwicklung der Organismen übersehen; sie haben übersehen, daß ein und dieselbe Anlage im Laufe der Ent- Anpassungen der Organismen aneinander. 475 wicklung sehr verschiedene Ergebnisse liefern kann, je nachdem diese oder jene Faktoren auf sie eingewirkt haben. Die in dieser Richtung sich darbietende Erklärung ist keineswegs nur eine hypo- thetische, sondern eine auf Beobachtungen und Experimente ge- stützte. Nach den Untersuchungen von Emery, Grassi u. a. wird der Polymorphismus der genannten Tierstaaten direkt durch die verschiedenartigsten Einflüsse hervorgerufen, denen die Eier während ihrer Entwicklung in bezug auf Wohnung und Nahrung ausgesetzt werden. Wie wissenschaftlich gebildete Bienenzüchter festgestellt haben, sind die befruchteten Eier der Bienenkönigin fähig, sowohl Arbeiterinnen als wieder Königinnen zu werden. Es hängt dies lediglich davon ab, in welche Zellen des Bienenkorbs die Eier ge- bracht und in welcher Weise sie ernährt werden. In besonders großen Zellen (Weiselwiegen) und bei reichlicher Ernährung werden sie zu Königinnen, bei knapper Kost in engeren Zellen zu Arbeite- rinnen. Es können sogar nachträglich Larven von Arbeiterinnen durch reichliches Futter, wenn es noch zeitig genug geboten wird, in Königinnen umgewandelt werden. Auch für die Termiten ist dem italienischen Zoologen Grassi der Nachweis gelungen, daß sie es in ihrer Macht haben, die Zahlen- verhältnisse der Arbeiter und Soldaten zu regulieren und letztere je nach Bedürfnis zu züchten, ebenso wie sie die Geschlechtsreife anderer Individuen durch eine entsprechende Nahrung zur Er- zeugung von Ersatzgeschlechtstieren beschleunigen können. In ähnlicher Weise erklärt Emery die Arbeiterbildung bei den Ameisen „aus einer besonderen Reaktionsfähigkeit des Keimplasma, welches auf die Einführung oder auf den Mangel gewisser Nähr- stoffe durch raschere Ausbildung gewisser Körperteile und Zurück- bleiben anderer in ihrer Entwicklung antwortet. Arbeiternahrung muß die Kiefer- und Gehirnentwicklung gegen die der Flügel und der Geschlechtsteile bevorzugen, Königinnennahrung umgekehrt.“ Zwischen der Verkümmerung der Geschlechtsdrüsen und der stärkeren Ausbildung des Kopfes findet eine Korrelation statt, gerade so wie bei den Wirbeltieren zwischen der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen und manchen sekundären Sexualcharakteren. Ganz passend hat daher Emery die Verschiedenheit der Individuen bei Termiten, Bienen und Ameisen als Nahrungpolymorphismus bezeichnet. Auf Grund einer derartigen Erklärung läßt sich auch die viel- fach festgestellte und schon von Darwin erwähnte Tatsache ver- stehen, daß die verschiedenen extremen Individuen, wie es besonders 47& Elftes Kapitel. bei manchen Arten der Ameisen (viele Myrmiciden, die meisten Camponotiden, Azteka) beobachtet worden ist, durch Zwischenformen allmählich ineinander übergehen. Übergänge finden sich sowohl in bezug auf die Größen Verhältnisse als auch hinsichtlich der Ver- kümmerung der Geschlechtsorgane und auch hinsichtlich der sehr verschiedenen Struktur ihrer Kiefer etc. Sie erklären sich, wie Spencer richtig hervorhebt, dadurch, daß die Entziehung der Nahrung bei allen Eiern nicht zu derselben Zeit während ihrer Entwicklung stattgefunden hat. Daß man durch experimentelle Eingriffe, namentlich wenn sie sehr frühzeitig das sich entwickelnde Ei treffen, sehr große Veränderungen ganz bestimmter, gesetz- mäßiger Art erzielen kann, ist durch sehr zahlreiche Untersuchungen an pflanzlichen und tierischen Objekten über jeden Zweifel nach- gewiesen worden. Zugleich aber sind selbst bei stark abgeänderten Formen alle Organe und alle Körperteile einander koadaptiert, wie ebenfalls die Experimente, z. B. bei der künstlichen Erzeugung von Doppelmißbildungen, gelehrt haben. Und auch hierfür liegt die Erklärung nahe. Denn die sich entwickelnden Teile müssen, bei Störung des Prozesses durch äußere Eingriffe, sich in irgendeiner Weise aneinander anpassen schon auf Grund der im Keim von Haus aus gegebenen Gesetzmäßigkeit. Daher ist eine solche selbst bei hochgradigen Monstrositäten immer noch in gewissem Maße zu erkennen. Auch hier braucht man nicht zu Selektionsvorgängen als zu dem für alles geeigneten Erklärungsmittel, das Weismann wieder vorschlägt, seine Zuflucht zu nehmen. Daß endlich die Instinkte bei den Arbeiterinnen von denen der Geschlechtstiere sehr wesentlich abweichen, kann unserer Auffassung, obwohl eine erbliche Übertragung ausgeschlossen ist, keine absolute Schwierigkeit bereiten. Denn durch die Rückbildung der Geschlechts- organe werden die Funktionen des Nervensystems und hierdurch auch die Instinkthandlungen in hohem Grade beeinflußt und um- gestimmt. Ich erinnere nur an die körperlichen und physischen Veränderungen, die uns von den Kastraten einzelner Vogel- und Säugetierarten und auch des Menschen wohlbekannt sind und jederzeit auf experimentellem Wege wieder als Beweis hervorge- rufen werden können. Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß in einer sozialen Gemeinschaft mit höher entwickeltem Nerven- leben ein Individuum das andere in seiner Tätigkeit mitbestimmt, und daß daher bei ihrem Zusammenarbeiten im gemeinsamen Dienste des Stockes die Tradition und Nachahmung eine gewisse Rolle mitspielen kann, wenn ihr exakter Nachweis auch mit Schwierig- keiten verbunden ist. Anpassungen der Organismen aneinander. 477 2. Die Anpassungen zwischen beiden Geschlechtern und zwischen Mutter und Frucht. In das uns jetzt beschäftigende Kapitel gehört auch das Ver- halten der beiden Geschlechter zueinander; und ebenso sind an dieser Stelle die Beziehungen zu besprechen , die sich zuweilen zwischen Eltern und ihrer Nachkommenschaft bei ihrer Entwick- lung ausbilden. Ohne Zweifel sind die Gegensätze, die wir als weibliche und männliche Form einer Species bezeichnen, aus einer gemeinsamen , indifferenten Grundform phylogenetisch hervorge- gangen. Sie haben sich nur bei solchen Organismenarten ausbilden können, bei denen an Stelle der vegetativen Fortpflanzung durch Knospen und Sporen die geschlechtliche Vermehrung durch Keim- zellen getreten ist. Denn in dem Prinzip, auf dem alle Geschlecht- lichkeit beruht, daß die Entwicklung einer neuen Generation mit der Verschmelzung zweier Zellen beginnt, ist jetzt auch die Möglich- keit zu einer physiologischen Arbeitsteilung und Differenzierung gegeben, wie schon bei früheren Gelegenheiten (S. 58 — 61, 139) nachgewiesen wurde. Sind doch bei der Ausbildung der zu einer geschlechtlichen Entwicklung dienenden Zellen zwei sich gegen- seitig ausschließende Aufgaben zu erfüllen: 1) die reichliche Aus- stattung der zur Fortpflanzung bestimmten Zelle mit besonders reichem Ernährungsmaterial, damit sich die Anfangsstadien der Entwicklung unabhängig von äußerem Nahrungsbezug rasch und kontinuierlich abspielen können, und 2) die Möglichkeit der Be- fruchtung durch Annäherung und Vereinigung der beiden Zellen. Die eine Aufgabe verlangt eine große, gut ernährte Zelle, die zweite eine kleine und bewegliche (Fig. 1 — 3). Hier liegt ein Gegensatz vor, der sich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung innerhalb einer Zellen gern einschaft leicht dadurch lösen läßt, daß die einander wider- sprechenden Aufgaben von zwei Zellen durch ihre ungleiche Aus- bildung übernommen werden. Daher halte ich auch die Annahme für die wahrscheinlichste, daß dem getrenntgeschlechtlichen Zu- stand der hermaphroditische in der Phylogenese vorausgegangen ist. Zu ihren Gunsten läßt sich noch geltend machen, daß im Pflanzen- und Tierreich die tiefer stehenden Arten im allgemeinen hermaphroditisch , die höher entwickelten getrenntgeschlechtlich Sind und daß sich fast in allen Klassen neben getrenntgeschlecht- lichen auch hermaphroditische Arten bald in überwiegender, bald in geringerer Zahl vorfinden. Wie aber aus einer indifferenten eine Zwitterdrüse wurde, läßt sich unschwer in der Weise ver- stehen, daß infolge besserer Ernährung und anderer sich hinzu- Elftes Kapitel. 478 gesellender Ursachen einzelne Zellen Eier und andere, deren Er- nährung hierdurch benachteiligt war, männlich wurden. Von ver- gleichend-anatomischen Gesichtspunkten aus beurteilt, gestaltete sich dann der weitere Hergang bei der Sonderung der Geschlechter so, daß aus einer Zwitterdrüse durch Trennung ihrer verschieden differenzierten Bestandteile gesonderte männliche und weibliche Keimdrüsen wurden, und daß schließlich die geschlechtliche Dif- ferenzierung im Pflanzen- und Tierreich durch Trennung des Geschlechts auf zwei Individuen ihren definitiven Abschluß ge- funden hat. Indem die weibliche Zelle außergewöhnlich groß, dadurch un- beweglich, passiv und bei der Befruchtung empfangend, die männ- liche Zelle dagegen klein, beweglich und aktiv wurde, ist der Gegen- satz geschaffen worden, der in der Biologie alle Verhältnisse der Geschlechtlichkeit beherrscht. Er läßt sich als ihre Grundursache in ähnlicher Weise bezeichnen, wie die verschiedene Austattung der Eier mit Dotter in den einzelnen Klassen des Tierreichs (vgl. S. 221 — 222) der Grund für die verschiedenen Arten des Furchungs- prozeszes, der Gastrulation, der Keimblattbildung, der Entstehung eines Dottersacks usw. ist, oder wie die Ernährung der pflanzlichen Zelle mittels ihres Chlorophyllapparates die ganze Gestaltbildung der Pflanzen in der Weise, die früher (S. 382) auseinandergesetzt wurde, in ihren Grundzügen wesentlich bestimmt. Um nur zwei Einrichtungen zu nennen, so äußert sich der schon in der Be- schaffenheit der Keimzellen vorhandene Gegensatz sowohl in der verschiedenen Einrichtung der Ausführwege als auch in den Vor- kehrungen, die in vielen Tierklassen für die Übertragung des Sa- mens zur Sicherung der Befruchtung entstanden sind. Was den ersten Punkt betrifft, so liefert das Nierensystem bei den Wirbeltieren mit wenigen Ausnahmen die Gänge, die zum Samen- und Eileiter werden und erinnert uns dadurch an die schon bei den Wirbellosen bestehenden Einrichtungen, daß gewöhn- lich die zur Ausführung der Exkrete bestimmten Segmentalkanäle zugleich die Geschlechtsprodukte aufnehmen und nach außen leiten. Der Urnierengang ist es, der sich bei den einzelnen Klassen der Wirbeltiere in verschiedener Weise in drei Längskanäle spaltet, in den MüLLERschen Gang, den Samenleiter und den Harnleiter. Der erste führt die Eier, der zweite den Samen, der dritte den Harn aus. Form und histologische Struktur eines jeden steht in engstem ursächlichen Zusammenhang mit seiner Funktion, was sich am klarsten bei dem Eileiter nach weisen läßt. Während das Vas deferens Anpassungen der Organismen aneinander. 479 wegen der mikroskopischen Kleinheit der abzuleitenden Samen- elemente überall eine gleichmäßig enge Röhre bildet und durch das Zwischenglied der Vasa epididymidis direkt den Inhalt aus den Tubuli seminiferi aufnimmt, übertreffen es die MüLLERschen Gänge nicht nur durch ihre größere, dem Volum der Eier ent- sprechende Weite, sondern auch durch eine Sonderung in funktionell verschiedene, für die einzelnen Abteilungen der Wirbeltiere charakte- ristische Abschnitte. In diesen tritt die Anpassung an besondere Aufgaben, die durch die Befruchtung und Entwicklung der Eier gestellt werden, auf das deutlichste hervor. Betrachten wir z. B. die Vögel und die Säugetiere. Bei den Vögeln sind nur der linke Eierstock und Eileiter aus- gebildet. Den Schwund der rechten Hälfte des gesamten weib- lichen Geschlechtsapparates hat Gegenbaur mit der mächtigen Ausbildung des Eivolums mit Recht in ursächlichen Zusammenhang gebracht, da, wie er bemerkt, ein längerer Aufenthalt in der engen Beckenhöhle nur einem einzigen Ei wegen seiner Größe gestattet ist. Ferner macht die Ablage der Eier an das Land teils schützende Hüllen notwendig, teils eine noch reichlichere Ausstattung der aus dem Eidotter sich entwickelnden Jungen mit Nährmaterial. Zu dem Zweck ist der Eileiter in drei Abschnitte differenziert: i) in einen Anfangsteil, die Ampulle mit reich verästelten Schleimhaut- falten, zwischen denen die Samenfäden sich nach einer Begattung anhäufen und die aus dem Follikel entleerten Eizellen befruchten, 2) in einen Abschnitt, dessen Wand mit vielen Eiweißdrüsen ver- sehen ist und das Ei noch mit einer dicken Schicht von Albumen umhüllt, 3) in einen Abschnitt, in dem sich kalkabsondernde Drüsen differenziert haben, und um das Ganze als Schutz noch eine feste Kalkschale (Testa) liefern. Die Sonderung des Eileiters der Vögel in drei Abschnitte und der zusammengesetzte Bau des ganzen Vogeleies bedingen sich so gegenseitig; sie sind einander angepaßt. Die Säugetiere zeigen eine Umwandlung der MüLLERschen Gänge in einer ganz anderen Richtung, doch auch hier wieder in Zusammenhang mit dem Charakter des Eies und im Dienst seiner Entwicklung. Da das Ei dotterarm, sehr klein und ungeschützt ist, macht es seine Entwicklung in einem Abschnitt der MüLLER- schen Gänge durch, der mit starken, muskulösen Wandungen aus- gestattet, zur Gebärmutter geworden ist und in vielen Abteilungen unpaar wird. Zwischen dem Uterus und dem wachsenden Embyro aber findet bei jeder Schwangerschaft eine Reihe von korrelativen Veränderungen statt. Wie der Embryo, so wächst auch die Gebär- 480 Elftes Kapitel. mutter und dehnt sich aus. Die Arteriae uterinae nehmen an Stärke außerordentlich zu, auch die Muskulatur beginnt infolge der , von der Frucht ausgehenden Reize zu hypertrophieren. Durch die Verbindung der Uterusschleimhaut mit einem Bezirk des Chorion entsteht ein Organ, das auf der innigen Vereinigung der Gewebe von zwei Organismen, von Mutter und Kind, beruht. Besonders beim Menschen, wo der höchste Grad der Vollkommenheit in der intrauterinen Ernährung erreicht ist, funktioniert der Mutterkuchen oder die Placenta, die man nach ihrer Genese in eine Pars foetalis und eine Pars materna zerlegen kann, wie ein einheitliches Organ. Es liegt hier wieder ein Beispiel einer vollendeten Doppelanpassung vor, wie wir sie schon in der Symbiose der Flechten, in der An- passung der Schmetterlingsrüssel an die Blumenkelche etc. kennen gelernt haben und noch in einigen anderen Fällen kennen lernen werden. Durch das Studium der Plazentation in den zahlreichen Ord- nungen der Säugetiere können wir aber außerdem noch die wichtige Lehre ziehen, daß die Plazentabildung sich unabhängig hier und dort zu wiederholten Malen für den gleichen Zweck, aber in ver- schiedenen Variationen vollzogen hat, daß ihre Ähnlichkeit auf einem allgemeinen Bildungsprinzip und weniger auf gemeinsamer Abstammung beruht. Trotz funktioneller Gleichheit ist ihre Mannig- faltigkeit eine so große, daß sich Strahl, welcher wohl durch seine Untersuchungen den größten Überblick auf diesem Gebiet besaß, in seiner neuesten zusammenfassenden Darstellung zu dem Ausspruch veranlaßt sah: „Wir finden wohl kaum ein zweites Beispiel in der Tierreihe dafür, daß physiologisch gleichartige Or- gane in einer solchen Weise in ihren gröberen Bau Verhältnissen voneinander abweichen, wie wir das bei den Plazenten sehen. Man staunt stets wieder, wenn man bis dahin ununtersuchte Plazentar- formen betrachtet, wie in unendlicher Variation immer neue Be- sonderheiten auftreten, wie Säuger, welche die Systematik einander sonst nahestellt, gerade im Plazentarbau die weitgehendsten Ab- weichungen aufweisen.“ Außer an den Keimdrüsen selbst und ihren Ausführgängen findet in vielen Klassen der Wirbeltiere der Gegensatz zwischen der männlichen und der weiblichen Form auch in der Ausbildung der äußeren Geschlechtsorgane seinen Ausdruck. Dieselben werden nur in den niederen Wirbeltierklassen entweder ganz ver- mißt oder sind in einer sehr primitiven Weise ausgebildet. Die Befruchtung der Eier erfolgt in diesem Fall nach oder während Anpassungen der Organismen aneinander. 481 ihrer Ablage in das Wasser. Denn da die Samenfäden im Wasser sich schwimmend fortbewegen, können sie auch auf diesem Wege mit den abgelegten Eiern Zusammentreffen und sie befruchten. Da- gegen sind mit dem Übergang zum Landleben besondere Einrich- tungen zur Sicherung der Zeugung notwendig geworden. Weil in der Luft und auf dem Lande die Samenfäden durch Eintrocknen absterben, können sie durch dieses Medium nicht übertragen werden, wie es bei den durch Zellulosehüllen geschützten Pollenkörnern der Phanerogamen der Fall ist. So müssen denn jetzt für diesen Zweck entwickelte äußere Geschlechtsorgane die Übertragung der Keim- zellen von einem auf das andere Geschlecht auf direktem Wege übermitteln, damit schon in den Ausführwegen die Befruchtung vor sich gehen kann. Auch bei diesem Vorgang ist das weibliche Geschlecht das empfangende, das männliche dagegen das aktiv übertragende, wie es schon bei der zwischen den beiderlei Keim- zellen eingetretenen Arbeitsteilung der Fall ist (siehe S. 59). Hier wie dort entstehen an den Öffnungen der Geschlechtswege Ein- richtungen, die zur direkten Überleitung des Samens dienen und, sich gegenseitig ergänzend, in einer Doppelanpassung zueinander stehen. In einfacherem Zustande schon bei den Reptilien und Vögeln vorhanden, erreichen sie eine höhere Ausbildung allein bei den Säugetieren. Im männlichen Geschlecht entwickelt sich eine erektile Papille, die das Ende des Samenleiters in sich aufnimmt. Durch mehrere Hilfseinrichtungen, wie Schwellkörper, Muskeln usw. vervollkommnet, wird sie schließlich zu einem Begattungsorgan, dem Phallus, der eine sichere Überleitung des Samens in den weiblichen Geschlechtsapparat zur Befruchtung des Eies ermöglicht. Als Er- gänzung zu ihm ist im weiblichen Geschlecht das Ende der ver- schmolzenen MüLLERschen Gänge in eine Scheide (Vagina) zur Aufnahme des Phallus umgewandelt. Wie ein vergleichendes Studium auch für die Begattungsorgane lehrt, sind zwar die bei Wirbellosen und Wirbeltieren entstandenen Gebilde nicht einheitlichen Ursprungs und zuweilen morphologisch sehr verschiedenartig; sie haben aber alle das prinzipiell Gemein- same, daß im männlichen Geschlecht sich Organe zur Übertragung, im weiblichen Geschlecht dagegen Solche zur Aufnahme des Sa- mens ausgebildet haben. Ich nenne nur kurz die als Penis aus- stülpbaren Schläuche bei Würmern, Mollusken, Arthropoden oder die zu Rinnen umgewandelten Gliedmaßen mancher Arthropoden und Selachier oder beim weiblichen Geschlecht die verschiedenen Arten von Receptacula seminis und Taschen zur Aufnahme des Penis. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 31 482 Elftes Kapitel. Da das Männchen die Copula herbeiführt, sind in manchen Fällen noch besondere Hilfsapparate zum Ergreifen und Festhalten der Weibchen im Dienste des Zeugungsgeschäftes, namentlich zur Ermöglichung einer längeren Dauer der Copula entstanden. Am besten bekannt sind die zur Laichzeit kräftiger entwickelten Daumen- schwielen der Froschmännchen. Doch auch bei Insektenmännchen finden sich an einzelnen Gliedmaßen mannigfache Einrichtungen, die ebenfalls zum Ergreifen und Festhalten der Weibchen dienen oder eine länger dauernde Copula bewirken. Wenn wir dies alles erwägen, so lehrt uns auch die Verschieden- heit und die durch sie erzielte Ergänzung der beiden Geschlechter, daß überall, wo sich innigere und dauerhafte Beziehungen zwischen zwei Lebewesen einstellen, durch sie auch funktionelle und gestalt- liche Veränderungen bald an diesem bald an jenem Teil ins Leben gerufen werden und daß sie als eine Folge funktioneller Reize durch direkte Bewirkung wohl erklärt werden können. Wenn sich zwischen zwei Lebewesen innigere Wechselbeziehungen ausbilden, so müssen sie sich auch dementsprechend aneinander anpassen und Schritt für Schritt verändern, wie zwei Organe eines Tieres, die in Korrelation zueinander stehen, und bei denen Veränderungen des einen auch solche an dem andern notwendigerweise nach sich ziehen. Zwölftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. Vierter Abschnitt. Der Kreislauf des Lebens und der Einfluß der Umwelt auf die Verbreitungs- und Lebensweise der Organismen. Da alle Lebewesen zueinander und zu der leblosen Natur in unzähligen, kaum zu entwirrenden Beziehungen stehen, wie schon in vielen Richtungen nachgewiesen wurde, muß sich der Lebens- prozeß eines jeden Organismus mit seinem Werden und Vergehen in den gesamten Lebensprozeß der Natur als ein abhängiges Glied nach gewissen Regeln und Gesetzen einordnen. In manchen Fällen, wo dies mit besonderer Klarheit zutage tritt, kann man mit Recht von einem Kreislauf des Lebens sprechen. Gewiß das großartigste Beispiel hierfür ist der Kreislauf des Lebens, der zwischen Pflanzen- und Tierreich besteht. Denn mit ihrer ganzen Ernährung sind ja die Tiere auf die Pflanzen angewiesen. Nur diese sind durch ihre Organisation befähigt, direkt aus unorganischen Stoffen orga- nische Substanz zu erzeugen, während sich die Tiere nur durch Zerstörung pflanzlichen Lebens ernähren können. Pflanze und Tier befinden sich daher mit ihren Lebensprozessen in einem Gegensatz zueinander und rufen einen Kreislauf des Stoffes hervor, der sich in folgender Weise formulieren läßt. In der grünen Pflanzenzelle wird aus Kohlensäure, aus Wasser und den in ihm gelösten Salzen organische Substanz erzeugt; bei der Assimilation wird zugleich die lebendige Kraft, welche der Pflanze durch das Sonnenlicht zugeführt wird, in Spannkraft um- gewandelt. Die tierische Zelle dagegen benutzt zu ihrem Nähr- material die bereits vom Pflanzenreich erzeugten Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper; teils verwandelt sie dieselben in arteigene Substanz zum eigenen Wachstum, teils verbrennt sie dieselben bei 31* 484 Zwölftes Kapitel. ihren Arbeitsleistungen durch Oxydation. Indem sie hierbei Arbeit verrichtet und Wärme erzeugt, wandelt sie die Spannkräfte, die in den hochmolekularen Verbindungen durch den Lebensprozeß der Pflanzen angesammelt sind, wieder in lebendige Kräfte um. Die Pflanze nimmt während ihrer Chlorophyllfunktion Kohlensäure auf und spaltet aus ihr Sauerstoff ab; das Tier dagegen atmet Sauer- stoff ein und Kohlensäure wieder aus. In den chemischen Prozessen der Pflanze treten Reduktion und Synthese, beim Tier Oxydation oder Verbrennung mehr in den Vordergrund. Wie infolge dieser Zusammenhänge die ganze Tierwelt ohne Anwesenheit des Pflanzenreichs nicht würde bestehen können, so wird naturgemäß auch die überhaupt mögliche Summe tierischen Lebens von der Menge der ihm vom Pflanzenreich gebotenen Nahrung in großen Zügen reguliert. Mag die Anzahl tierischer Keime infolge der oft ungeheuren Zeugungskraft einzelner Arten eine noch so große sein, die Möglichkeit für ihre Entwicklung zum reifen Zustand hängt außer manchen anderen Verhältnissen zu guter Letzt von dem für sie vorhandenen Nahrungsquantum ab. Hier liegt eine nicht zu bestreitende Wahrheit der Malthus- schen Lehre, wenn wir auch ihre Formulierung und deren Nutzanwendung als eines Mittels der Biogenesis nicht als richtig anerkennen können. Eine entsprechende Regulation, wie in diesem größeren Stoff- kreislauf , muß selbstverständlicherweise in allen ähnlichen Be- ziehungen wiederkehren, in denen ein Lebewesen auf das andere als Quelle seiner Nahrung angewiesen ist. Fleischfresser können nur in dem Verhältnis existieren, als Pflanzenfresser für sie als Beute in ausreichender Menge zu erreichen sind. Und ähnliches wiederholt sich in weiteren oder engeren Grenzen bis zur einzelnen Art herab. Viele Insekten haben sich, namentlich im Raupen- zustand (siehe S. 461), in ihrer Ernährung an eine ganz bestimmte Pflanze in dem Maße angepaßt, daß sie jede andere Nahrung ver- schmähen und ohne sie zugrunde gehen. Viele Parasiten können nur auf einer Wirtsart die ihnen zusagenden Existenzbedingungen finden. Daher hängt denn die Verbreitung und die Menge vieler Insekten von dem Verbreitungsgebiet und der Anzahl ihrer Futter- pflanzen und ebenso der Parasiten von ihren Wirten ab. Sterben aus irgendeiner Ursache bestimmte Futterpflanzen oder Parasiten- träger ab, so verschwinden mit ihnen auch die zu ihnen gehörigen Insekten und Parasiten entweder ganz oder nur in einzelnen Distrikten. So läßt sich wie im großen auch bis in die kleinsten Verhältnisse Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 485 herab ein Kreislauf des Lebens nachweisen, der sich bald in engeren, bald in weiteren und mehr verschlungenen Bahnen abspielt. Aus dem Zusammen greifen aller dieser verwickelten und uns meist unbekannten Beziehungen zwischen den Organismen unter- einander und zur Umwelt entsteht ein mehr oder minder geord- neter Mechanismus, welcher im Haushalt der Natur nach dem Ver- hältnis von Ursache und Wirkung zu einem gewissen Ausgleich führt und dafür sorgt, daß, wo eine Störung in diesem durch irgendein Ereignis eintritt, sich doch allmählich eine Regulation auf der ver- änderten Grundlage wieder vollzieht und zu einem Gleichgewichts- zustand mit einer neuen Ordnung der Dinge führt. Darwin mit seiner scharfen Beobachtungsgabe besaß ein feines Verständnis für derartige Verhältnisse. Aus dem reichen Schatz, den er hierüber in seinem Buche „Über die Entstehung der Arten“ zusammen getragen hat, teile ich als ein verwickelteres Beispiel eine Beobachtung mit, die er auf einer großen, äußerst unfruchtbaren Heide gemacht hatte. In der Heide waren einige hundert Äcker vor 25 Jahren ein- gezäunt und mit Kiefern bepflanzt worden. „Die Veränderung in der ursprünglichen Vegetation des bepflanzten Teils war äußerst merkwürdig, mehr, als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man von einem ganz verschiedenen Boden zu einem anderen übergeht. Nicht allein erschienen die Zahlenverhältnisse zwischen den Heide- pflanzen gänzlich verändert, sondern es gediehen auch in der Pflanzung noch 12 solche Arten, Ried- und andere Gräser ungerechnet, von welchen sonst auf der Heide nichts zu finden war. Die Wirkung auf die Insekten muß noch viel größer g'ewesen sein , da in der Pflanzung 6 Species insektenfressender Vögel sehr gemein waren, von denen in der Heide nichts zu sehen war, welche dagegen von 2 — 3 anderen Arten solcher besucht wurde. Wir bemerken hier, wie mächtig die Folgen der Einführung einer einzelnen Baumart gewesen , indem sonst durchaus nichts geschehen war , außer der Abhaltung des Viehs durch die Einfriedung. Was für ein wichtiges Element aber die Einfriedung ist“, fügt Darwin weiter hinzu, „habe ich deutlich in der Nähe von Farnham in Surrey gesehen. Hier waren ausgedehnte Heiden mit ein paar Gruppen alter Kiefern auf den Rücken der entfernteren Hügel; in den letzten 10 Jahren waren ansehnliche Strecken ein gefriedet worden, und innerhalb dieser Einfriedungen schoß infolge von Selbstaussaat eine Menge junger Kiefern auf, so dicht beisammen, daß nicht alle fortleben konnten. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß diese jungen 486 Zwölftes Kapitel. Stämmchen nicht gesät oder gepflanzt worden, war ich so erstaunt über ihre Anzahl, daß ich mich sofort nach mehreren Aussichts- punkten wandte, um Hunderte von Ackern der nicht eingefriedeten Heide zu überblicken, wo ich jedoch außer den gepflanzten alten Gruppen, buchstäblich genommen, aucht nicht eine einzige Kiefer zu finden vermochte. Als ich mich jedoch genauer zwischen den Pflanzen der freien Heide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und kleiner Bäumchen, welche aber fortwährend von den Herden abgeweidet worden waren. Auf einem ein Yard im Quadrat mes- senden Fleck zählte ich 32 solcher abgeweideter Bäumchen, wovon einer mit 26 Jahresringen viele Jahre hindurch versucht hatte, sich über die Heidepflanzen zu erheben, aber vergebens. Kein Wunder, daß, sobald das Land eingefriedet worden war, es dicht von kräftigen, jungen Kiefern überzogen wurde. Und doch war die Heide so äußerst unfruchtbar und so ausgedehnt , daß niemand geglaubt hätte, daß das Vieh hier so dicht und so erfolgreich nach Futter gesucht haben würde. — Wir sehen hier also das Vorkommen der Kiefer in absoluter Abhängigkeit vom Vieh.“ Wie in dem eben beschriebenen, abgezäunten Bezirk Heide sich eine von der Umgebung verschiedene Lebewelt mit ihren Be- ziehungen zueinander in kurzer Zeit entwickelt, so geschieht es überall auf der Erdoberfläche mit ihrer Gliederung in sehr mannig- faltige geographische , geognotische und klimatische, größere und kleinere Bezirke. Ein Teich unterscheidet sich von einem kleinen Tümpel in seiner Flora und Fauna in manchen Beziehungen. In jedem von ihnen bildet sich ein besonderer Kreislauf des Lebens zwischen den einzelnen Arten von Lebewesen aus, die ihn nur in proportionalen Zahlen zueinander bevölkern können , um geeignete Lebensbedingungen zu finden. Ebenso stellt sich in einem Zimmer- aquarium zwischen den in es eingebrachten verschiedenen Arten von Wasserpflanzen (Elodea, Algen) und zwischen den Tieren, Mollusken, Arthropoden, Amphibien, Fischen, Protisten allmählich um so mehr ein Zustand des Gleichgewichts ein, je mehr die Be- dingungen während einer Reihe von Jahren die gleichen geblieben sind. Eine neu angelegte Rodung im Walde, ein nur wenige Jahre unbenutztes Stück Brachland in einer kultivierten Flur wandelt sich in einer erstaunlich kurzen Zeit zu einer von ihrer Umgebung abgegrenzten Insel mit ihrem besonderen Kreislauf des Lebens um. Der Einfluß der Umwelt auf die Verbreitungs- und Lebens- weise der Organismen hat im Reich der Lebewesen Verhältnisse hervorgerufen , welche von Darwin zugunsten seiner Selektions- Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 487 theorie verwertet und seitdem ein Gegenstand erhöhten allgemeinen Interesses in Forscher- und Laienkreisen geworden sind. Unter ihnen verdienen drei eine besondere, eingehende Besprechung: 1) die Ergebnisse der Pflanzen- und Tiergeographie ; 2) die Lehre von der Mimikry und ihre verschiedene Beurteilung; 3) die vom Menschen ausgeübte Selektion also ein Sonderfall der direkten Bewirkung. • 1. Die Ergebnisse der Pflanzen- und Tiergeographie. Mit der von Humboldt begründeten Wissenschaft der Pflanzen- und Tiergeographie hat sich Darwin besonders viel beschäftigt und auf sie die Aufmerksamkeit der Forscher in höherem Grad gelenkt. Ich erinnere nur an gewisse Eigentümlich- keiten der Fauna kleiner Inseln, ferner an die Polar- und Wüsten- tiere oder an die pelagische Fauna. Wir können aus ihnen wieder lernen, daß mit der Natur der Umwelt manche Eigenschaften der Lebewesen in einem engeren Zusammenhang stehen. Von manchen Naturforschern ist auf ihren Reisen beobachtet worden, daß kleinere ozeanische Inseln von einer auffallend großen Zahl Insekten mit unvollkommenen oder ganz rudi- mentären Flügeln bewohnt werden. Von 550 auf Madeira gesammelten Käferarten konnten 200 nicht fliegen. Und noch größer als in Madeira selbst war die Zahl der flügellosen Käfer auf den kahlen, dem Wind besonders ausgesetzten Desertos. (Dar- win, Entstehung der Arten, 1872, p. 152.) „Auf den stürmischen Kerguelen sind sämtliche Insekten flügellos, darunter eine Schmetter- lingsart, mehrere Fliegen, zahlreiche Käfer. Ihr auffälliges Über- wiegen auf kleinen, dem Wind ausgesetzten Inseln läßt sich leicht daraus erklären, daß fliegende Insekten durch den Sturm vom Land abgetrieben werden, ins Meer fallen und zugrunde gehen. Unge- flügelte Arten haben daher vor ihnen den Vorteil voraus, auf diese Weise nicht vernichtet zu werden.“ Sehr häufig und in der allerverschiedensten Weise läßt sich zwischen den Tieren und ihrer Umgebung eine mehr oder minder große Übereinstimmung in der Färbung beobachten, und diese übt wieder auf die Verbreitung der Lebewelt nach Gegenden und Standorten einen deutlich wahrnehmbaren Einfluß aus. Es hat sich auf dieser Grundlage in der Zoologie die „Lehre von der sympathischen Färbung“ entwickelt, welche in der Darwi- nistischen Literatur eine große Rolle gespielt hat und noch spielt. In den ausgedehnten Schneeregionen an beiden Polen sind alle 488 Zwölftes Kapitel. dort lebenden Säugetiere rein weiß gefärbt, der Eisbär, der Eis- fuchs, der Polarhase etc., ebenso einige Vögel, wie die Schneeeule und die Schneeammer. In den Wüstenregionen der heißen Zone, in denen die gelben Töne über wiegen, zeichnen sich auch ihre Bewohner durch eine entsprechende Färbung aus, der Löwe, das Kamel, die Giraffe, die Antilopen, aber auch kleinere Vögel, Schlangen und Eidechsen. Ganz offenbar sind alle diese Tiere in der Farbe ihrer Körperoberfläche dem eintönigen Farbton ihrer Umgebung angepaßt und werden auch hiernach als Polar- und Wüstentiere unterschieden. Daß ihnen ihre Schutzfärbung, wie den Soldaten ihre feldgraue Uniform, von Nutzen ist, wird niemand bezweifeln. Denn je mehr die Tiere dem Schnee oder Wüstensand ihrer Wohngegend durch sympathische Färbung gleichen, um so leichter können sie sich auf der einen Seite vor ihren Feinden verbergen, auf der anderen Seite aber auch unbemerkt an ihre Beute heranschleichen. Ein schwarz ge- färbtes Tier in einer Schneelandschaft würde schon auf so weite Entfernungen wahrgenommen werden , daß es sich dem Angreifer schwer entziehen oder das Beutetier kaum überraschen könnte. Weil die Schutzfärbung bei den Polar- und Wüsten - tieren besonders auffällig ist, wurde sie voran gestellt; sie spielt aber auch sonst noch in der Natur eine Rolle. Viele Insekten, wie Heuschrecken, Schmetterlingsraupen, die sich auf Pflanzen auf- halten, sind grün gefärbt. Manche Schmetterlinge, das Ordensband (Catocala), einzelne Arten von Spannern haben eine graue und braune Färbung des Leibes und der Flügeloberseite, auf der noch dunkle zickzackförmige Linien verlaufen. Infolgedessen sind sie von der Rinde von Bäumen , auf die sie sich zu setzen pflegen , kaum zu unterschei ien. Auch die pelagischen Tiere sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Fast alle, mögen sie den Stämmen der Cölenteraten, Würmer, Mollusken, Tunicaten etc. angehören, sind glasartig durch- sichtig und können daher im Wasser, in dem sie herumschwimmen, kaum gesehen werden. Mit Ausnahme weniger Stellen, wie der Augen, fehlt jede Pigmentbildung. Darwin hat nicht gezögert, die s}^mpathische Färbung zu- gunsten seiner Hypothese von der Entstehung der Arten durch Selektion zu verwerten, da den Polar- und Wüstentieren ihre weiße rsp. sandgelbe Färbung offenbar von Nutzen ist. Man wird aber gleich sehen, wie wenig Wert in unserem Fall die stereotype Formel hat, daß von Lebewesen , die kleine Farbenveränderungen ihres Integuments zeigen, jedesmal die den Verhältnissen am besten an- Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 489 gepaßten im Kampf ums Dasein die Oberhand erhalten, bis endlich eine Art mit Schnee- oder Wüstenfarbe entstanden ist. Denn wie leicht zu erkennen ist, besteht die Erklärung der Tierfärbung und ihrer Beziehung zur Umwelt aus einer großen Anzahl der ver- schiedenartigsten Probleme, die entweder morphologische oder chemisch- physiologische oder biologische sind. In morphologischer Hinsicht kann die Färbung von den verschiedensten Teilen des Körpers ausgehen. Sie kann auf verschiedenfarbigen , in Zellen abgelagerten Pigmenten beruhen; sie kann hierbei vorübergehend durch amöboide Bewegungen der verschieden gefärbten Zellen, zuweilen sehr erheblich, verändert werden (Farben Wechsel des Chamäleon). Sie kann aber auch eine Interferenzerscheinung sein, die sich wieder auf mannigfache anatomische Ursachen (Linien- skulpturen auf der Oberfläche kleinster Hautanhänge, z. B. der Schmetterlingsschuppen. Ablagerung von Guaninkristallen in Zellen der Fische etc.l zurückführen läßt. Die Natur pflanzlicher und tierischer Pigmente kann nur durch chemische Untersuchungen festgestellt werden. Eine Erklärung von Interferenzfarben wird uns durch die Physik geliefert. Wie Pigmente im Stoffwechsel der Lebewesen und wie die physikalischen Bedingungen für Inter- ferenzfarben durch mikro-histologische Verhältnisse entstehen , sind schwierige Fragen der Physiologie und Entwicklungsgeschichte. Daß hier wissenschaftliche Aufgaben vorliegen , von denen wir eigentlich noch wenig wissen, obwohl ihre Kenntnis über das Pro- blem der Tier- und Pflanzenfärbung viel Licht verbreiten würde, wird niemand in Abrede stellen ; er wird aber auch zugleich einräumen müssen; daß es von vornherein töricht wäre, für diese echt wissen- schaftlichen Fragen das Selektionsprinzip heranziehen zu wollen. Was an dem ganzen Aufgabenkomplex morphologisch, chemisch, physikalisch und physiologisch ist, kann nur mit morphologischen, chemischen, physikalischen und physiologischen Methoden gelöst werden. In diesen Richtungen versagt also gleich von vornherein das Selektionsprinzip. Somit bliebe als Gegenstand seiner Erklärung nur noch die räumliche Verbreitung der Tiere nach ihrer Färbung übrig. Ist es nun irgendwie wahrscheinlich, daß durch Begünstigung kleiner geeigneter Farbennuancen durch Naturzüchtung die in den Polar- und Wüstenregionen lebenden Tiere langsam, Schritt für Schritt, in ihrer Färbung so verändert worden sind, bis sie weiß wie der Schnee oder gelb wie der Wüstensand aussehen? Sollte sich der Prozeß nicht viel einfacher abgespielt haben? Wie jeder 490 Zwölftes Kapitel. weiß, gibt es viele Säugetier- und Vogelarten, deren nebeneinander lebende Individuen in der Färbung ihrer Behaarung und ihres Ge- fieders aus unbekannten Ursachen bei der Pigmentbildung ungemein variieren. Ich erinnere an die weißen, grauen, schwarzen, gelb- braunen Mäuse, Kaninchen, Pferde, Hunde etc. oder an die Tauben und Hühner mit ihrem verschiedenartigen Gefieder. Es wird daher gestattet sein, einen ähnlichen Ausgangspunkt für die Vorfahren der Polar- und Wüstentiere anzunehmen. Dann könnten zweierlei Vorgänge stattgefunden haben. Im einen Fall bewohnten die Vor- fahren der heutigen Polartiere das Gebiet, ehe es vereist und mit Schnee bedeckt war. Dann läßt es sich verstehen, daß mit Einbruch der Eiszeit die in der Schneelandschaft durch ihre Färbung leicht wahrnehmbaren Individuen wegen der Ungunst der Existenzbe- dingungen in kurzer Zeit entweder von ihren Feinden oder durch die Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung vernichtet wurden. Nur die sympathisch gefärbten Individuen blieben schließlich er- halten, und da die abnormen Lebensbedingungen auf ihre Isolierung gegenüber ihren Verwandten in der Fauna nicht vereister Gegenden hinwirkten, war zugleich der Grund zur Entstehung einer Lokal- varietät oder einer neuen Art gelegt. Im zweiten Fall könnte man aber auch eine allmählich erfolgende Besiedelung der Polar- gegend von der verschiedenfarbigen Fauna der umgebenden Ge- biete annehmen. Dann würden nur die weißen Individuen der einwandernden Arten die besseren Aussichten für ihr Fortkommen gefunden und den Ausgangspunkt für eine besondere Polarfauna abgegeben haben. Für die Erklärung der Farbenanpassung der Wüsten tiere würde man zwischen denselben Alternativen zu wählen haben. In beiden Fällen hätte man es mit einer direkten Bewirkung zu tun, mit einer direkten Vernichtung der für die vorhandenen Lebensbedingungen nicht geeigneten Individuen. Hier liegt ein großer Unterschied gegenüber der mit kleinen Zufälligkeiten operieren- den Selektionstheorie. Bei dieser sollen viele Probleme, die nicht voneinander gesondert werden , ihre Erklärung finden , bei unserer Betrachtungsweise dagegen wird die Erklärung nur auf einen bestimmten Punkt beschränkt. Denn es soll durch sie nicht die Entstehung der weißen , rsp. gelben Farbe der Polar- und Wüstentiere, was ein besonders chemisch-physiologisches Problem ist, sondern nur die Verbreitung weiß oder gelb gefärbter Tiere über bestimmte Wohngebiete erklärt werden. Wenn man nicht schärfer, als es gewöhnlich geschieht, ausein- Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 491 anderhält, welche Aufgabe man mit der so geschmeidigen Selektions- formel des Darwinismus eigentlich lösen will, wird man aus Un- klarheiten und Widersprüchen zwischen den Ansichten verschiedener Forscher nicht herauskommen. So kann es geschehen, daß, während ich in der obigen Erklärung eine direkte Bewirkung, und wohl mit Recht, erblicke, Weismann (Vorträge, 1902, Bd. I. p. 75) im Gegen- teil behauptet, „es handele sich bei der Weißfärbung der Polar- tiere sicher nicht um die direkte Wirkung des Klimas, wie man öfters gemeint habe, sondern um indirekte, d. h. um den Erfolg von Naturzüchtung. Er habe das an diesem Beispiel klarlegen wollen, damit er es nicht bei allen folgenden immer zu wiederholen brauche.“ Der Gegensatz in unserer Stellungnahme, auf den ich aus demselben Grunde wie Weismann etwas ausführlicher eingehe, ist darauf zurückzuführen, daß der Freiburger Forscher mehr beantworten will, als die in der geographischen Verbreitung der Tiere liegende Aufgabe eigentlich verlangt. Denn außer der Verbreitung der weißen Tiere auf weißem Grund will er auch die Entstehung der weißen Farbe bei Polartieren erklären, was eine zweite Aufgabe ist, die unter Umständen mit der ersten in gar keinem notwendigen Zusammenhang steht. Daher verwertet Weismann die weiße Farbe der Polar tiere als einen Beweis zugunsten der Selektionstheorie, dagegen erkenne ich in ihr die Folgen einer direkten Bewirkung. Denn schwarze und buntgefärbte Tiere müssen auf weißem Grund allmählich der Vernichtung anheimfallen, ebenso wie Landtiere im Wasser und Wassertiere auf dem Lande nicht längere Zeit leben können , oder ebenso wie auf kleinen stürmischen Inselchen ge- flügelte Insekten arten nicht gut f ortkommen , weil sie ins Meer geweht werden, so daß flügellose Arten im Gesamtbild der Fauna in relativer Überzahl sind. Wenn ich die Frage der Entstehung der weißen Farbe bei Polartieren im Vorhergehenden als ein gesondertes, noch wenig spruchreifes Problem von meiner Erklärung ausgeschlossen habe, so will ich zum Schluß dieser Erörterung doch nicht unerwähnt lassen, daß nach einzelnen, von Weismann angeführten Beobach- tungen (Vorträge, Bd. I, p. 73 — 75) die Kälte sogar die Entstehung weißer Haare direkt zu begünstigen scheint. Beim Alpenhasen (Lepus variabilis), der im Sommer braun und im Winter rein weiß ist, hat POULTON gezeigt, daß das Weiß dadurch zustande kommt, daß die dunklen Haare der Sommertracht im Anfang des Winters weiß weiter wachsen, und daß die Fülle neu er Haare, welche den 492 Zwölftes Kapitel. Winterpelz vervollständigt, von vornherein weiß hervorwächst. Letztere fallen in der warmen. Jahreszeit wieder aus bei der Um- wandlung des Winter- in den Sommerpelz. Ferner sollen nach Versuchen von Kapitän Ross, von denen Poulton berichtet, ge- fangene und im Zimmer gehaltene Lemmings im Winter nicht eher weiß werden, als bis man sie der Kälte aussetzt. Durch die Kälte werden in diesen Fällen übrigens nicht bereits gefärbte Haare ent- färbt, sondern nur durch ihre Einwirkung auf den Organismus die Haarkeime, von denen das Weiter Wachstum und die Neubildung von Haaren ausgeht, veranlaßt weiß aussehende Haarsubstanz zu erzeugen. Bei dem Mangel genauerer Untersuchungen beschränke ich mich auf diesen kurzen Hinweis. Nach meiner Meinung würden derartige Vorkommnisse ebenfalls nicht zugunsten der Selektions- theorie, sondern für direkte Bewirkung zu verwerten sein. Auf eine genauere Beurteilung aller dieser Verhältnisse wird erst im sechzehnten Kapitel, welches von der Kritik der Selektion s- und Zufallstheorie handelt, noch eingegangen werden. 2. Die Lehre von der Mimikry und ihre Beurteilung. Die Besprechung der Farbenanpassung führt uns ganz natur- gemäß auf eine Summe von Erscheinungen, die als Beweismittel für Darwins Lehre von der Entstehung der Arten unter seinen Anhängern stets eine große Rolle gespielt haben und unter dem Namen der „Mimikry“ zusammengefaßt worden sind. Wenn wir das Wort in dem umfassenderen Sinn, den es allmählich erlangt hat, hier gebrauchen, so versteht man darunter die Tatsache, daß manche Tiere in vielen Eigentümlichkeiten ihrer Gestalt, ihrer Färbung und ihrer Zeichnung anderen Lebewesen oft auffallend ähnlich aussehen und diese Ähnlichkeit zum Schutz gegen Nach- stellung von Feinden verwerten. Besonders häufig wird Mimikry in verschiedenen Ordnungen der Insekten beobachtet, die entweder pflanzliche Teile, besonders Blätter und Stengel, oder andere Tiere nachahmen. Manche Fälle, die den Familien der Orthopteren und der Schmetterlinge angehören, sind in der wissenschaftlichen und populären Literatur so häufig besprochen worden, daß sie allgemein bekannt geworden sind und hier nur kurz zusammen gestellt zu werden brauchen, um uns als Grundlage für weitere Erörterungen zu dienen. Unter den Orthopteren finden sich in den Tropen viele bizarr gestaltete Arten ; einige (Fig. ui A) gleichen wegen ihres Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 493 langgestreckten und braun gefärbten Körpers mit den seitwärts abgehenden langen Beinen einem kleinen, dürren Ästchen mit seinen abstehenden Zweigen ; andere sehen wie ein grünes oder vertrocknetes, braunes Blatt (Fig. 1 1 1 B) aus. Die einen werden daher auch als Stab- die anderen als Blattheuschrecken be- zeichnet, und unter diesen führt eine Art schon von langer Zeit her den Namen „das wandelnde Blatt“. Bei ihr sind Brust und Bauch plattgedrückt und verbreitert; selbst die Extremitäten sind blatt- Fig. m. A Stabheuschrecke, Acanthoderus Wallacei B Blattheuschrecke, Phyllium scythe Q. Aus R. Hertwig. artig, indem ihre beiden Kanten in Chitinduplikaturen mit gesägten Rändern auslaufen; und dabei sind alle diese Teile blattartig ge- färbt. Daher sind die Stab- und Blattheuschrecken beim Aufent- halt zwischen Pflanzen, von denen sie leben, nicht leicht zu unter- scheiden und gegen Feinde besser geschützt. Noch viel täuschender ist die oft bis in kleine Details durch- geführte Ähnlichkeit bei den Blattschmetterlingen, besonders bei der viel besprochenen Kallima paralecta, welche in den Wäldern Indiens verbreitet ist (Fig. 112 A). Wenn dieselbe sich an den 494 Zwölftes Kapitel. Zweigen gewisser Sträucher niedersetzt und die Flügel nach oben zusammenschlägt, wie es Tagschmetterlinge zu tun pflegen, so gleicht sie auf das täuschendste einem trockenen Blatt (Fig. 112 a) nicht nur durch die gleichmäßig gelbe oder braunrote Grundfarbe der unteren Flügelfläche, sondern auch durch die Blattform, welche der Schmetterling angenommen hat. Wie nämlich die Vorderflügel in eine nach vorn gerichtete Blattspitze auslaufen, so ver- längern sich die Hinterflügel in einen nach hinten gerich- teten Fortsatz , der sich einem Blattstiel vergleichen läßt und einen solchen beson- ders dann vortäuscht, wenn sein Ende an den Zweig der Pflanze anstößt, an der sich der Schmetterling niedergelassen hat. Dazu gesellen sich auch Eigentümlich- keiten der Zeichnung, welche die Ähnlich- keit noch weiter er- höhen. Denn der stiel- förmige Fortsatz und Fig. 11 2. Blattschmetterling-e. Kallima paralecta die Spitze des VOr- (A und a) nach Wallace; Siderone strigosa (B und j tti- i j b) nach C Sterne. A und B fliegend ; a und b an einer deren Flügels werden Pflanze sitzend. Aus R. Hertwtg. durch einen dunkler gefärbten schmalen Streifen untereinander verbunden, und von diesem gehen wieder zahlreiche, schräge, dunklere Linien nach beiden Seiten und in gleichen Abständen bis zum Rand, so daß ein Bild entsteht, wie die Mittelrippe eines Blattes mit ihren Seitenrippen. Nur beim Sitzen des Schmetterlings wird die Blattähnlichkeit vorgetäuscht. Denn im Flug kommt die obere Fläche der ausgebreiteten Flügel zur Geltung, und diese ist ganz anders als die untere, wie bei sehr vielen Schmetterlingen , in mehreren leuchtenden Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 495 Farben prächtig geschmückt und mit einem anderen Zeichen- muster versehen. Da jetzt die Kallima leicht wahrnehmbar ist, kann sie sich nur durch die Schnelligkeit des Fluges ihren Ver- folgern entziehen. Bei Besprechung der blattähnlichen Schmetterlinge darf übrigens nicht unerwähnt bleiben , daß es sehr zahlreiche Arten derselben gibt. Bei ihnen wird die Blattähnlichkeit durch Verwendung von spitzen Fortsätzen der Flügel und von farbigen Streifen, die Blatt- rippen vortäuschen, in anderer Weise als bei Kallima und in sehr verschiedenen Graden der Vollkommenheit erreicht. In der Muste- rung und Form der Flügel ist hierbei eine große Mannigfaltigkeit wahrzunehmen. Wie zwischen Pflanzen und Tieren, kommen täuschende Über- einstimmungen auch zwischen zwei Tierarten, und zwar in der Weise vor, daß die eine von ihnen aus ihrer Ähnlichkeit mit der anderen Nutzen zieht und sie zu ihrem Schutze benutzt. Es ist dies die Mimikry im engeren Sinne, wie sie zuerst von Bates, Wallace und Fritz Müller entdeckt und beschrieben worden ist. Am berühmtesten ist die vielbesprochene Mimikry zwischen Heliconiden und Pieriden, zwei Familien von Schmetterlingen, die in Südamerika weit verbreitet sind. Die Heliconiden zeichnen sich durch die bunte Färbung ihrer Vorder- und Hinterflügel in leuchtendem Rot, Gelb und Braun aus, so daß sie leicht erkennbar sind. Obwohl sie in Schwärmen Zusammenleben und schwerfällig fliegen, werden sie trotzdem von Vögeln, Eidechsen und anderen Feinden nicht ver- folgt, weil sie einen widrigen Geschmack und Geruch besitzen, der von besonderen im Fettkörper aufgespeicherten Substanzen her- rührt. Da sie mithin keine Feinde haben, die ihnen nachstellen, sind sie in ihrem Verbreitungsbezirk ziemlich gemein. In ihren Schwärmen werden nun sehr häufig Schmetterlinge einer zweiten Art aus der Familie der Weißlinge oder Pieriden aufgefunden, die von der betreffenden Heliconidenart selbst vom kundigen Forscher schwer zu unterscheiden sind; so sehr gleichen sie ihnen in Größe, Form, bunter Färbung und Musterung der Flügel. Sie treten in einer geringeren Zahl von Individuen auf, und da ihr Fettkörper keinen widrigen Geschmack und Geruch hat, sind sie gleich der Mehrzahl der Schmetterlings für ihre Feinde genießbar. Daher erscheint die jetzt allgemein angenommene Ansicht von Bates, daß sie durch ihre Vereinigung mit den Heliconidenschwärmen einen Schutz vor ihren Feinden finden, nicht unbegründet. Die Heli- 496 Zwölftes Kapitel. coniden sind bei diesem Zusammenleben die nachgeahmten, immunen Arten, die Pieriden die schutzbedürftigen Nachahmer. Ein genau entsprechender Parallelfall liegt zwischen den in Südafrika lebenden Danaiden und mehreren, mit ihnen nicht näher verwandten Arten, wie Papilio Merope, vor. Hier sind die Dana- iden die geschützten und nachgeahmten, dagegen die mit ihnen zusammenlebenden Individuen anderer Art die schutzbedürftigen Nachäffer. Bei der Mimikry kommt es auch vor, daß Weibchen und Männ- chen der nachahmen- den Art verschieden sind, und daß bei diesem Dimorphismus des Ge- schlechts nur die Weib- chen die schützende Nachahmung besitzen. Auch daß ein und dieselbe Art auf ver- schiedenen Wohnge- bieten mehrere immune Arten nachahmt, wird berichtet. Nach den Angaben von Weis- Eig. ii 3. Mimikry zwischen Heliconiden , . A - .. und Pieriden. Nach Wallace. Die Pieride Leptalis MANN werden in Am ka kopiert die übelschmeckende Heliconide Methone psidii. vier verschiedeneWeib- chen von Papilio Merope beobachtet, von denen jedes eine geschützte Danaidenart nachahmt. Sie sind nicht immer lokal getrennt, eine jede nicht etwa auf ein Gebiet durchaus beschränkt, sondern ihre Verbreitungsgebiete greifen häufig übereinander, uud man hat z. B. am Kap aus einem Satz von Eiern Männchen und drei verschiedene Weibchenformen gezogen. Es besteht also hier bei den mimetischen Weibchen ein ganz überraschender Polymorphismus. Offenbar gehören daher die nach- ahmenden Schmetterlinge Arten mit großer Variabilität der Färbung und Zeichnung an. Für die richtige Beurteilung ist ferner be- achtenswert, wie schon Darwin (1. c. p. 500) betont hat, daß die nachgeahmte und die spottende Form immer dieselbe Gegend be- wohnen; wir finden niemals einen Nachahmer, der entfernt von der Form lebt, die er nachbildet. „Die Spötter sind fast ausnahmslos Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 497 seltene Insekten; die verspotteten kommen fast in jedem Fall in großen Schwärmen vor.“ In der DARWiNschen Literatur wird die Mimikry gewöhnlich als ein Paradestück von besonderer Beweiskralt aufgeführt. Schon von Darwin wurde sie bei ihrer nur kurzen Erwähnung ein aus- gezeichnetes Beispiel des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl ge- nannt. Weismann widmet ihr aus diesem Grund in seinen Vor- trägen über Deszendenztheorie zwei ausführliche Kapitel (IV und V). Versuchen wir daher im Anschluß an die Erörterung der sym- pathischen Färbung auch eine kritische Analyse der jedenfalls sehr überraschenden und interessanten Mimikryerscheinungen zu geben. Noch mehr als bei der sympathischen Färbung der Polar- und Wüstentiere handelt es sich bei der Mimikry um einen ungemein verwickelten Komplex sehr vieler Verhältnisse, die anatomisch und physiologisch so verschiedenartig voneinander sind, daß die Ent- stehung eines jeden nur aus seiner besonderen Ursache erklärt werden kann. Um Klarheit zu schaffen, sind jedoch bei einer kritischen Analyse von vornherein zweierlei Dinge reinlich ausein- anderzuhalten. Erstens handelt es sich bei der sympathischen Färbung und bei der Mimikry um die Tatsache, daß manche Naturgegen- stände trotz allgemeiner und wesentlicher, oder sagen wir dafür kurz, trotz innerer Verschiedenheiten sich in äußerlichen Merkmalen bis zum Verwechseln ähnlich sind. Zweitens sind diese nur äußer- lich gleichen Gegenstände auch noch in einen engeren Zusammen- hang zueinander dadurch gebracht, daß der eine — und zwar in diesem Falle stets das Lebewesen — aus seiner Ähnlichkeit einen Nutzen zieht. Es entsteht dadurch zwischen beiden ein kausaler Zusammenhang, der zugleich als ein zweckmäßiger für den einen Beteiligten bezeichnet werden kann. Denn bei der Mimikry be- nutzt der Nachahmer die Ähnlichkeit mit dem nachgeahmten Gegen- stand für seinen Zweck, indem er sich gegen seine Feinde in wirk- samer Weise zu schützen sucht. Während nun auf der einen Seite klar auf der Hand liegt, daß man von sympathischer Färbung und von Mimikry nur dann sprechen kann, wenn auch die zweite Forderung erfüllt ist, muß auf der anderen Seite noch daran erinnert werden, daß sehr große Ähnlichkeiten zwischen zwei Gegenständen auch ohne Erfüllung des zweiten Moments häufig in der Natur zu beobachten sind, und zwar sowohl zwischen zwei leblosen Gegenständen als zwischen zwei Lebewesen oder zwischen diesen und jenen. Dieser Umstand O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 32 498 Zwölftes Kapitel. darf bei der Frage, wie die Übereinstimmung im Fall der sym- pathischen Färbungen und der Mimikry entstanden ist, gewiß nicht außer acht gelassen werden. Gleichwohl pflegen gewöhnlich die Forscher, welche das Selektionsprinzip als Erklärung benutzen, still- schweigend darüber hinwegzugehen. Um so notwendiger ist es, auch einmal darauf hinzuweisen, daß bei dem ganz ungeheueren Formen-, Far- ben- und Musterreichtum der lebenden Natur sich leicht eine lange Liste von Ähnlich- keiten zwischen Lebewesen mit anderen oder mit Gegen- ständen der leblosen Natur würde zusammmen stellen lassen, die ohne jeden Bezug zueinander sind. Hierfür nur einige, besonders auffällige Beispiele : i) Die Cystoflagellate Lepto- discus medusoides lebt pelagisch, ist vollkommen transparent und gleicht, soides auf dem optischen Durch- . , . T schnitt und von der Fläche ge- druckt ist, den kleinen Jugendformen sehen. Nach Richard Hertwig. VOn Medusen so vollständig, daß O Zuleitung zum Mund, p Proto- meln Bruder sie beim Einfangen aus plasmastrang. dem Wasserglas anfangs für eine solche hielt und erst durch genauere mikroskopisch-histologische Untersuchung über die wahre Natur des einzelligen Organismus belehrt wurde (Fig. 114). Es bildet nämlich auch der Leptodiscus eine glockenförmig gewölbte Gallert- scheibe mit verdickter Mitte, allerdings nur von 1,5 mm Größe. Er schwimmt äußerst lebhaft wie eine Meduse durch Zusammen- klappen der Scheibe, an deren unterer Fläche Muskelfibrillen gerade wie bei den Medusen verlaufen. Noch größer ist die Ähnlichkeit bei einer zweiten Art von Cystoflagellate, der Craspedotella pileolus, da hier am Glockenrand noch eine Bildung wie ein Velum nach- weisbar ist. 2) Die zu den Protozoen gehörenden Thalamophoren oder Foraminiferen, deren Protoplasmakörper in sehr verschieden geformte Kalkgehäuse eingeschlossen ist, wurden von den älteren Systematikern, wie noch von Lamarck, zu den beschälten Mollusken gerechnet. Unter ihnen besitzen viele Arten von Polythalamien Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 499 vielkammerige Schalen, die wie ein Schneckenhaus eingerollt sind. Sie haben, wie Richard Hertwig bemerkt, eine so überraschende Ähnlichkeit in ihrer Form mit den außerordentlich viel größeren Schalen der Nautiliden, daß selbst hervorragende Forscher, wie D’ORBIGNY, veranlaßt wurden, die Foraminiferen für kleine Cepha- lopoden zu halten. Hierzu tritt noch als ein weiteres überein- stimmendes Moment die Vermehrungsweise in der Zahl der Kammern. Sowohl bei den Polythalamien wie bei Nautilus ist zuerst nur eine vorhanden; an ihre Öffnung setzt sich dann, solange das Wachs- tum dauert, eine zweite, dritte usw. an, wobei jede nachfolgende etwas größer wird und eine spirale Anordnung erfolgt. 3) Die Cirripedien oder Lepadiden (Fig. 30) sind zwar Krebs- tiere; sie sehen aber in ihrer äußeren Erscheinung und infolge ihrer festsitzenden Lebensweise viel eher wie Muscheln aus. Denn ihr Körper ist, wie bei der Mießmuschel, in zwei dicke, verkalkte, weiß und braun gefärbte Schalenhälften eingeschlossen, die aus mehreren Stücken bestehen und, wenn sie zusammengeklappt sind, das ganze Tier einschließen. Eine Art führt daher auch den deut- schen Namen „Entenmuschel“ (Lepas anatifera). Wie von Laien, wurden die Cirripedien auch sogar von Forschern, unter diesen selbst noch von Cuvier, nach ihrem Aussehen für Mollusken ge- halten, bis die Entdeckung der Larven durch Thompson und Bur- meister ihre Crustaceennatur und insbesondere ihre nahe Ver- wandtschaft mit den Entomostraken unzweifelhaft machte. 4) Unter den Säugetieren wiederholen die Cetaceen den Fisch- typus in sehr vollkommener, täuschender Weise. Ihre ganze Körper- form ist wegen der mangelnden Gliederung und ihres zu einer typischen Flosse umgestalteten Schwanzendes fischartig ; dazu kommt noch die haarlose und glatte, mit einer dicken Fettschicht ausgestattete Haut, die flossenähnlichen Vorderextremitäten und die den Fischen entsprechende Lebensweise. Daher erscheint es wohl begreiflich, daß einige Vertreter als Walfische bezeichnet werden, und daß beim ersten Anblick schwimmender Delphine der Beobachter gewöhnlich große Fische zu erblicken glaubt. 5) Wie ganze Tierabteilungen sich in ihrer äußeren Gestalt in so auffälliger Weise gleichen können, so auch einzelne Arten, die getrennten Familien angehören und in weit voneinander entfernten Bezirken gefunden werden. Aus der Klasse der Vögel ist Macronyx capensis, eine südafrikanische Art, schwer zu unterscheiden von Sturnella ludoviciana, welche in den Vereinigten Staaten vorkommt. Namentlich aber lehren die Mimikrybeispiele selbst, daß dieselbe 32* 5oo Zwölftes Kapitel. Färbung und Musterung über mehrere Schmetterlingsarten ver- breitet sein kann. Denn das von den Pieriden nachgeahmte Muster ist nicht nur einer Danaisart eigentümlich, sondern findet sich auch noch in derselben Gegend bei 3 — 4 Arten, die anderen Familien angehören und ebenfalls wegen ihres widrigen Geschmackes immun sind, so daß die Übereinstimmung nicht auf Mimikry und Schutz- bedürfnis zurückgeführt werden kann. So zeigt nach den Beobach- tungen von Fritz Müller, die ich dem Buch von Weismann entnehme, die Danaide: Lycorea sp. dieselben Farben, Braun, Schwarz, Gelb in ähnlichem Muster wie die Heliconiden: Heliconius Eucrate und Eueides Isabella, ferner wie die Neotropinen : Mechanitis Lysimnia und Melineae sp. Man hat daher von einem Mimikry- ring gesprochen. Wie in Brasilien können auch in anderen Ge- genden einheimische Arten zu entsprechenden Ringen zusammen- gefaßt werden, deren Weismann mehrere mitteilt. Da in einem solchen Ring schon jede Art durch ihren widrigen Geschmack ge- schützt ist, kann aus ihrem Vorhandensein wohl nur geschlossen werden, daß leicht variierende und bunt gemusterte Schmetterlings- arten überhaupt nicht selten überraschende Ähnlichkeiten darbieten. 6) Noch häufiger als im ganzen Habitus finden sich auffällige Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen verschiedener Stämme, Klassen und Ordnungen in bezug auf nur wenige Einzelteile ihrer Organi- sation. Schon früher (S. 433) wurde erwähnt, daß die durchsichtigen Linsen, welche in allen Stämmen des Tierreichs als Bestandteile von Sehorganen beobachtet werden, nach Form und Funktion als lichtbrechende Körper sowohl einander als auch einer künstlich fabrizierten optischen Linse gleichen, trotzdem aber in ihrer Sub- stanz oder in ihrer histologischen Struktur oder in beiden Be- ziehungen grundverschieden sind. Entsprechendes beobachtet man in den Färbungen und Zeichnungen der Körperoberfläche; bei ihnen zu verweilen, erscheint um so mehr geboten, als sie bei der sympathischen Fär- bung und bei den Erscheinungen der Mimikry die Hauptrolle spielen. Nichts ist variabler und ruft im Reich der Lebewesen eine größere Summe von Mannigfaltigkeit hervor, als die Färbung und Muste- rung. Hierbei trifft man ähnliche Farben und Muster sowohl in fast allen Stämmen des Tierreichs an, in besonders reicher Aus- führung bei Arthropoden und Wirbeltieren, als auch lernt man, daß nächstverwandte Individuen einer LlNNEschen Art in ihrer Färbung die größten Kontraste darbieten. Tauben und Hühner, Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 501 Mäuse, Hunde und Pferde können weiß, grau, braun, schwarz oder an einzelnen Körperteilen verschieden gefärbt sein. Ungeheuer erhöht wird aber die schon hier bestehende Ver- schiedenheit durch ungleichfarbige Zeichnung und Musterung. Bald finden sich auf sonst gleich gefärbtem Grund in Kontrast- farben ausgeführte runde Farbflecke oder Bänder, Binden und Striche, die bald breiter, bald schmäler sind, oder gezackte Linien oder ein Netzwerk oder eine bald gröbere, bald feinere Felderung. Was für ein Reichtum an verschiedener Zeichnung auf diese Weise zustande kommt, lehren besonders die Schmetterlinge, die Eidechsen, die Vögel und manche Säugetiere. Auch hierbei ist bemerkens- wert, daß dieselben Muster bei den Vertretern der verschiedensten Klassen wiederkehren. Als Beweis führe ich eines der schönsten und wirkungsvollsten Muster der Körperoberfläche, die augen- ähnlichen Flecke, an (Fig. 115). Sie finden sich bald in ein- facherer, bald in mannigfaltiger Ausstattung, bald an dieser, bald an jener Stelle des Körpers, ferner in verschiedener Größe und Zahl. Entweder sind es runde helle Flecke auf dunklem Grund oder um- gekehrt. Bei reicherer Verzierung wird die Mitte des Flecks als besonders gefärbter Kern von einer Anzahl verschieden gefärbter, heller und dunkler Ringe umgeben. Die verschiedenen Farben, aus denen die Ringe bestehen, gehen durch Mischtöne wie die Streifen eines Regenbogens ineinander über. Unter den Schmetter- lingen zeichnet sich nach den Angaben von Eimer Saturnia carpini durch die meisten Ringe aus, deren Zahl hier fünf beträgt. Augen- ähnliche Ornamente werden zuweilen in manchen Fischgruppen, die durch ihre prachtvolle bunte Färbung auffallen, besonders aber bei Schmetterlingen, und bei diesen seltener im Raupen- (Fig. 1 1 5 A), häufiger im Imagozustand (Fig. 115B) beobachtet. Auch in der Klasse der Vögel kommen sie vor, wo sie in den Schwanzfedern des männlichen Pfaus und des Argusfasans wohl die wirkungs- vollste Zierde bilden. Im Hinblick auf eine gewisse, häufig wiederkehrende Regel- mäßigkeit komplizierter Ornamente haben schon einzelne Forscher, unter ihnen namentlich Eimer, der sich in seinen Schriften zur Orthogenesis auf ein sehr reiches Beobachtungsmaterial stützt, die Ansicht ausgesprochen, daß in ihr der Ausdruck von bestimmten Bildungsgesetzen zu suchen sei, welche die Zeichnung der Tiere beherrschen. Auch in der Augenfleckbildung der Schmetterlinge erkennt Eimer denselben Vorgang, wie ihn Darwin (1. c. Bd. II, 502 Zwölftes Kapitel. p. 1 19 — 133) für die Augenzierden des Argusfasans beschrieben hat; er läßt sie aus Streifen, aus Grundbinden entstehen, und das gleiche läßt er für die Augenflecke von Raupen stattfinden1). Wenn wir zurzeit auf diesem Gebiet auch noch ganz am An- fang der Forschung stehen, so wird die Hoffnung, daß auf ihm allgemeine Naturgesetz mäßigk eiten werden nachzuweisen sein, wie Fig. 1 1 5 A u. B. Augenähnliche Zierflecke. A am Kopf einer erwachsenen Raupe des Weinschwärmers Chaerocampa Elpenor. B auf der Unterseite der Flügel des Schmetterlings Caligo. Eimer erwartet, wohl in Zukunft in demselben Maße in Erfüllung gehen, je mehr wir in die chemische Entstehung und Ablagerung der Pigmente im Körper, über ihre Verteilungs weise auf bestimmte Hautregionen im Zusammenhang mit ihrer Organisation tieferen Einblick gewinnen. Jedenfalls liegen hier viele, noch ganz ungelöste und wenig bearbeitete Aufgaben der Farbenphysiologie etc. vor. In diesem Zusammenhang mag auch an physikalische Experimente 1) Eimer, Orthogenesis, Bd. II. — Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl , Bd. I u. II, 2. Aufl 1871. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 503 erinnert sein, durch welche augenähnliche Zeichnungen, wie sie bei den verschiedensten Vertretern des Tierreichs Vorkommen, sich auch künstlich herstellen lassen. Wenn man nach dem Verfahren von Liesegang auf eine frisch gegossene, gechromte und erstarrte Gelatineplatte einen Tropfen von Silbernitratlösung bringt, dann entstehen bei der langsamen Ausbreitung der Lösung in der feuchten Gelatine Niederschläge von braunrotem Chromsilber, und zwar genau wie bei den augenähnlichen Tierzeichnungen in einer größeren oder kleineren Anzahl von regelmäßigen Ringen, die um den ur- sprünglichen Tropfen als Mittelpunkt herumziehen und durch regel- mäßig abwechselnde Zonen maximalen und minimalen Niederschlags hervorgerufen sind. Von Gebhardt ist diese auffällige Überein- stimmung sogar verwertet worden, um auf die hier sich darbietende Möglichkeit hinzuweisen, die augenähnlichen und bandförmigen Zeichnungen, die beim Lebensprozeß in Schmetterlingsflügeln und Vogelfedern entstehen, nach Analogie der experimentell erzeug- baren Figuren physikalisch-mechanisch zu erklären 1). Indessen kommt es uns bei der uns jetzt beschäftigenden Frage zunächst nur auf die Feststellung der einfachen Tatsache an, daß das Gebiet der Färbungen und Zeichnungen der Tiere so reich an Abwechslungen ist, wie kaum ein anderes Organisations Verhältnis. Es finden sich bei den allerverschiedensten Lebewesen so viele .Farbenzusammenstellungen und Muster, daß man nicht nur Ähnlich- keiten zwischen Repräsentanten ganz entfernter Tierklassen, sondern auch mit gefärbten pflanzlichen Teilen oder mit anderen Natur- gegenständen, zumal bei Aufwendung von etwas Phantasie, leicht erkennen wird. So haben die besprochenen Augenornamente als Zeichnung nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem wirklichen Sehauge, nämlich mit der Pupille und den sie umgebenden ver- schieden gefärbten Ringen, sondern auch untereinander, mögen sie bei Schmetterlingen, bei den Raupen derselben oder bei Vogel- federn oder in der Fischhaut beobachtet werden. Nach dieser Feststellung wenden wir uns zu dem zweiten Punkt, der erfüllt sein muß, wenn wir die Übereinstimmung zwischen zwei Naturobjekten in Färbung, Musterung und Form als sympa- thische oder als Schutzfärbung und Mimikry bezeichnen wollen. Es muß, wie schon früher bemerkt wurde, zwischen einem Lebewesen 1) W. Gebhardt, Die Hauptzüge der Pigmentverteilung im Schmetterling sflügel im Lichte der Liesegang sehen Niederschläge in Kolloiden. Verhandl. der Zoolog. Ge- sellsch., 1912. 504 Zwölftes Kapitel. und dem ihm in irgendeiner Beziehung ähnelnden Ding, mag es ein zweites Lebewesen oder ein anderer Gegenstand sein, ein Kausalnexus hergestellt werden, derart, daß das Lebewesen irgend- einen Vorteil für sich aus der bestehenden Ähnlichkeit zieht. Die Ähnlichkeit zwischen Leptodiscus und einer Meduse, zwischen Foraminiferen und Nautilusschalen, zwischen Entenmuscheln und Mießmuscheln, zwischen Fischen und Walfischen kann nicht als eine sympathische bezeichnet werden; sie ist keine Mimikry aus dem einfachen Grund, weil der hierfür erforderliche Kausalnexus fehlt. Also spitzt sich die eigentliche Frage dahin zu: wie wird der Kausalnexus zwischen dem geschützten oder dem nachahmen- den Tier mit dem schützenden oder dem nachgeahmten Gegenstand hergestellt x) ? Zu ihrer Beantwortung liegt eine Zahl von Beobachtungen vor, aus denen man schließen muß, daß instinktive Hand- lungen zur Herstellung des unbedingt notwendigen Zusammenhangs erforderlich sind. Einige derselben sind von Doflein in einem beachtenswerten Aufsatz beschrieben wor- den. Auf der Insel Martinique beobachtete er an den Abhängen des Mt. Pelee drei Eidechsenarten der Gattung Anolis in großer Zahl. Sie waren ganz verschieden voneinander gefärbt; die eine war bräunlich, die andere grün, die dritte hellgrau mit dunkleren Flecken marmoriert; sie bewegten sich bei der Insektenjagd an den gleichen Orten durcheinander. Bei einer Störung waren sie dem Auge rasch entschwunden, indem sie sich zu ihrem Schutze versteckten. Wie Doflein bei diesem Vorgang feststellen konnte, war durch die Flucht eine eigenartige Sortierung der Individuen nach Arten erfolgt. Die grüne Form hat grüne Rasenbüschel, die braune die dürren und die marmorierte schließlich hatte die hellen Baumstämmchen aufgesucht, deren sonnenbeschienene Rinde mit den Blätterschatten ihrer Färbung vollkommen entsprach. Im Schutz der umgebenden verbergenden Farben hielten sich die Tiere ganz ruhig, so daß man den Eindruck erhielt, als handelten sie mit dem Bewußtsein, dort gesichert zu sein. Ganz ähnliches be- i) Bates, Contributions io an insect Fauna of tlie Amazons valley. Linn. Soc. Trans., Vol. XXIII, 1862. — Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit (Schutzfärbung und Mimikry). Biologisches Zentralblatt, Bd. XXVIII, 1908. — Eimer, Th., Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigen, schäften nach den Gesetzen organischen Wachstums, Jena 1888. — Werner, Franz Das Ende der Mimikry liypothese ? Biologisches Zentralblatt, Bd. XXVII, 1907. — Derselbe, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Ebenda, Bd. XXVIII , 1908. — JTacobi, A., Mimikry und verwandte Erscheinungen. Braunschweig, Vieweg u. Sohn, 1918. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 505 obachtete Doflein an der gleichen Lokalität bei zwei Heuschrecken- arten, einer braunen und einer grünen. Schon vor Doflein hat Eimer (1. c. p. 156) ähnliches von Schnarrheuschrecken berichtet. Er schreibt: „Die bei uns im Som- mer so häufige Schnarrheuschrecke mit den roten, schwarz gebän- derten Hinterflügeln: Acridium germanicum (Oedipoda germanica) gleicht, wenn es die Oberflügel zusammengefaltet hat, durch deren Farbe da, wo das Tier auf dem rotbraunen Tübinger Keuper- mergelboden vorkommt, diesem Boden dermaßen in der Farbe, daß es von ihm nicht zu unterscheiden ist. Wenig über dem roten Keupermergelboden findet sich nun auf den hiesigen Höhen weiß- licher Keupersandstein, zuweilen nur in der Breite eines Weges oder in etwas größeren Flächen, öfters inmitten des ersteren. Auf diesen kleinen Flächen helleren Bodens finde ich regelmäßig die Schnarrheuschrecke mit ganz hellen Oberflügeln, so daß sie, wenn sie auf ihm sitzt, kaum zu sehen ist. Und dieselbe wunderbare „Anpassung“ habe ich auch sonst bemerkt.“ Vor vielen Jahren machte ich eine entsprechende Beobachtung während eines Sommeraufen thalts in Schreiberhau im Riesen gebir ge. Auf einer Chaussee sah ich viele Motten mit weiß und grau ge- färbten Flügeln. Sie ließen sich mit Vorliebe auf den grauen Chausseesteinen nieder, die mit weißer Kalkmilch bespritzt worden waren, ;und verschwanden dann dem Blick wegen ihrer Ähnlich- keit mit der Farbe des Ruhesitzes. Da eine Anpassung durch Zuchtwahl an die mit Kalkmilch bespritzten Steine nicht erfolgt sein kann, so müssen die Motten durch ihren Gesichtssinn und ihr Schutzbedürfnis bestimmt worden sein, sich an dem Ort mit gleicher Färbung niederzulassen. Auch Doflein schließt aus seinen Beobachtungen, daß „ein psychischer Vorgang, im weiteren Sinne ein Reflex oder Instinkt die Tiere veranlassen müsse, die zu ihrem Schutz zweckmäßige Handlung vorzunehmen“, und er glaubt eine Schutzanpassung auch in der Weise erklären zu können, „daß das Aussehen eines Tieres ohne Zusammenhang mit der Nützlichkeit entstanden ist und erst nachträglich durch den Instinkt, durch die Fähigkeiten des Tieres ausgenutzt wird.“ In der Annahme der letzteren kann keine Schwierigkeit erblickt werden. Denn es kann doch nicht zweifel- haft sein, daß die Tierklassen, in denen Fälle von Mimikry be- obachtet werden, ein oft sehr entwickeltes Wahrnehmungs- und rasches Orientierungsvermögen besitzen und hierdurch zu bestimm- ten Handlungen veranlaßt werden. Ebensogut wie sie ihre Futter- 5°6 Zwölftes Kapitel. pflanzen oder wie sie bestimmte Blüten, aus denen sie Honig und Pollen sammeln, oder wie sie bestimmte Stellen zur Ablage ihrer Eier erkennen und auswählen, können sie sich auch aus Schutz- bedürfnis in ihrer Umgebung orientieren und in Zusammenhang hiermit instinktive und zweckmäßige Handlungen ausführen. Auf diese Weise lassen sich alle Fälle von sympathischer Färbung oder von Mimikry nach einem gemeinsamen Prinzip erklären. Unter den vielen in der Natur zu beobach- tenden Farbkleidern der Schmetterlinge, der Eidechsen, der Heu- schrecken etc. werden daher nur solche zu sympathischen, deren Träger sie auch zu benutzen verstehen, um sich an den ihnen ähn- lichen Gegenständen zu verbergen : die Ordensbänder auf der ähn- lich gefärbten Oberfläche der Baumrinde, grüne Eidechsen in grünem Gras, braune in trocken gewordenem Gras etc. Nicht anders liegt es bei der Mimikry. Wenn sich eine rotbraun gefärbte Kallima des früher beschriebenen Habitus auf einen Zweig mit sehr großen, runden oder mit schmalen Blättern von hellgrüner Farbe festsetzt, so bietet sie uns kein Beispiel von Mimikry; wohl aber dann, wenn sie sich zum Ruhesitz den Zweig eines Strauches mit Blättern aufsucht, die ähnlich wie ihre Flügel geformt sind. Wenn gleich gefärbte und gemusterte Arten von Pieris und Danais in getrennten Gegen- den auftreten, so liegt zwar eine überraschende zufällige Ähnlich- keit vor, wie man sie in nicht minder wunderbarer Weise auch sonst zuweilen beobachtet; zu Mimikry aber wird sie erst dann, wenn beide Arten zusammen Vorkommen und wenn Pieris sich zwischen den Danaidenschwarm mischt, um sich dadurch in ihren Schutz zu begeben. Wenn ich in Übereinstimmung mit Doflein zur Erklärung der sympathischen Färbung und der Mimikry einen psychischen Vorgang im schutzsuchenden Tier als erforderlich ansehe, da durch ihn erst der notwendige Kausalnexus zwischen zwei sonst ohne Zusammenhang dastehenden Ähnlichkeiten hergestellt wird , so können als Beweis hierfür außer den schon angeführten Beobach- tungen auch Experimente geltend gemacht werden. Doflein hat solche mit verschiedenen Arten von Crustaceen angestellt. Wie er auf seiner Reise in Ostasien beobachtete, „ähneln einzelne Arten von Epialtus und Pugettia in Farbe und Oberflächenstruktur außer- ordentlich den dunkelgrünen Thallusteilen der Fucaceen; viele Actäiden haben eine Oberflächenstruktur von Panzer und Beinen, welche sie Korallen, Kalkalgen und korrodierten Steinen sehr ähn- lich machen. Verschiedene Galatheiden glichen, die eine vollkommen Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 507 der rosenroten Pennatulide, die andere der orangefarbigen Gorgonide, die dritte den schwarz weiß geringelten Seeigelstacheln, welche ihren bevorzugten Aufenthalts- und Zufluchtsort bildeten. Auch die oxyrrhynche Krabbe, Humia proteus, welche sich häufig zwischen den Algen der Gattung Halimeda findet, ist ihnen in ihrem auf- fallenden äußeren Umriß, in Farbe und Oberflächenstruktur täuschend ähnlich.“ Wenn nun Doflein solche Tiere und verschiedenartige Gegenstände in eines seiner Aquarien brachte, so waren nach wenigen Minuten die Tiere, wenn sie noch lebenskräftig waren, so verteilt, daß jedes die Unterlage auf gesucht hatte, welcher es selbst ähnlich war. „Es findet also in solchen Fällen sicher ein Unter- scheiden und Wählen der geeigneten Umgebung statt. Dabei stürzt sich das einzelne Individuum in den Bereich der schützenden Umgebung, wie sonst ein Tier in ein Versteck.“ Das Schutzbedürfnis kann auch von manchen Tieren, welche ihrer Umgebung in ihrem Äußeren nicht angepaßt sind, durch eine Instinkthandlung, die man Maskierung benannt hat, befriedigt werden. Maskierung kommt bei Krabben vor. Stenorhynchus z. B., der zwischen Ulven lebt, bedeckt sich auf seinem Rücken mit Ulven, die ihn in seiner gewohnten Umgebung verbergen. Er kann aber auch seine Maskierung in zweckmäßiger Weise je nach Umständen verändern. Als Aurivillius Exemplare von Stenorhynchus zur Anstellung von Versuchen auf eine Wiese von Hydroidpolypen versetzte, rupften sie die Ulven, welche sie in der neuen Umgebung nicht mehr unerkennbar machten, ab und ersetzten sie durch Hydroidpolypen . Da solche Instinkthandlungen, wie sie in den angeführten Ex- perimenten zu beobachten sind und zum Verständnis der S3^m- pathischen Färbung und der Mimikry herangezogen worden sind, schon ein höher entwickeltes Nervensystem und Vollkommenere Sinnesorgane voraussetzen, wird es uns jetzt auch verständlich sein, warum Mimikry und Schutzfärbung fast ausschließlich nur in den beiden Stämmen der Arthropoden und Wirbeltiere beobachtet werden. Auch auf diesen Punkt hat schon Doflein aufmerksam gemacht. Zwar finden sich Ähnlichkeiten in Form, Färbung und Musterung mit anderen Gegenständen auch bei Protozoen (Leptodiscus, Fora- miniferen), bei Cölenteraten, unter denen sich zahlreiche Actinien- arten durch Farbenschmuck auszeichnen, bei Würmern, bei Echino- dermen und Mollusken, deren Kalkgehäuse einen großen Reich- tum von Farben und Mustern darbieten. Aber es werden hier die Ähnlichkeiten, wo sie Vorkommen, nicht in die für Schutzfärbung 5°8 Zwölftes Kapitel. und Mimikry erforderliche Beziehung zueinander gebracht in der Weise, wie es bei den Beispielen aus dem Stamm der Arthropoden und der Wirbeltiere nachgewiesen wurde. 3. Über die Bedeutung der vom Menschen ausgeübten Selektion im Haushalt der Natur. In dem vierten Abschnitt, der vom Kreislauf des Lebens und vom Einfluß der Umwelt auf die Verbreitungs- und Lebensweise der Organismen handelt, ist im Anschluß an die Pflanzen- und Tiergeographie und an die Mimikry wohl auch der geeigneteste Ort, auf die Bedeutung des Wahlvermögens oder der Selektion des Menschen im Haushalt der Natur noch näher einzugehen. Es ge- hört zu den großen Verdiensten von Darwin, auf die zahllosen Erscheinungen, in denen sich das Wahlvermögen des Menschen äußert, und auf die Veränderungen, die dadurch in der Zusammen- setzung der Pflanzen- und Tierwelt hervorgerufen worden sind, in eindringlicher Weise hin gewiesen und ein weites Gebiet, welches Systematiker, Anatomen und Physiologen in früheren Zeiten meist unbeachtet ließen , der biologischen Wissenschaft erschlossen zu haben. Wenn ich auch die Berechtigung der Folgerungen, die Darwin in der Frage nach dem Ursprung der Arten aus dem Studium der Selektionserscheinungen in seiner Theorie gezogen hat, nicht anerkennen kann, wie ich schon hier und da auf den voraus- gegangenen Seiten (Kap. VI — XII) ang'edeutet habe, aber zusammen- hängend erst in den letzten Kapiteln meines Buches begründen werde, so liegt es doch, — ich kann wohl sagen selbstverständ- licherweise — nicht in meiner Absicht, den Einfluß der Selektion auf das Gesamtbild der Organismenwelt als belanglos hinzustellen oder gar zu leugnen. Wohl aber handelt es sich darum, das, was sie leistet und was sie nicht leistet, klar voneinander zu scheiden, also ihre Grenzen bei der Erklärung von Natur Vorgängen zu er- kennen und zu bestimmen. Auswahl, im weiteren Sinne gefaßt, wird von Lebewesen in der verschiedensten Weise in der Natur ausgeübt, zum Beispiel von Tieren, die, von ihrem Instinkt geleitet, sich die ihnen zusagende Art von Nahrungsmitteln suchen. In diesem Fall bildet sie ein wichtiges Mittel zur Erhaltung der Arten, die meist an eine für sie spezifische Art der Ernährung an gepaßt sind, wie am besten die Insekten lehren ; sie gehört dann mit zu ihren wesentlichen Daseinsbedingungen. Ungleich wirkungsvoller und vielseitiger aber gestaltet sich ihre Rolle im großen Haushalt der Natur, wenn sie Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. 509 planmäßig und mit Bewußtsein vom Menschen als einem vernunft- begabten Wesen betrieben wird. Schon im Zustand des Wilden hat der Mensch, wie das unter ihm stehende Tier, zuerst mehr instinktiv Selektion getrieben, indem er unter Pflanzen und Tieren die für seine Lebensbedürfnisse am meisten geeigneten herausfand und sie teils zur Nahrung, teils in anderer sehr verschiedener Weise zur Erleichterung seiner Daseins- bedingungen benutzte. Bald verband er mit der Auswahl auch die Kultur der ihm nützlich erscheinenden Lebewesen und schmiedete sich durch die Verbindung beider Methoden eine Waffe, durch die er die allergrößten Veränderungen in der ihn umgebenden Pflanzen- und Tierwelt hervorgebracht hat. Und so wie in der Vergangen- heit, wird er das Antlitz der Erde auch in Zukunft mit beschleunig- ter Geschwindigkeit noch weiter verwandeln, bis er die meisten Organismen seinen Interessen und Wünschen in vielen Richtungen angepaßt und von sich abhängig gemacht hat. Hierdurch trug er in die lebende Natur den Gegensatz zwischen wilden und domes- tizierten, d. h. den zahllosen menschlichen Bedürfnissen und Wünschen angepaßten Pflanzen- und Tierarten hinein. Nun kann allerdings die Auswahl für sich allein, wie ja klar auf der Hand liegt, das Wesen der ausgewählten Gegenstände an sich nicht verändern. Da ihnen durch den Wahlakt keine neuen Eigenschaften zufliegen, kann sie erst dann eine Veränderung in den Verhältnissen der Lebewesen zueinander, in ihrer Entwick- lung und Gestaltung veranlassen, wenn sie sich auf der einen Seite mit einer Vernichtung oder wenigstens mit einer teilweisen Ver- drängung der als nicht selektionswertig befundenen und verworfenen Objekte verbindet, auf der anderen Seite dagegen eine Verbessernng und Änderung der Lebensbedingungen für die Auserwählten, wie es am meisten durch methodische Züchtung geschieht, herbei- führt. Im ersten Fall spricht man von einer negativen, im zweiten von einer positiven Selektion, oder in dem einen Fall von der Aus- jäte der Verworfenen, in dem anderen von der Höherzüchtung der Auserwählten. In Verbindung mit Ausjäte und Höher- züchtung aber verwandelt sich die Selektion in ein Mittel der direkten Bewirkung, wie vorausgreifend gleich hier schon angedeutet sein mag. Durch negative Selektion in ihrer Verbindung mit Verdrängung und Ausrottung hat der Mensch, seitdem wir historische Kunde von ihm besitzen, die Ausbreitung und Verteilung von Pflanzen- und Tierarten auf der Erde in höchstem Grade beeinflusst. Wo Zwölftes Kapitel. 510 er sich niederließ und vermehrte, hat er Wälder ausgerodet, Sümpfe trockengelegt und das frei gewordene Land ebenso wie Heide und Moor in Kulturland umgewandelt; er hat es mit den Pflanzen seiner Wahl bedeckt, welche sich nun unter seinem Schutz und seiner Pflege an Stelle der verdrängten Arten in ganz anderer Weise als in der vom Menschen unbeeinflußten Natur zu seinem Nutzen vermehren konnten. Es entspinnt sich ein ununterbrochener Kampf, in dem der Mensch die wilden Pflanzen, die ihm als „Unkraut“ lästig werden, jahraus, jahrein ausjäten muß, um vor ihm die Arten seiner Wahl su schützen. . Genau dasselbe Schauspiel wiederholt sich im Tierreich. Wo der Mensch erscheint, werden die wilden, aber besonders unter ihnen die schädlichen Tiere aus den verschiedensten Stämmen ver- drängt, und wird dadurch Platz für die vpn ihm bevorzugten, domes- tizierten Arten geschaffen. Auch zwischen den verschiedenen Menschenrassen macht sich die negative Selektion mit ihrer Aus- rottung geltend. Denn von dem Augenblick, wo der weiße Europäer die neuentdeckten Erdteile, Amerika und Australien, betreten hat, haben die Ureinwohner vor ihm unaufhaltsam zurückweichen müssen und sind in der verschiedensten Weise, gewaltsam mit der Waffe oder durch Versetzung in ungünstige Lebensbedingungen oder durch Krankheiten und Gifte der Kultur, wie das „Feuer wasser“, bis auf geringe Reste vertilgt worden. Wie der Wind auf kleinen Inseln die geflügelten Insekten an ihrem Fortkommen verhindert und die flügellosen in ihrer Aus- breitung begünstigt, so ist der Mensch, wo er erscheint, die direkte Ursache geworden, daß sich die Verbreitung und der Charakter der Arten im Pflanzen- und Tierreich im Vergleich zu der von ihm unbeeinflußten Natur von Grund aus verändert hat. Ihre Ergänzung und Erweiterung findet die negative in der positiven, vom Menschen betriebenen Selektion in Verbindung mit einer methodisch durchgeführten Kultivierung und Züchtung. Alle vom Menschen ausgewählten Kulturpflanzen und domestizierten Tiere haben sich im Vergleich zu ihren nächstverwandten, wilden Arten in vielen ihrer morphologischen und physiologischen Eigen- schaften verändert , wie es von Darwin als wissenschaftliches Problem zuerst in seinen Werken planmäßig untersucht worden ist. Besonders solche Eigenschaften, durch welche sie dem Menschen in irgendeiner Weise nützlich oder wertvoll wurden, sind oft bis zum Extrem entwickelt worden: bei den Pflanzen die Größe und der Geschmack der Früchte, oder die nahrhafte Beschaffenheit von Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur. Teilen des vegetativen Körpers oder die Größe, Form und Pracht der Blüten; bei den Tieren ihre Arbeitskraft, ihre verschiedenen Instinkte oder mancherlei Eigenschaften, durch welche sie dem Menschen für Zwecke der Ernährung (Fleisch, Fett, Milch, Eier), und der Bekleidung (Wolle, Felle) wertvoll wurden. Viele Tausende von Varietäten, die im Laufe von Jahrtausenden entstanden sind, würden ohne die züchtende Tätigkeit des Menschen ebenso wenig, wie viele vom Chemiker künstlich hergestellten chemischen Körper, auf der Erde existieren. Ihr verdanken wir die Fülle der Äpfel-, Birnen-, Stachelbeer-, Kirsch- und Weinsorten, der zahlreichen Kürbis-, Melonen- und Gurkenrassen, der Kartoffel- und Rüben- gewächse und vor allem den unübersehbaren Reichtum der aller- verschiedenartigsten Zierblumen. Im Tierreiche braucht ebenso nur an die vielfach variierten domestizierten Rassen der Pferde, Rinder, Schafe, Schweine, Kaninchen oder der Hühner, Enten, Tauben usw. erinnert zu werden. Es genügt, an dieser Stelle zur Vervollständigung der im Kap. X — XII besprochenen Umweltsfaktoren, die auf das Werden der Organismen von Einfluß sind, den züchtenden Einfluß des Menschen auf die von ihm ausgewählten Vertreter des Pflanzen- und des Tierreichs in kurzen Zügen berührt zu haben; auf ihre Beurteilung wird noch einmal später bei einer Kritik der DÄRWiNschen Selektions- theorie genauer eingegangen werden (Kap. XVI). Dreizehntes Kapitel. Das Problem der Vererbung. Ober das Vererbungsproblem wird seit der 1883 erschienenen Schrift von Weismann1) viel gestritten; besonders wird hierbei das Thema diskutiert: „Gibt es eine Vererbung erworbener Eigen- schaften oder nicht?“ Bei seiner Erörterung haben sich auf der von Weismann gegebenen Grundlage zwei Parteien unter den Biologen gebildet, von denen die eine die Vererbung erworbener Eigenschaften ebenso entschieden verneint, wie sie die andere be- jaht. Der Streit ist in vieler Beziehung ein recht un- fruchtbarer und vielfach nur ein solcher um Worte geworden. Da sich die Vererbung durch die Keimzellen und die Übertragung der erworbenen Eigenschaften auf einem für unsere Erkenntnismittel unsichtbaren Gebiet abspielt, haben selbst- verständlicherweise alle Vorstellungen, die wir uns hierüber bilden können, einen hypothetischen Charakter. Je mehr verschiedenartige Hypothesen aber auf gestellt und je komplizierter sie ausgeklügelt werden, wie es z. B. von Weismann geschehen ist, um so schwie- riger wird es, sich auf dem Gebiet zurechtzufinden und sich über manche Dinge zu verständigen oft nur deswegen, weil sie durch die trübe Brille einer bestimmten Hypothese angesehen werden. Versuchen wir also möglichst hypothesenfrei vorzugehen ! Um eine feste Grundlage zu gewinnen, ist es notwendig, sich zuvor über den Begriff zu verständigen, was man überhaupt unter einer er- worbenen Eigenschaft zu verstehen hat. Erst wenn dies geschehen ist, kann man dann auch zur Erörterung des schwierigsten Problems der Biologie übergehen, auf welchem Wege von den Organismen neue Eigenschaften erworben und zum Erbe ihrer Nachkommen gemacht werden können. Wir werden uns dabei loszumachen haben von dem Netzwerk, in welches Weismann die Vererbungslehre durch seine Keimplasmahypothese und seine Germinalselektion während mehrerer Jahrzehnte verstrickt hat. 1) Weismann , Aug Über die Vererbung. Jena 1883. Erwerbung und Vererbung neuer Arteigen schäften. 513 1. Was hat man unter dem Begriff der Vererbung erworbener Eigen- schaften zu verstehen? Nach der schon vorausgegangenen, besonders aber im III. Ka- pitel gegebenen Darstellung kann über die Beantwortung der Frage kaum noch ein Zweifel herschen. Denn wie früher bewiesen wurde, ist das Wesen jeder Pflanzen- und Tierart in der spezifischen Or- ganisation ihrer Artzelle begründet. Also bildet die Artzelle die Vermittelung zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen und erhält die Kontinuität des für die Art eigentümlichen Lebens- und Gestaltungsprozesses. Daher konnte sie in bildlichem Sinne als die Trägerin des Erbes, das von einer auf die andere Generation überliefert wird, bezeichnet werden. In welcher Form aber dieses Erbe in der Keimzelle besteht, ist eine Qualitas occulta; sie wird als Anlage von dem, was am ausgebildeten Organismus in seinen Eigenschaften für unsere Sinne wahrnehmbar wTird, bezeichnet. Anstatt von einer Generalanlage, kann auch von einer Summe sie bildender Einzelanlagen (Gene) gesprochen werden, da die Vielheit der uns wahrnehmbar gewordenen Eigenschaften des ausgebildeten Organismus es uns nahe legt, daß bei voller Erkenntnis auch eine Zerlegung des Erbes in viele einzelne Anlagen würde vorzunehmen sein. Daß wir von einer solchen Erkenntnis zurzeit weit entfernt sind nnd kaum noch die Andeutung eines Weges, sie zu erwerben, vor uns sehen, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Daher gilt für die einzelnen Anlagen erst recht, daß sie Qualitates occultae sind, daß wir uns von ihnen noch weniger als von ihrem Gesamt- begriff eine bestimmtere Vorstellung bilden können. Sie sind ver- gleichbar den Buchstaben der Algebra, welche fiktive Größen, geeignet zur Ausführung von Denkoperationen sind, die aber doch erst durch Einsetzen bestimmter Zahlenwerte eine reale Bedeutung ge- winnen und zu wirklichen Größen werden. Für unsere in der Überschrift aufgeworfene Frage läßt sich daher jetzt eine Antwort finden und in den Satz zusammenfassen: Wenn irgendein pflanzlicher oder tierischer Organis- mus eine neue E igenschaft als bleibenden Bestandteil der Art erwirbt, so kann es nur durch Veränderung ihrer Artzelle, und zwar durch eine Veränderung der in ihr hierfür besonders disponierten Substanz (Idioplasma, Erbmasse) geschehen. Von der Ver- änderung des Idioplasm a, die in einer oder in mehre- ren aufeinanderfolgenden Ontogenesen durch Ent- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 5i4 Dreizehntes Kapitel. stehung, von neuen Anlagen eintritt, kann man dann in bildlicher Sprechweise sagen, daß sie zu dem älteren Bestand des Erbes als ein neu er worben er Teil hinzugekommen und den folgenden Generationen überliefert oder vererbt worden sei. In welcher Weise die Veränderung entstanden ist, bleibt hierbei zunächst ganz gleichgültig. Hiermit sowie mit dem Begriff „der latenten Anlage“ und mit den Annahmen eines Verlustes, einer Neubildung, einer anderen Kombi- nierung von Genen etc. werden wir uns erst im nächsten Ab- schnitt zu beschäftigen haben. Mit unserer begrifflichen Auseinandersetzung hat die in der Überschrift aufgeworfene Frage auch schon ihre Beantwortung gefunden. Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften betrachte ich in dem von mir näher definierten Sinne als eine unanfechtbare Tatsache. Sie leugnen, hieße nichts weniger, als die Konstanz der Art pro- klamieren. Denn ohne Erwerb von neuen Eigenschaften und ohne ihre Vererbung auf nachfolgende Generationen kann es auch keine Fortentwicklung der Art geben. Es ist mir in vieler Hinsicht immer ein Rätsel geblieben, wie die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften seit 30 Jahren zu einer Art Schlagwort und zum Gegenstand stets erneuter Debatten werden konnte. Eine Erklärung hierfür kann ich, wie schon angedeutet, nur in der Ver- mengung und Verwirrung mit der zweiten Frage finden, zu deren Erörterung wir jetzt übergehen. 2. Auf welchem Wege können neue Arteigenschaften erworben und als Anlagen vererbt werden? Alle Rätsel der Biologie, an denen die größten Naturforscher aller Zeiten ihren Scharfsinn geübt haben, türmen sich vor uns bei der P'rage auf: wie ist die Artzelle mit ihren Anlagen entstanden? Denn um nichts weniger handelt es sich bei der Beantwortung des in der Überschrift aufgestellten Themas. Durch welche wunder- baren Prozesse hat auf natürlichem Wege ein Substanz gebildet werden können, wie sie in der Eizelle oder gar im Kopf eines nur mikroskopisch sichtbaren Samenfadens in kaum meß- und wägbarer Menge beherbergt wird? Denn indem diese Substanz als Grund- lage für die kompliziertesten, bestimmt gerichteten Entwicklungs- prozesse dient, besitzt sie auch die Fähigkeit (Potenz), die zahl- reichen, harmonisch zusammen wirkenden Organe hervorzubringen, unter diesen so sinnreich konstruierte, erstaunlich zusammengesetzte Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. Werkzeuge, wie das Auge mit seinen Retinaschichten und seinen zur optischen Kammer zusammengefügten, für Nah- und Fernsehen einstellbaren Teilen, oder wie das Gehirn mit seinem unentwirr- baren Geflecht von Leitungsbahnen. Wo strenge Wissenschaft versagt, beginnt das Reich der Hypo- thesen. Wie solche vor 500, vor 300 und vor 100 Jahren be- schaffen waren, wurde schon in den historischen Betrachtungen des ersten Kapitels dargestellt. Ich erinnere nur an die Präformations- oder Evolutionstheorie von SWAMMERDAM, LEEUWENHOEK, Leib- NIZ und Haller, an die Einschachtelungshypothese von Males- BRANCHE und Bonnet, an die Panspermie von Buffon und Oken, an die Epigenesis von Caspar Friedr. Wolff und Blumenbach. Mit der Entdeckung der Zelle sind in der gegenwärtigen Periode der Wissenschaft neue Hypothesen gezeitigt worden, aus deren kritischer Besprechung sich eine Klärung des Vererbungsproblems und vieler mit ihm zusammenhängender Fragen ergeben wird. Sie stehen in mancher Hinsicht in einem ähnlichen Gegensatz zu- einander, wie in früheren Jahrhunderten die Präformation und die Epigenesis. Sie können hiernach in zwei Gruppen getrennt und nach ihrer Zusammengehörigkeit besprochen werden. 1. Die Hypothesen der Pangenesis von Darwin und des Keimplasma von Weismann x). Den Reigen moderner Hypothesen eröffnet Darwins Pan- genesis. Entstanden an einem Wendepunkt biologischer Forschung, trägt sie noch in vieler Hinsicht ein Gepräge der vorausgegangenen Periode an sich. So bietet sie auch viele Anknüpfungspunkte zu BuFFONS und Okens (vgl. S. 9 — 12) Panspermie dar, wie von Huxley bemerkt und von Darwin selbst anerkannt worden ist. Um sie zu verstehen, muß man im Auge behalten, daß Darwin weit weniger Morphologe als Systematiker war, und daß er sich mit Zellen- und Gewebelehre, ja auch mit Embryologie nie ein- gehender beschäftigt, nach eigenem Geständnis auf diesen Gebieten keine Erfahrungen und auch nur ein geringes Maß von Kenntnissen besessen hat. Nur so erklären sich die großen und offenkundigen Schwächen der Pangenesis- Hypothese, die ihm ein Verständnis der 1) Darwin , Ch., Das Variieren der Tiere und Pflanzen, Bd. TI, Vererbung. Kap. 12 — 15; Provisorische Hypothese der Pangenesis , Kap. 27 , 2. Ausgabe 187S. — Weismann , Über Leben und Tod, 188 4. — Die Kontinuität des Keimplasma als Grundlage einer Theorie der Vererbung, Jena 1885. — Die Allmacht der Naturzüchtung , 1893. — Neue Gedanken zur Vererbungsfrage , Jena 1895. — Über Germinalselektion , 1896. — Vorträge über Deszendenztheorie Bd. 1 u. II, 1. Aufl. 1902. 33 Dreizehntes Kapitel. 516 Vererbungserscheinungen in seinem Sinne eröffnen sollte. Darwin erwähnt zwar öfters die Zellentheorie, läßt sie aber in seiner Pangenesis eine ganz nebensächliche Rolle spielen ; auch hält er sie noch im Jahre 1873 für nicht vollständig begründet. Nach Darwins Annahme besitzen alle Zellen bei Pflanzen und Tieren außer ihrem Vermögen, sich durch Selbstteilung zu ver- mehren, noch die Fähigkeit, zahlreiche kleinste, unsichtbare, lebende Teilchen, die er Keimchen (Gemmules) nennt, abzuwerfen. Dies geschieht nicht nur von jeder Zelle während des erwachsenen Zu- standes, sondern in derselben Weise auch auf allen verschiedenen, zahlreichen Stadien des Entwicklungsprozesses. Außer ihnen birgt aber jedes Lebewesen viele Keimchen, die noch von den Großeltern und von viel entfernteren Vorfahren herrühren. Diese Annahme glaubte Darwin machen zu müssen zur Erklärung von Erblich- keitserscheinungen, die er mit dem Namen Atavismus zusammen- gefaßt hat. Die abgeworfenen Keimchen besitzen auch selbst das Vermögen, sich durch Teilung zu vervielfältigen , wenn sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden. Sie sammeln sich in den Säften des Körpers an und zirkulieren mit ihnen jederzeit durch alle Organe und Gewebe hindurch. Die Keimchen dienen zur Reproduktion von Tochter Organismen. Hierzu werden sie dadurch befähigt, daß sie eine gegenseitige Ver- wandtschaft zueinander haben. Infolgedessen vereinigen sie sich an bestimmten Stellen des Körpers zu Keimzellen und Knospen. Bei Verletzungen vermitteln sie die Regeneration. Eier, Samen- fäden und Knospen stellen daher gleichsam einen Extrakt von allen Zellen des Körpers auf seinen verschiedenen Entwicklungs- stadien dar. „Nicht die Keimzellen sind es also, welche neue Organismen erzeugen“, bemerkt Darwin, „sondern die Zellen selbst durch den ganzen Körper.“ Jede separate Zelle erzeugt ihre Art durch Abgabe eines freien Keimchens, welches fähig ist, eine ähn- liche Zelle zu reproduzieren. Um die richtige Reihenfolge zu erklären, in der während der Ontogenese die einzelnen Keimchen sich in die ihnen entsprechenden Zellen umwandeln, nimmt Darwin eine besondere Wahlverwandt- schaft jedes Keimchens für die besondere Zelle an, für die es in der ontogenetischen Reihenfolge bestimmt ist (1. c. p. 430). „Die Entwicklung eines jeden Wesens“, heißt es in der Pangenesis- theorie, „hängt von der Gegenwart von Keimchen ab, welche zu jeder Lebensperiode abgegeben werden und von ihrer Entwicklung zu entsprechenden Perioden in Vereinigung mit vorausgehenden Zellen.“ Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 517 „Streng genommen, wächst das Kind nicht zum Mann heran, sondern schließt Keimchen ein, welche langsam und sukzessiv entwickelt werden und den Mann bilden. Im Kinde erzeugt schon jeder Teil ebenso wie im Erwachsenen, denselben Teil für die nächste Gene- ration.“ Bei dem außerordentlichen Ansehen Darwins kann es nicht wunder nehmen , daß auch seine provisorische Hypothese der Pangenesis vorübergehend viele Verehrer fand. Trotzdem ist sie kaum von Einfluß für die Fortentwicklung der Vererbungswissen- schaft geworden. Denn sie ist durchaus eine auf unwahrschein- lichen Prämissen künstlich auf gebaute Hypothese. Unhaltbare An- nahmen sind: die Abgabe von Keimchen von allen Zellen auf jeder Stufe der Entwicklung , ihr Transport in den Säften durch alle Teile des Körpers, ihre wie ein Wunderwerk anmutende und zu ihrer planmäßigen Wiedervereinigung führende Affinität zuein- ander, ihr Schlummerzustand, in dem sie zum Teil auf unbegrenzte Zeit verharren können. Wer allerdings die^e nur aus der Phantasie geschöpften Voraussetzungen annehmen will, wird die Hypothese für leistungsfähig halten und das Gewünschte mit ihr erklären können. Denn wie Nägeli ganz richtig bemerkt: „der den tat- sächlichen Verhältnissen entsprechende Erfolg ist gesichert, wenn die Keimchen am richtigen Ort, in der richtigen Weise und zur richtigen Zeit sich vereinigen und entwickeln“. Jetzt wird die Pangenesis kaum noch bei der Erklärung der Erblichkeitser- scheinungen erwähnt, weil niemand mehr die Möglichkeit eines Keimchentransportes anerkennt. Einen viel größeren Einfluß auf die moderne Vererbungslehre hat W EISMANN ausgeübt als U rheber der Keimplasmatheorie und als Verfasser der Schriften über Germinalselektion und über die Allmacht der Naturzüchtung. Gleichwohl kann auch seine Keimplasmatheorie nur als eine durch Fortfall der Transporthypo- these verbesserte neue Auflage der Pangenesis bezeichnet werden. Denn beide zeigen in ihrer wichtigsten Grundlage Übereinstimmung. Wie Darwin, nimmt auch Weismann unendlich zahlreiche, sich durch Teilung vermehrende Keimchen als Repräsentanten für alle Zellen an, welche in ihren Eigenschaften selbständig vom Keim aus veränderlich sind, sowohl während als am Abschluß der Onto- genese. Mit Rücksicht darauf, daß im fertigen Organismus und auch während seiner Entwicklung alle Zellen, Gewebe und Organe in einem gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander stehen, läßt er auch im Ei und Samenfaden die Keimchen zu einer kompli- Dreizehntes Kapitel. 518 zierten Architektur verbunden sein und bezeichnet die einzelnen Keim- chen oder ihre kleinen und größeren Gruppen mit besonderen Namen als Biophoren, Determinanten, Iden und Idanten, ihre Gesamtheit aber als Keimplasma. Diesen Namen wählte Weismann, weil er ursprünglich überhaupt die ganze Substanz von Ei- und Samen- zelle als Keimplasma ansah; später verlegte er es im Anschluß an die vorher von mir und von Strasburger begründete Kernidio- plasmatheorie (vgl. S. 102 — 12 1) in das Chromatin des Kerns. Durch Verbindung der beiden auf verschiedenen Wegen ent- standenen Hypothesen gewann WEISMANN ein Mittel, mit dessen Hilfe er zu erklären versuchte, wie im Laufe der Entwicklung die einzelnen Embryonalzellen ihre Determinanten (Keimchen) vom Keimplasma erhalten und durch sie zu den Geweben und Organen des ausgebildeten Geschöpfes bestimmt werden. Das Mittel ist die Kernteilung; denn durch sie soll in einer wunderbar verwickelten Weise die Keimplasmaarchitektur in ihre einzelnen Bausteine, be- sonders in ihre Determinanten zerlegt werden. Auf diese Weise bleibt am Ende des Entwicklungsprozesses von den vielen Millionen planmäßig vereinter Determinanten des ursprünglichen Keimplasma in jeder Zelle nur noch eine Art übrig, welche die Differenzierung und die schließliche Aufgabe der Zelle oder der Zellengruppe be- stimmt. Weismann nennt eine Kernteilung, welche derartiges bewirkt, eine erbungleiche oder differentielle. Er ersetzt durch sie die Annahme Darwins, daß die Keimchen als Träger be- sonderer erblicher Eigenschaften mit einer Affinität für bestimmte Zellen ausgestattet sind, sich dadurch mit diesen bei der Entwick- lung verbinden und sie determinieren. Dieser Teil der DARWiNschen Hypothese der Pangenesis ist in der WEiSMANNschen Fassung viel klarer und leichter verständlich geworden, gleichwohl aber, wie bald gezeigt werden wird, ebensowenig bei kritischer Prüfung aufrechtzuerhalten. Bis hierher liegen die Beziehungen der Keimplasmatheorie von Weismannzu der Hypothese der Pangenesis offen zutage. Dagegen gehen beide Wege diametral auseinander in der Frage, wie im Körper der Eltern wieder die Keime für die nächste Generation gebildet werden. Darwin hat sich hier durch seine abenteuerliche T r a ns - porthypothese geholfen, durch die Abgabe von Keimchen von allen Zellen zu jeder Zeit der Entwicklung, durch die Zirkulation derselben in den Säften und durch ihre Vereinigung zu Keimen an allen Stellen, wo sich Geschlechtsorgane oder Knospen bilden. Weis- mann, der diesen zweiten Teil der Keimchenlehre verwirft, ersetzt Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 519 ihn durch die Annahme, daß von der Zerlegung in Determinanten, wie sie sich allmählich während der Entwicklung vollzieht, ein Teil des Keimplasma verschont bleibt und für die Zellen in den Re- produktionsorganen reserviert wird. Weismann nimmt also außer der erbungleichen oder differentiellen Teilung noch eine erbgleiche Teilung des vollständigen Keimplasma an, wie es in der befruch- teten Eizelle gegeben ist. Die Annahme von zwei entgegengesetzten Arten der Kern- teilung ist nur auf Grund der Hypothese möglich, daß es in der Keimzelle auch zwei verschiedene Arten von Keim- plasma gibt, von denen die eine nur das Vermögen, sich erb- gleich, die andere nur das Vermögen, sich erbungleich zu teilen, besitzt. Weismann bezeichnet die eine als inaktives oder gebundenes, die andere als aktives oder zerlegbares Keimplasma. Von jeder läßt er mehrere Sortimente, die ein Id bilden, in Ei und Samenfaden vorhanden sein. Die aktiven Ide dienen zur Erklärung der embryonalen Vorgänge, welche von ihnen durch ihren Zerfall in einzelne Determinanten und durch ihre ungleiche Verteilung auf die verschiedenen Embryonalzellen in der eben angegebenen Weise geleitet werden. Dagegen bleibt das inaktive oder das Nebenkeimplasma für die späteren Fortpflanzungs- zellen, sowie für die Bildung der Knospen reserviert; es wird vom befruchteten Ei aus in gebundenem Zustand neben anderem aktiv werdenden Keimplasma durch mehr oder minder lange Zellfolgen hindurch mittels erbgleicher Teilung weitergegeben, bis zu den Orten schließlich, wo die Geschlechtsorgane oder wo Knospen entstehen. Für diese Zellenfolge hat Weismann den Begriff der „Keim- bahn“ eingeführt. Er will durch ihn, wie auch durch die von ihm geschaffenen Gegensätze eines gebundenen und eines aktiven Keimplasma, einer erbgleichen und einer erbungleichen Kernteilung eine scharfe Sonderstellung der Keimzellen im Vergleich zu den Zellen des übrigen Körpers zum Ausdruck bringen. Hierdurch bekennt er sich, wenn wir uns seiner eigenen Worte bedienen, als Anhänger der Lehre „von einer Spaltung der Keimsubstanz des Eies in eine somatische Hälfte, die die Entwicklung des Individuums leitet, und in eine propagative, welche in die Keimzellen gelangt und dort inaktiv verharrt, um später der folgenden Generation den Ursprung zu geben“. Die Lehre ist schon vor Weismann von Galton, Jäger, Räuber und Nussbaum auf gestellt, und ist in ihr der „propagative Teil der Kernsubstanz des Eies“ von Galton 520 Dreizehntes Kapitel. als der „Stirp“, d. h. als der Grundstock für die Entwicklung be- zeichnet worden. Um die Sonderstellung der Keimzellen zum übrigen Körper, der jetzt in griechischer Übersetzung als „Soma“ bezeichnet wird, noch mehr zu verschärfen, als es schon durch die vorher be- sprochenen Annahmen geschehen ist, hat Weismann in etwas sensationeller Weise den aus religiösen Vorstellungen entstandenen und der Metaphysik angehörigen „Begriff der Unsterblichkeit“ auch in die Naturwissenschaft mithin ein gezogen (vgl. auch Kap. VI, $ 6). Es ist ja jedem bekannt, daß, während alle Lebewesen nach einer gewissen Lebensdauer dem Tod verfallen sind, die Art trotzdem auf ungemessene Zeit durch das Mittelglied der Keimzellen er- halten bleibt. Die Keimzelle eines jetzt lebenden Organismus ist auf der einen Seite das Endglied einer vorausgegangenen, in ihrer Länge nicht näher zu bestimmenden und daher für uns unendlichen Reihe von Zellengenerationen, von denen die eine aus der anderen durch Teilung entstanden ist (Omnis cellula a cellula) , auf der anderen Seite besitzt sie in ihrem Teilungsvermögen die prospek- tive Potenz, unter günstigen Bedingungen wieder neue Keimzellen hervorzubringen, von denen das Gleiche gilt. So blicken wir, wie in der Vergangenheit, auch in der Zukunft auf einen in infinitum sich fortsetzenden Prozeß, durch den sich — allerdings nur unter günstigen Bedingungen, die immer als Voraussetzung unerläßlich sind, — die Art erhält. Dagegen sind die pflanzlichen und die tierischen Individuen, je höher sie organisiert sind, um so sicherer nach einer gewissen Lebensdauer dem Tode verfallen. Wenn nicht Nachkommen aus ihren Keimzellen entstanden sind, kann die Kon- tinuität des Lebensprozesses nicht weiter unterhalten werden. Auf solches Raisonnement gestützt, zeichnet Weismann alle der Fortpflanzung dienenden Zellen gegenüber den sterblichen Somazellen durch das Attribut der Unsterblichkeit aus und steigert auch dadurch noch den schon anderweit geschaffenen Gegensatz. „Der Körper (Soma) sinkt fast“, wie es in WElSMANNs Schrift an einer Stelle heißt, „zu einer bloßen Pflegestätte der Keimzellen herab, zu einem Ort, an dem sie sich bilden, unter günstigen Be- dingungen ernähren, vermehren und zur Reife gelangen.“ An die Kette von Hypothesen, die verschiedene Seiten des Erblichkeitsproblems behandeln und schon von uns besprochen wurden, hat Weismann noch drei weitere Glieder gefügt und in einen engen logischen Zusammenhang gebracht : die Hypothese von der „Nicht Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften“ und die beiden Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 521 Hypothesen von der Germinalselektion und von der All- macht der Naturzüchtung. Was den ersten Punkt betrifft, so wird Weismann zu dem entschiedensten Gegner der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften. Denn er hält es wegen der fehlenden Beziehungen zwischen den Keimzellen und dem Soma, das ihnen nur zum Be- hälter dient, für unmöglich, sich einen Vorgang auszudenken, durch den eine Veränderung eines Organs im Soma auch eine korre- spondierende Veränderung von entsprechenden Determinanten im Keimplasma des Eies zur Folge haben könne. Auch auf einen experimentellen Beweis beruft sich Weismann zur Stütze seiner Ansicht. Er hat bei einer Mäusezucht, die er auf 22 Generationen ausgedehnt hat, regelmäßig den neugeborenen Jungen die Schwänze abgeschnitten, aber trotzdem die Geburt schwanzloser Mäuse nicht erzielen können. Aus der Nichtver- erbbarkeit von Verstümmelungen, für die sich ja auch die bei den Juden schon mehr als 2000 Jahre geübte Beschneidung als Beweis anführen läßt, zog Weismann nun gleich den allgemeinen Schluß, daß Veränderungen im Soma überhaupt nicht das Idioplasma der Keimzellen beeinflussen können und insofern für die Umgestaltung der Arten ganz gleichgültig sind. Daher leugnet Weismann, veranlaßt durch seine Stellungs- nahme zum Vererbungsproblem, eine allmählich erfolgende Ver- änderung der Art durch funktionelle und direkte Anpassung der ausgebildeten Individuen an ihre Umwelt, eine Frage, mit der wir uns im Kapitel XV und XVI noch eingehender beschäftigen wer- den. Er erklärt die ganze, an den Namen von Lamarck geknüpfte Form der Entwicklungslehre für einen einzigen großen Irrtum. Für den in Mißkredit gebrachten Lamarckismus aber bemüht er sich einen Ersatz durch zwei neue Prinzipien zu liefern, die gleichsam den Schlußstein zu seinen Spekulationen über Deter- minanten , Architektur und Zerlegung des Keimplasma bilden. Die beiden Prinzipien sind die Germinalselektion und die Allmacht der Naturzüchtung. Die Germinalselektion ist die notwendige Konsequenz von Weismanns Philosophie, die sich dabei von einer objektiven Natur- betrachtung immer mehr entfernt. Wenn sich das sterbliche Soma und die unsterblichen Keimzellen nicht gegenseitig beeinflussen können, dann ist allerdings jeder Neuerwerb während eines indivi- duellen Lebens für die allmähliche, nach der Deszendenztheorie an- genommene Umwandlung der Art ohne jede Bedeutung. Dann 522 Dreizehntes Kapitel. bleibt allerdings nichts anderes übrig, als die Urquelle für alle Ver- änderungen, die die Lebewelt erfährt und jemals erfahren hat, in die vom Soma unabhängig erfolgende Variation der Keimzellen selbst hinein zu verlegen. Sehen wir also, wie dieser Versuch in der Germinalselektion von Weismann durchgeführt ist und zu welchen Konsequenzen er uns bei logischer Durchführung hin- treiben muß. Um seine von Darwin abweichende Anschauung vom Werden der Organismen im Sinne seiner Keimplasmatheorie im einzelnen näher zu begründen, läßt Weismann sich das Determinantensystem der Keimzellen, unabhängig vom Soma, aus sich selbst verändern und so die Umgestaltung der Art, direkt vom Keim aus, bewirken. Weismann nennt diesen Vorgang, der die Vererbung erworbener Eigenschaften ersetzen soll, die Intraselektion oder Germinal- selektion. Ihr Wesen besteht darin, daß im Keimplasma Unter- schiede zwischen den zahllosen Determinanten durch Unregelmäßig- keiten und Ungleichheiten in ihrer Ernährung und durch hiervon abhängige, beschleunigte und verlangsamte Vermehrung verursacht werden. Je nachdem die Assimilationkraft der Determinanten zu- oder abnimmt, werden einige kräftiger, andere schwächer. Ihre einmal entstandene Variationsrichtung soll dann von selbst weiter- gehen, wenn nicht von irgendeiner Seite ein Hemmnis eintritt. Daher müssen auch die aus den Keimen entstehenden Lebewesen in diesemFall bestimmt geri chtete Varia- tionen zeigen. Nach einer weiteren Annahme findet durch gegenseitige Be- einflussung der zum System verbundenen Determinanten oder durch einen Vorgang, den man im fertigen Organismus als Kor- relation der Organe bezeichnet, noch eine innere Selbstregulierung des Keimplasma, eine Art von Selbststeuerung und Selbst- korrektion statt.. Auf diese Weise glaubt Weismann in der durch Zufälligkeiten der Nahrungszufuhr bedingten, ungleichen Ernährung der Determinanten oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, in den hierdurch verursachten Schwankungen des Gleich- gewichts des Determinantensystems den wahren Grund für die Entstehung aller erblichen Variabilität gefunden zu haben. Zugleich aber erblickt er darin, daß die Variationsrichtungen bestimmter Determinanten sich unbegrenzt weiter fortsetzen müssen, solange sich kein Hindernis entgegenstellt, einen besonderen Vorzug seiner Theorie, um die Möglichkeit der Anpassung der Organismen an die wechselnden Verhältnisse der Außenwelt zu erklären, wie es Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 523 die Vorgänge der Naturzüchtung verlangen. Denn wenn auch nur ein kleinstes Teilchen das Keimplasma abändert, dann muß auch eine erbliche Abänderung eines ihm entsprechenden Teils des fertigen Organismus die notwendige Folge sein. Zum Schluß meiner Skizze von der Lehre der Germinalselektion weise ich noch auf eine Stelle in Weismanns Schrift hin, in welcher die hohe Bedeutung des von ihm angenommenen Kräfte Spiels im Keimplasma betont wird: es schaffe ganz unabhängig von den Beziehungen des Organismus zur Außenwelt Variationen und liefere in ihnen der Naturzüchtung das Material, aus welchem sie das Passende durch den Prozeß der Personal- selektion auswähle. Das ist in ihren wesentlichen Zügen die Lehre von der Germinal- selektion von Weismann, eine Lehre, die wenigstens vorüber- gehend bei seinen Anhängern lebhaften Beifall, von anderer Seite aber ebenso scharfen Tadel erfahren hat. So hält sie Plate, der momentan als der Hauptwortführer des Darwinismus bezeichnet werden kann, in der vierten Auflage seines Selektionsprinzips (Tg 13, p. 377) „für gänzlich verfehlt, da sie von ganz unhaltbaren Voraussetzungen ausgehe“; er nimmt keinen Anstand, zu erklären, „daß er eher die ganze Selektionslehre über Bord wer- fen, als sie auf Germinalselektion aufbauen würde“. II. Kritik und Ersatz der Keimchen- und Determinanten- hypothesen *). Die Pangenesis von Darwin und Weismanns Hypothesen bieten der Kritik vielfache Angriffspunkte dar. Indem ich mich ihnen jetzt zuwende, werde ich am Schluß jedes Einwandes zur Besprechung der Ansichten übergehen, welche mir als Ersatz der bestrittenen zu dienen geeignet scheinen, und an das grundlegende Werk von Nägeli über das Vererbungsproblem anknüpfen. I. Ein wand. Die Methode von Darwin und Weismann. Ich beginne mit der von Darwin und namentlich von Weis- mann befolgten Methode, da auf die Art derselben in allen Natur- wissenschaften mit Recht großes Gewicht gelegt wird. Die Me- thode läuft bei Darwin und Weismann darauf hinaus, für alle 1) Nägeli , C., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, 188 4. — Hertwig, Oscar , Zeit - und Streitfragen der Biologie. Heft 1. Präformation oder Epigenese. Grundzüge einer Entwicklungstheorie der Organismen. Jena 1894 • — Derselbe , Allgemeine Biologie. 2. — 6. Aufl., besonders 4 • Aufl., 1906, Kap. XIX p. 452—460. 524 Dreizehntes Kapitei. verschiedenen sichtbaren Merkmale, welche ein Organismus im ausgebildeten Zustand und während seiner Entwicklung uns dar- bietet, kleinste, unsichtbare, repräsentative Teilchen, Keimchen (Darwin) oder Determinanten (Weismann) anzunehmen, sie im Keim zu vereinigen, und von ihm aus den ganzen Entwicklungs- prozeß leiten und den Bau des fertigen Organismus bestimmen zu lassen. Es liegt hierin eine gewisse Übereinstimmung mit der Me- thode der alten Evolutionisten. Nur ist jetzt an Stelle des im Ei oder Samenfaden präformierten Miniaturgeschöpfes eine präformierte Architektur von Determinanten getreten. Daher hat denn auch Weismann seine Keimplasmatheorie geradezu als eine evolutio- nistische bezeichnet und erklärt, daß man im ersten Kapitel seines Buches einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit der Evolution finden werde und zwar einen so einfachen und nahelieg'enden, daß er heute kaum begreife, wie er so lange an ihm vorübergehen konnte. Mit einer wahren Virtuosität hat Weismann die genannte Methode bei Ausarbeitung seiner modernen Naturphilosophie ge- handhabt und durch sie, wie er es selbst offen ausspricht (Vorträge, Bd. II, p. 174), „die beobachtbaren Beziehungen und Veränderungen der fertigen Teile des Körpers in die Sprache des Keimplasmas übersetzt“. Mit ihrer Hilfe sucht er, ein Meister wissenschaftlicher Dialektik, sich auch allen gegen seinen Standpunkt gerichteten zutreffenden Ein würfen zu entziehen, indem er sie einfach dadurch bekämpft, daß er die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen auch in den Sprachschatz des Keimplasma mit- einverleibt. Man hat z. B. der Zufallstheorie von Darwin mit Recht oft vorgeworfen , daß nicht durch zufälliges und planloses, sondern nur durch bestimmt gerichtetes Variieren eines Organismus eine n eue bleibe n de Ver- änderung der Art herbei gef ührt werden könne. Dem Ein wurf begegnet Weismann sofort durch Annahme eines Kräfte- spiels im Keimplasma, bei welchem die einmal entstandene Variations- richtung einer Determinate von selbst weitergeht, wenn nicht von irgendeiner Seite ein Hemmnis eintritt. Auf diese Weise sucht er in seiner Germinalselektion die Tatsachen, die Eimer in seiner Orthogenesis zusammengestellt und zugunsten des Lamarckismus verwertet hat, mit seiner Lehre in Einklang zu bringen. Dieselbe Methode wiederholt sich im Streit mit Herbert Spencer, welcher der Naturzüchtung vorwirft, daß sie nicht erklären könne, wie durch zufällige Variation eines Teiles die korrelative Veränderung vieler anderer Teile, die mit ihm zu einem harmonischen System ver- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 525 bunden sind, also die Koadaptation oder Korrelation aller Organe im fertigen Organismus, zustande kommt. Auch hier hat WEISMANN wieder die Antwort nach dem bewährten Mittel bald gefunden. Wieder wird der Einwurf durch Übersetzung in die Sprache des Keimplasma widerlegt. Der Korrelation der Organe wird eine Korrelation der Determinanten im Kräftespiel des Keimplasma, eine Art von „innerer Selbstregulie- rung“ entgegengehalten. Ich glaube wohl kaum auf Widerspruch zu stoßen mit der Behauptung, daß durch die von Darwin und Weismann geübte Methode bei der Konstruktion der Pangenesis und der Deter- minantenlehre nur eine Scheinerklärung geliefert wird. Denn was an Keimchen und Determinanten mit ihrem Kräftespiel, was an bestimmt gerichteter Variation und an korrelativer Selbstregu- lierung in den Keim hineingewickelt wird, muß selbst- verständlicher Weise aus ihm bei seinem Werden auch schließlich wieder herausgewickelt wt erden. Kein Wun- der, wenn die Rechnung stimmt, wenn der Determinant im Keim- plasma wieder sein ihm entsprechendes Determinat im fertigen Organismus liefert. Der Naturforscher, der mit wissenschaftlichen Methoden zu ar- beit gewohnt ist, darf wohl mit Recht fragen, was durch das in der Determinantenhypothese und in der Germinalselektion getriebene Phantasiespiel oder was dadurch gewonnen wird, daß der Natur- forscher die wirklich zu beobachtenden Beziehungen und Verände- rungen der sich entwickelnden Teile des Organismus „in die Sprache eines unsichtbaren Keimplasma“ nach der von WEISMANN aus- gebildeten Methode übersetzt? Bei einer kritischen Untersuchung derartiger Scheinerklärungen ist weniger zu prüfen, ob die ge- wünschten Resultate sich aus den Annahmen ergeben, sondern es kommt vielmehr darauf an, sich klar zu werden, ob die Annahmen, die zur Konstruktion der Hypothese dienen, richtig oder wenigstens einigermaßen wahrscheinlich sind und als geeignet zur Grundlage für ein so kompliziertes Hypothesengebäude betrachtet werden können. II. Ein wand. Die von der Hypothese verlangte übergroße Zahl der Keimchen und Determinanten und ihre sich hier- aus ergebende Kleinheit führt zu physikalisch unmöglichen Vorstellungen. Unser erster Einwand betrifft gleich die Annahme einer un- faßbar großen Zahl von repräsentativen Teilchen, welche die Theorien von Darwin und Weismann erfordern, wenn alle 526 Dreizehntes Kapitel. Zellen des werdenden und des ausgebildeten Organismus im Keim vertreten sein sollen. Schon bei Besprechung der Pangenesis von Darwin hat Nägeli (1. c. p, 71 — 74) mit Recht darauf aufmerk- sam gemacht, daß eine Keimzelle gar nicht groß genug ist, um die Anzahl der Keimchen, die nach Darwins Hypothese erforder- lich ist, aufnehmen zu können. Nach Mitteilung einer Berechnung, die an einem Beispiel durchgeführt wurde, kommt Nägeli zu dem richtigen Schluß: „Wird die Menge der Keimchen so hoch ange- nommen, als es die DARWiNsche Theorie wirklich verlangt, so er- gibt sich auch für kleinere Phanerogamen , daß ihre einzelligen Keime millionenmal größer sein müßten, um alle Keimchen bloß in der Form von Eiweißmolekülen oder kleinsten Mizellen aufzu- nehmen. Hierdurch ist die Unmöglichkeit der Pangenesishypothese mit Rücksicht auf die numerischen und quantitativen Verhältnisse dargetan. Sie wäre nur ausführbar, wenn man den Keimchen nicht physische, sondern metaphysische Beschaffenheit, Gewichts- losigkeit und Ausdehnungslosigkeit zuschreiben und damit die Frage auf ein für den Naturforscher undiskutierbares Gebiet hinüber- schieben wollte.“ Um wie viel größer aber wird die Unmöglichkeit, wenn wir statt einer einfachen Pflanze ein hochentwickeltes Säuge- tier nehmen und die für es erforderliche, noch größere Zahl der Keimchen in dem nur mikroskopisch sichtbaren Kopf seines Samen- fadens unterbringen wollen. NäGELIs Betrachtungen treffen, wie die DARWiNsche Pan- genesis, so auch die Keimplasmatheorie von Weismann, da seine Determinanten aus schon früher angeführten Gründen im wesent- lichen den Keimchen entsprechen, ja sie treffen sie noch in viel höherem Maße. Denn Weismann (Vorträge, Bd. I, p. 378 — 384) bezeichnet im Keimplasma von Ei und Samenfaden den Komplex aller Determinanten, welche die Anlage eines Organismus aus- machen, als Id ; er läßt dabei dasselbe gleich in vielen Sortimenten vorhanden sein, z. B. als aktives, als inaktives und als Reserve- keimplasma, als Ide für das männliche und weibliche Geschlecht, als Ide für die verschieden differenzierten Individuen von Tier- stöcken (Siphonophoren, Ameisen, Termiten), als Ide endlich aus Ahnenplasma. Bei Erörterung dieser Verhältnisse spricht er es als Vermutung aus, daß vielleicht die Ide mit den Chromosomen identisch sind; er hält es daher für möglich, daß „man bei dem Salzkrebschen, Artemia salina, welches 168 kleine, körnerförmige Chromosomen besitzt, jedes dieser Chromosomen als Id zu betrachten habe“. „Jedes derselben müsse also vollsändiges Idioplasma in dem Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 527 Sinne sein, daß alle Teile eines Individuums virtuell in ihm enthalten seien ; jedes derselben sei eine biologische Einheit, ein Id.“ Dem- nach hält es Weismann für möglich, daß im Kopf eines Samen- fadens von Artemia 84 Ide oder 84 Sortimente von allen Deter- minanten vereinigt sind, während es Nägeli schon für physikalisch unmöglich erklärt, daß nur ein einziges Sortiment von Keimplasma in einer größeren ganzen Zelle Platz findet. Allerdings will Weismann die Berechtigung des Arguments von Nägeli nicht anerkennen. Denn ihm erscheint „der Schluß aus den Erscheinungen der Vererbung und Variation auf eine un- geheuere Anzahl kleinster Lebensteilchen, die in dem engen Raum eines Id sich zusammenscharen, erheblich sicherer und zwingender, als der umgekehrte Schluß aus der berechneten Größe von Atomen und Molekülen auf die Anzahl derselben, welche man in einem Id anzunehmen befugt sei“. Daher wirft er die Frage auf: „ob denn überhaupt die Größe der Atome und Molekel Tatsachen sind, oder nicht vielmehr sehr fragwürdige Ergebnisse aus unsicheren Rech- nungsansätzen?“ Und da er sich für das letztere entscheidet, hält er es für erlaubt, „eine bedeutendere Kleinheit derselben anzu- nehmen, wenn die Tatsachen anderer Wissensgebiete dies verlangen“. Denn sein Ceterum censeo lautet: „Wir müssen Determinan- ten annehmen, folglich muß das Keimplasma auch Platz für dieselben haben; die Veränderungen der Arten können nur aus Veränderungen des Keimplasmas erklärt werden, denn nur diese erzeugen erbliche Variationen. Auf diesem Grunde baut sich meine Germinalselektion auf.“ In ähnlicher Weise äußert sich Darwin: es habe, philosophisch betrachtet, das Bedenken, welches auf den ersten Blick unübersteiglich erscheine, nämlich das Bedenken gegen die Existenz so zahlreicher und so kleiner Teil- chen, wie sie seine Hypothese voraussetze, nur wenig Gewicht. Um das Dogma ihrer repräsentativen Teilchen (Determinanten) unter allen Umständen aufrecht zu erhalten, greifen sowohl Darwin wie Weismann bei ihrer Verteidigung hier zu einem Beweis- verfahren, dessen sich schon die alten Evolutionisten bedient und zur Berechtigung der Einschachtelungstheorie als logisch kon- sequente Folge der Präformation benutzt haben. Auch Male- branche folgert in seiner „Recherche de la verite“ zur Begründung seiner Einschachtelungslehre in ähnlicher Weise wie Weismann, daß unsere Sinne beschränkt und unsere Begriffe von Größe und Ausdehnung nur relativ sind, daß, wenn die Milbe im Verhältnis zu uns als ein unendlich kleines Tier erscheine, es doch noch 5*8 Dreizehntes Kapitel. tausendmal kleinere Tiere als die Milbe gebe, die uns sogar die Erfahrung schon kennen gelehrt habe ; daher denn auch kein Grund vorhanden sei, daß diese dann die kleinsten von allen seien. „Denn die Materie sei ins Unendliche teilbar, und so könne es auch unendlich kleine Tiere geben, obwohl vor diesem Gedanken unsere Einbildung erschrecke“ (vgl. auch Kap. I, 6 u. 7). Eine derartige Methode ist unwissenschaftlich und jedenfalls in den Naturwissenschaften ungebräuchlich. Sie führt den Natur- forscher auf Abwege, und was das Schlimmste ist, sie bestärkt ihn in der Festhaltung seiner Abwege, indem sie zugleich seine For- schungsweise zu einer dogmatischen macht. Für einen solchen Ab- weg halte ich aus den eben angeführten und anderen, noch gleich zu besprechenden Gründen die Lehre von den repräsentativen Keim- chen und den Determinanten im Sinne von Darwin und Weis- MANN. Man beachte aber dabei einen Unterschied zwischen beiden Forschern. Während Darwin als Urheber dieser Gedankenrichtung seine Keimchen in vorsichtiger Weise nur zur Grundlage „einer provisorischen Hypothese der Pangenesis“ macht, behandelt der Dogmatiker Weismann seine Determinanten schon als fest- begründete Tatsachen der Wissenschaft. Denn er erklärt ja kate- gorisch : „Wir müssen Determinanten annehmen, folglich muß das Keimplasma auch Platz für dieselben haben“ (Vorträge, Bd. II, p. 178). Wie ich jetzt zu zeigen versuchen werde, läßt sich die durch eine falsche Methode gewonnene, dogmatische Vorstellung Darwins und Weismanns von dem Bau der Substanz, welche als Träger der erblichen Eigenschaften dient, durch die von mir entwickelte Lehre von der Artzelle ersetzen. Den Begriff derselben habe ich schon im dritten Kapitel entwickelt, auf welches ich daher an dieser Stelle wieder verweisen kann. Ich habe dort schon näher ausgeführt, auf welchem Wege die Vorstellung gewonnen wurde, aus welchen Gründen wir in der Artzelle Substanzen von ver- schiedenem Wert für die Fragen der Erblichkeit, Idioplasma, Er- nährungsplasma und Plasmaprodukte annehmen müssen und wie wir durch Experimente und durch die MENDELschen Methoden der Bastardforschung in streng wissenschaftlicher Weise uns Auf- klärung verschaffen können. Somit ist durch die Begründung und durch die sich all- mählich vollziehende Vertiefung der Zellenlehre erst ein fester Grund und Boden für das Erblichkeitsproblem geschaffen worden. Durch sie läßt sich ein für allemal die Unhaltbaltbarkeit aller älteren, bis Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 529 jetzt erwähnten Hypothesen erweisen, sowohl die Unhaltbarkeit der Einschachtelungslehre, wie der Lehre Wolffs vom unorganisierten Lebensstoff, der mit einer nur ihm eigentümlichen Wunderkraft, der vis essentialis, begabt ist, ferner die Unhaltbarkeit von Buffons Panspermie so gut wie von Darwins provisorischer Hypothese der Pangenesis und von Weismanns Determinanten. Denn die Zelle ist, wie wir auf Grund der Zellentheorie wissen, nicht das präformierte Geschöpf im Sinne der Evolutionisten, da sie keine Organe und Gewebe, wie dieses, besitzt, ebensowenig aber ist sie eine nach der Ansicht der Epigenesisten unorganisierte Substanz, da sie nach ihrem mikroskopischen Bau und ihren Lebenseigen- schaften als ein Eiern entarorganismus bezeichnet werden muß. Sie ist auch nicht, wie DARWIN meint, ein Extrakt aus allen Zellen der Eltern, wodurch sie ihre Eigenschaften erworben hat und auf die nachfolgende Generation forterbt, sondern sie ist eine durch Teilung entstandene und aus dem elterlichen Verband losgelöste Zelle, die in der Folge der Generationen die Kontinuität des Lebens- prozesses aufrechterhält. Im Hinblick auf die engen kausalen Beziehungen, die zwischen dem befruchteten Ei und dem aus ihm entwickelten Organismus bestehen (ontogenetisches Kausalgesetz), bezeichnet man die Keim- zelle als eine Anlage oder als eine mit spezifischen Potenzen aus- gestattete Substanz. In dieser Hinsicht kann man, ohne mißver- standen zu werden, sagen: Ei und Samenfaden repräsentieren das spätere Geschöpf als Anlage oder im Stadium der Artzelle. Insofern laufen schließlich in ihr alle biologischen Probleme zusammen, die sich mit dem Wesen der Vererbung oder mit der Entstehung der Arten beschäftigen. Mit dem Begriff der Anlage und der Artzelle verbinden auch wir die Vorstellung von einer außerordentlich zusammengesetzten Substanz und von einer Organisation, die weit jenseits der Grenzen des mikroskopisch Sichtbaren liegt. Wenn wir trotzdem die von Weismann ausgearbeitete Lehre von der Architektur des Keimplasma und seiner Zerlegung in Determinanten teils aus dem bereits erörterten, teils aus den noch später zu be- sprechenden Gründen nicht teilen können, so erhebt sich jetzt die Frage, ob sich etwas Besseres an ihre Stelle setzen läßt. Auf den richtigen Weg hat uns NäGELI in seiner mechanisch- physiologischen Theorie der Abstammungslehre hin gewiesen in dem Satz : „Wir bedürfen, um die Erblichkeit zu begreifen, nicht für jede durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit ein selbständiges, besonderes Symbol, sondern eine Substanz, welche O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 34 530 Dreizehntes Kapitel. durch die Zusammenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorhandenen Elemente jede mögliche Kombination von Verschiedenheiten dar- stellen und durch Permutation in eine andere Kombination derselben übergehen kann.“ Um diesen Sachverhalt klar zu machen, habe ich mich zweier Bilder in meiner Allgemeinen Biologie bedient. Obwohl die Buchstaben des Alphabets an Zahl gering sind, lassen sich doch durch ihre Kombination Worte und durch Kombination von Wörtern wieder Sätze von verschiedenartigstem Sinne bilden. Ebenso können durch zeitliche Aufeinanderfolge einer kleinen Zahl von Tönen und ihre verschiedenartige Kombination zahlreiche Harmonien erzeugt werden. In der Chemie lehren uns die Eiweißkörper, wie durch die verschiedenartigste Verwendung einer kleinen Zahl von Elementen unzählige hochmolekulare Verbindungen mit charakteristischen Eigen- schaften entstehen, und wie diese durch Substitution eines Gliedes durch ein anderes leicht in bestimmter Weise verändert werden können. Zu wieviel größerer Mannigfaltigkeit muß dann die Sub- stanz einer Artzelle befähigt sein, da sie sich nicht nur aus sehr vielen Eiweißverbindungen zusammensetzt, sondern diese selbst wieder das Material zu den noch höher zusammengesetzten und ebenfalls der verschiedensten Kombination fähigen biologischen Verbindungen liefern! (Siehe S. 28 — 30, 33 u. 34, 46 — 51.) Man hat die letzteren in der modernen biologischen* Literatur mit den verschiedensten Namen, als Mizellen, als Biophoren, als Bio- blasten, als Erbeinheiten etc. bezeichnet Auf den Namen kommt es nicht an, sondern darauf, daß allen diesen kleinsten Iwpothetischen Teilchen, die wir mit einem möglichst indifferenten Namen als bio- logische Verbindungen bezeichnet haben, zwei fundamentale, allgemeine Lebenseigenschaften als unerläßlich zugeschrieben werden. Diese sind 1, das Vermögen, durch Assimilation von Stoffen und Umwandlung in eigene Substanz zu wachsen, und 2, das Vermögen, sich durch Selbstteilung zu vermehren, Auch hierin liegt wieder eine Quelle unerschöpflicher Mannigfaltigkeit für die Substanz, welche wir als Artzelle und als die Grundlage aller Erblichkeit hin- stellen. Denn unter den verschiedenartigsten Ursachen, die auf sie einwirken, können die biologischen Verbindungen, abgesehen von ihren Veränderungen durch Substitution, auch rascher oder lang- samer assimilieren und wachsen und sich infolgedessen auch rascher oder langsamer durch Selbstteilung vermehren. Auf diese Weise ist die Anlagesubstanz auch in unseren Augen nicht nur ein Mikroorganismus, der nach dem ontogenetischen Kausalgesetz bei den unzähligen Organismen verschieden gebaut Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 53 ist, sondern sie ist zugleich aus den oben angeführten Gründen auch aller der Veränderungen fähig, welche in den einzelnen Onto- genesen durch die Differenzierung der Zellen in Gewebe und Zellen geleistet werden, nämlich durch Kombination und Substitution ihrer Elemente verschiedener Ordnung und durch stärkere und schwächere Assimilation und Vermehrung ihrer Bioblasten. Infolge ihrer Zusammensetzung ist sie also eine sehr reizbare Substanz; sie reagiert als solche in weit höherem Grade und in ganz anderer Weise als' die Proteinkörper der Chemie mit Veränderungen mannig- fachster Art auf die unbedeutendsten Reizstöße selbst bei geringem Wechsel der Bedingungen, unter denen sie sich befindet. Wenn somit auch die Keimzelle nach der hier entwickelten, von Nägeli und mir vertretenen Vorstellung außerordentlich zu- sammengesetzt und gleichsam als ein Mikrokosmus bezeichnet werden kann, so stoßen wir hierbei doch nirgends auf die oben hervorge- hobenen chemisch- physikalischen Schwierigkeiten, zu denen die Hypo- thesen der Pangenesis und der Determinanten von Weismann hin- führen. Denn indem wir nicht eine unendlich große Zahl von Keimchen und Determinanten anzunehmen gezwungen sind, bleiben wir auf dem Boden des naturwissenschaftlich Vorstellbaren und brauchen nicht zur Metaphysik von Malebranche, Darwin und Weismann unserere Zuflucht zu nehmen. III. Ein wand. Logische Unhaltbarkeit des von Darwin und Weismann formulierten Begriffs der erblichen Anlage. Darwin sowohl wie Weismann haben in ihren Hypothesen gegen den schon von NÄGELI richtig formulierten und von mir auf S. 529 mitgeteilten Grundsatz verstoßen; sie haben für jede durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit des sich entwickelnden und entwickelten Organismus selbständige re- präsentative Substanzteilchen von unendlicher Kleinheit angenommen, die Keimchen und die Determinanten, und sie zur Erklärung der Erscheinungen der Erblichkeit verwertet. So bezeichnet Weismann (Vorträge, Bd. I, p. 389) als „Anlagen“ im Keimplasma differente lebende Teilchen, die Determinanten, von welchen jedes in bestimmter Beziehung zu bestimmten Zellen oder Zellenarten des zu bildenden Organismus steht, in dem Sinne, daß ihre Mitwirkung beim Zustande- kommen eines bestimmten Teils des Organismus nicht entbehrlich ist. Dieser fertige Teil, den Weismann Determinat oder Ver- erbunsstück nennt, wird also durch jedes Teilchen des Keimplasma, den Determinant, in seiner Existenz wie in seiner Natur bestimmt 34 532 Dreizehntes Kapitel. und so die Erblichkeit dem Anschein nach erklärt. Indem ich dieser Anschauung, wie auch Nägeli, stets entgegengetreten bin, erklärt WEISMANN die von uns angenommene Beschaffenheit des Keim- plasma als eine „anlagenlose“, selbst wenn sie aus vielen ver- schiedenartigen Teilen zusammengesetzt gedacht sei, da diese keine Beziehung zu bestimmten Teilen des werdenden Tieres haben. Der einschneidende prinzipielle Differenzpunkt zwischen Weis- MANN und mir, obwohl wir beide in der Annahme eines materiellen Trägers der Erblichkeit (Idioplasma, Keimplasma, Artzelle) überein- stimmen, besteht hier wesentlich darin, daß der Freiburger Zoologe Verhältnisse, die im Entwicklungsprozeß unter Mitwirkung äußerer Faktoren erst entstehen sollen und auf Konstellation der sich durch Wachstum vermehrenden Teile beruhen, mit einem Wort, daß er das ganze System von Bedingungen, unter denen die Entwicklung erfolgt (siehe Kap. IV S. 122 etc.), als materiell gedachte Determinanten auch schon in die Anlage der Keimzellen mit hinein verlegt. An einem sehr einfachen, der unorganischen Natur entlehnten Beispiel will ich den Gedanken gleich wieder erläutern, und ver- ständlicher machen. Die chemische Substanz Wasser besteht aus der Verbindung von 2 Teilen Wasserstoff mit 1 Teil Sauerstoff ; sie tritt uns aber in sehr verschiedenen Formzuständen, als Eis, als flüssiges Wasser und als Wasserdampf entgegen, je nach der Tem- peratur ihrer Umgebung. In allen drei Zuständen ist die elementare Zusammensetzung des Wassers als H20 dieselbe geblieben. Nur die Konstellation der Wasserteilchen zueinander hat sich im ge- frorenen, flüssigen und gasförmigen Zustand geändert; gleichzeitig sind aber auch die Eigenschaften oder Qualitäten der chemischen Substanz Wasser für uns ganz andere geworden. Wenn wir uns hier der Sprache der Biologen bedienen wollen, so können wir auch sagen, daß die Substanz Wasser bestimmte Fähigkeiten oder Potenzen hat, beim Eintritt bestimmter Bedingungen in dieser oder jener bestimmten Form zu erscheinen. Wir lernen hieraus, daß die Eigenschaften, unter denen wir das Wasser kennen, nicht nur auf seiner elementaren Zusammensetzung, sondern auch auf den Be- dingungen, unter denen es sich befindet, und den hierdurch hervor- gerufenen Konstellationen der Wassermoleküle beruhen. So wenig es nun dem Physiker einfällt, die verschiedenen Eigenschaften des Wassers im festen, flüssigen nnd gasförmigen Zustand durch An- nahme besonderer stofflicher Determinanten zu erklären, die durch Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 533 ihre Verbindung mit dem chemischen Stoff Wasser seinen gefrorenen, flüssigen und gasförmigen Zustand bewirken, so sollte auch der Biologe nicht unendlich kleine Stof f teilchen als De- terminanten in die Artzellen hineindichten, zur Er- klärung von Eigenschaften und Merkmalen, welche in der ent w icklun gsf ähigen Substanz erst im Laufe des Entwicklungsprozesses durch den Hinzutrittvon Bedingungen und Konstellation en gesetzmäßig her- vorgebracht werden. Der philosophische Begriff „der Anlage“, in seinem weitesten Sinne erfaßt, begreift zwei verschiedene Seiten in sich, auf die ich an anderer Stelle (S. 555) noch einmal zurückkommen werde. Nach diesen Vorbemerkungen will ich an einigen konkreten Fällen zeigen, daß es bei sehr vielen Eigenschaften und Merkmalen, des sich entwickelnden und des fertigen Organismus überhaupt gar nicht möglich ist, sich dieselben als kleinste Stoffteilchen, die schon als Determinanten in der Keimzelle präform iert sein sollen, vorzu- stellen. Ich beginne gleich mit dem Teilungsvermögen der Zelle, mit der hierdurch herbeigeführten Vermehrung ihrer Zahl, mit ihrer Anordnung im Raum oder mit Verhältnissen, die man als' Systembedingungen der zu einem Ganzen verbundenen Teile, als ihre Konfiguration oder Konstellation bezeichnen kann. Schon daß der Teilungsprozeß als solcher nicht auf der Wirk- samkeit eines besonderen determinierenden Stoffteilchens, sondern auf dem gesetzmäßigen Wachstum und der Vermehrung vieler Teilchen nebst anderen unbekannten Umständen beruht, liegt klar auf der Hand, aber ebenso klar ist es auch, daß in der ersten Zelle die aus ihr entstehenden späteren Zellen nicht bereits in irgendeiner Weise, z. B. als Keimchen, wie es Darwin will, oder als Determi- nanten (Weismann) präformiert sein können. Denn da ihre Ver- mehrungsfähigkeit unbeschränkt ist, würde eine Keimzelle bald keinen Raum mehr bieten für die Zahl der Determinanten von allen Zellen generationen, die durch fortgesetzte Teilung aus ihr hervor- gehen können. Die Vermehrung der Zellen ist also — das sei hier ausdrücklich betont — ein rein epigenetischer Pro- zeß, der sich nicht in irgendeine Formel der Prä- formation einzwängen läßt! Auch zur Erklärung der Verschiedenheiten, die zwischen den sich vermehrenden Zellen ganz von selbst nach ihrer Lage ent- stehen, versagt der Determinantenbegriff. Wenn bei dem Teilungs- vorgang z. B. des Froscheies, die beiden Tochterzellen vereinigt 534 Dreizehntes Kapitel. bleiben und sich nach ihrer Lage im Raum als linke und rechte Halbkugel voneinander unterscheiden lassen, so ist ohne Frage für eine derartige Anordnung die Annahme besonderer Determinanten, wenn nicht überhaupt logisch unmöglich, zum mindesten vollkommen überflüssig und ebenso für jede spätere Anordnung in 4, 8, 16 und mehr Zellen. Denn es ist doch nach der Raumlehre überhaupt nicht anders möglich, als daß mehrere, aus einem größeren Körper durch Teilung entstandene, kleinere, zusammengehörige Teilstücke nach den Dimensionen des Raumes orientiert sind, also links und rechts, vorn und hinten, oben und unten voneinander liegen müssen. Dasselbe gilt für die Teilnahme der sukzessive kleiner werdenden Furchungszellen am Aufbau des tierischen Körpers im Verhältnis zu ihrer Größe. Wenn das befruchtete Ei das volle Bildunofs- material für den Embryo ist, so können die Teilstücke, die auf den Stadien der 2-, 4-, 8-Teilung etc. entstehen, selbstverständlicherweise nur je als Hälfte, als Viertel, als Achtel usw. beteiligt sein. Insofern nimmt die prospektive Potenz der Embryonalzellen in bezug auf ihre quantitative Verwertung als Baumaterial mit jeder Teilung ab, solange nicht durch ungleiches Wachstum hierin Veränderungen herbeigeführt werden. Es sind dies lauter Unterschiede im System der Zellen, welche, wie jeder gleich einsehen muß, auch ohne be- sondere determinierende Stoffteilchen und ohne ihre Sonderung durch erbungleiche Teilung von selbst eintreten müssen. Noch ein drittes Verhältnis ist in derselben Weise zu beurteilen. Wenn das sich teilende Froschei in der Anordnung seiner Substanz eine bilaterale Symmetrie aufweist, wenn infolgedessen auf Grund bestimmter Teilungsregeln die erste Teilebene mit der Symmetrie- ebene zusammenfällt, wenn ferner sich zeigen läßt, daß bei normalem Verlauf der Entwicklung jeder der beiden Teilhälften die prospek- tive Potenz innewohnt, zur linken und zur rechten Körperhälfte des bilateral-symmetrischen Tieres zu werden, so liegt auch hierin kein Beweis für die Behauptung der Determinantenlehre und der ihr verwandten Mosaiktheorie, daß durch die erste Kernteilung die verschiedenen Bildungsmaterialien und die differenzierenden und gestaltenden Kräfte für die linke und die rechte Körperhälfte ge- sondert worden seien. Denn es erklärt sich schon ohne Zuhilfe- nahme besonderer Determinanten allein aus dem bilateral-symme- trischen Bau der befruchteten Eizelle, daß ihre Symmetrieebene nicht nur mit der ersten Teilebene zusammenfällt, sondern sich auch von einem zum anderen Stadium der Entwicklung als solche er- halten und schließlich auch zur Symmetrieebene des bilateral- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 535 symmetrischen Organismus werden muß, solange nicht störende Momente entgegenwirken. Auch das vergleichend-embryologische Studium des Furchungs- prozesses und der sich ihm anschließenden Embryonalstadien liefert uns Gesichtspunkte, die zur Klärung der Keimchen- und Determi- nantenlehre beitragen können. Wie bekannt, spielt sich die Furchung in den einzelnen Klassen des Tierreiches in verschiedenen Modi- fikationen ab, die als äquale und inäquale, als diskoidale und super- fiziale beschrieben werden. Die Ursache hierfür ist in dem un- gleichen Gehalt an Deutoplasma, das sich die Eier bei ihrer Vor- entwicklung im Ovarium angeeignet haben, und in der besonderen Verteilungsweise desselben im Eiraum zu suchen. (Vgl. auch S. 221 — 222.) Nun beruht aber die Ausarbeitung und Verteilung des Dotters in der Eizelle ohne Frage auf sehr vielen Faktoren in der spezifischen Organisation des Protoplasma und der Kernsub- stanz und auf den mit ihr zusammenhängenden komplizierten che- mischen Prozessen der Stoffaufnahme, Assimilation und formativen Tätigkeit. Während uns also hier die Determinantenlehre im Stich läßt, liefert uns die mikroskopische Untersuchung des Baues der Eizellen mit ihrer spezifischen Dotter Verteilung nicht nur wirklich wissenschaftliche Grundlagen, sondern führt uns auch zu einer ur- sächlichen Erklärung für die verschiedenen Arten des Furchungs- prozesses. Und ebenso verhält es sich bei dem Verständnis der vielen sich an den Furchungsprozeß anschließenden embryonalen Vor- gänge, deren Eigenart sich auf den verschiedenen Dottergehalt der Eier als Ursache zurück führen läßt. Aus dem inäqualen Charakter der Furchung bei den Amphibien wird es uns verständlich, daß ihre Keimblase sich abweichend vom Amphioxus aus animalen und aus vegetativen Zellen zusammengesetzt und daß daher auch ihre Gastrulation einen entsprechend anderen Verlauf nimmt, daß die vegetativen Zellen in den Urdarm auf genommen werden, ihn bruch- sackartig ausweiten und so die Bildung eines Dottersacks veran- lassen. Es wird uns ferner verständlich, daß bei den meroblastischen Eiern infolge der erheblich stärkeren Belastung der Eizelle mit Dotter eine schärfere Sonderung in Bildungs- und Nahrungsdotter eingetreten ist, daß eine Keimscheibe entstanden ist, daß endlich die Stadien der Keimblase und Gastrula, überhaupt die Keimblätter- entwicklung wieder einen ganz anderen Charakter als bei den Am- phibien gewonnen haben. Was kann uns zur Erklärung von allen diesen Verhältnissen 536 Dreizehntes Kapitel. Darwins Pangenesis oder die W ElSMANNsche Determinantenlehre nützen? Sind es etwa repräsentative kleinste Teilchen im Keim- plasma, welche es durch ihre ungleiche Verteilung auf die bei der Furchung entstehenden Zellen bewirken, daß diese zu animalen, jene zu vegetativen, diese zur Decke, jene zum Boden der Keim- blase werden, daß die Gastrulation in dieser und jener Weise ver- läuft, und daß zum Schluß die vegetativen Zellen oder der Nah- rungsdotter in einen Sack des sekundären Darmkanals aufgenommen wird? Das sind vollständig überflüssige und unhaltbare Annahmen. Denn wenn auch der eigenartige Verlauf des Furchungsprozesses und alles, was in der Folge noch weiter mit ihm zusammenhängt, letzterhand in der Organisation des befruchteten Eies begründet ist, so hat dies doch, wie aus den vorausgeschickten Erläuterungen wohl klar hervorgeht, keineswegs mit einer Zerlegung des Keim- plasma in Determinanten und mit ihrer Verteilung durch Karyo- kinese auf die einzelnen Zellen etwas zu tun, damit sie den jeweiligen Charakter derselben auf jeder Stufe der Entwicklung, bei der Morula, bei der Keimblase, bei der Gastrulation etc. bestimmen. Was der wirkliche Grund ist, soweit er sich überhaupt mit unseren be- schränkten Mitteln der Forschung feststellen läßt, lehrt uns das vergleichende und experimentelle Studium der betreffenden Ent- wicklungszustände bei den verschiedenen Tierarten in einer durch- aus befriedigenden Weise. Der wirkliche Grund ist, wie gegen- über der Determinantenlehre nicht genug hervorgehoben werden kann, die in verschiedener Weise erfolgende Ausstattung der Eier mit Deutoplasma während ihres Wachstums im Ovarium. Dieselbe beruht aber auf der Lebenstätigkeit der ganzen Eizelle gemäß ihrer ererbten, im Idioplasma gegebenen Eigenart, die für die einzelnen , Tierspezies eine verschiedene ist. Nachdem durch sie die spezifische Organisatton der Eizelle mit ihrer Dotterverteilung während der Vorentwicklung im Ovarium zustande gekommen ist, genügt die so geschaffene Situation schon für sich allein, um die verschiedenen Modifikationen des Furchungsprozesses, der Morula, der Keimblase und Gastrula, die verschiedene Entwicklungsweise der Keimblätter, die Ausbildung eines Dottersackes usw. bis zu einem bestimmten Grad zu erklären nach den Regeln , welche die vergleichende Embryologie schon seit längerer Zeit hierfür festgestellt hat. Wie ich an den besprochenen wenigen Fällen, deren Zahl sich beliebig vermehren ließe, bewiesen zu haben glaube, ist es eine wissenschaftlich absolut unerlaubte Methode, in der von WEISMANN geübten Manier alles, was an Formzuständen und ihnen entsprechen- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 537 den physiologischen Leistungen durch den Entwicklungsprozeß geschaffen wird, als diskrete Stoffteilchen von metaphysischer Klein- heit (Determinanten) in die Keimzelle hineinzuverlegen und die so in ihrem Keimplasma konstruierte präformierte Entwick- lungsmaschine nunmehr als Scheinerklärung der wirklichen Entwicklungsprozesse, und zwar in jeder Beziehung und auch für die schwierigsten Fragen zu benutzen. Auf diesem Wege kommt WEISMANN dazu, um die erblichen Instinkte zu erklären, in der Eizelle Determinanten für einzelne Hirnpartien anzunehmen, ja er redet sogar von „hochgesteigerten Musikdeterminanten“ im Keimplasma musikalischer Genies (Vorträge, Bd. II, p. 168). Mit Ausführlichkeit bin ich auf eine Analyse der ersten Ent- wicklungsstadien eingegangen, um an einem konkreten Beispiel einen logischen Grundirrtum in der Konstruktion des von Weis- MANN aufgeführten Hypothesengebäudes und ähnlicher Hypothesen, die nach dem Muster von Darwins Pangenesis ausgedacht worden sind, klarzulegen. Ich erblicke denselben darin, daß Weismann Situationen oder Konstellationen, die aus der Vermehrung des be- fruchteten Eies in immer zahlreicher werdende Zellen rein epige- netisch entstehen und auf dem allgemeinen Fortpflanzungsvermögen der Zelle beruhen, in Form von Stoffteilchen, die zu Determinanten gemacht werden, in das ungeteilte Ei projiziert und zu einem starren, präformierten System in der Architektur des Keimplasma verbunden sein läßt. Dieses Kunstgebilde benutzt er dann, um das schon aus der Situation sich ergebende Schicksal der einzelnen Zellen im Entwicklungsprozeß als das Werk der aus dem Keimplasma sich loslösenden Determinanten erscheinen zu lassen. Ein epigene- tischer Vorgang wird so nach dem Muster der alten Evolutionisten durch die Hypothese der Keimplasmaarchitektur und ihrer Zer- legung zu einem schon im befruchteten Ei präformierten gemacht. Dadurch, daß beim dritten Ein wand die Fehler der präformistisch ausgedachten Determinantenlehre durch logische Erörterung einzel- ner Entwicklungsprozesse aufgedeckt worden sind, ist zugleich auch die von mir im vierten Kapitel (S. 122 — 178) vorgetragene, entgegen- gesetzte Lehre der Biogenesis, welche Präformation und Epigenese zu verbinden sucht, noch weiter gestützt worden. IV. Ein wand gegen Darwins und Weismanns Transport- hypothesen. Je schlechter eine Hypothese in ihren Fundamenten ist, die wir soeben geprüft haben, um so mehr wächst gewöhnlich die Zahl 538 Dreizehntes Kapitel. der zu ihrer Durchführung notwendigen Hilfshypothesen. An zwei derselben sei ihre Unhaltbarkeit noch nachgewiesen. Unser erster Einwand richtet sich gegen den von Darwin und Weismann an- genommenen Transport der Keimchen, resp. Determinanten zu den Orten ihrer Wirksamkeit. Zwischen beiden Forschern ergibt sich hierbei ein prinzipieller Unterschied. Darwin nimmt einen doppelten Transport an. Der eine besteht in der Abgabe von Keimchen von allen Zellen des werdenden und des fertigen Organismus, in ihrer Verteilung und Zirkulation in den Säften des Körpers, bis sie sich an bestimmten Stellen zu Keim- zellen für die nächste Generation vereinigen. Der zweite Transport erfolgt dann in umgekehrter Richtung während der Ontogenese durch die Abgabe bestimmter Keimchen vom befruchteten Ei aus an die sich neu bildenden Zellen, die ihren Vorbildern in der vor- ausgegangenen Generation entsprechen. Durch den einen Keimchen- transport wird die Vererbung alter und neuerworbener Eigenschaften vom Elternorganismus auf die von ihnen gebildeten Keimzellen, durch den zweiten Transport die Übertragung und Entfaltung dieser Eigenschaften im Tochterorganismus erklärt. Weismann hat den ersten Teil der Pangenesis, den Transport der Keimchen zu den Keimzellen, und mit ihm die Vererbung erworbener Eigenschaften preisgegeben und durch die Kontinuität des Keimplasma ersetzt. Den zweiten Teil, die Abgabe bestimmter Keimchen des Keimplasma zur Determinierung der aus dem Ei entstehenden Zellen hat er aber beibehalten und zugleich auch versucht, ihm eine Fassung zu geben, welche den modernen Errungenschaften der Zellenlehre besser Rechnung zu tragen scheint. In der Karyokinese glaubt er ein solches Mittel gefunden zu haben, durch welches die Zerlegung der im Keimplasma kunstvoll verbundenen Determinanten und ihre Schritt für Schritt erfolgende Verteilung auf die durch sie determinierten Zellen (die Determinate) bewirkt wird. Die DARWlNsche Lehre von der Abgabe und Verteilung der Keimchen hat scheinbar in der neuen Form eine wesentliche Ver- besserung erfahren, da sie an einen wirklich stattfindenden Vorgang anknüpft. Daß dies aber bei einer kritischen Prüfung keineswegs der Fall ist, glaube ich in früheren Schriften (1. c., 1894) und zu- sammenfassend in meiner Allgemeinen Biologie und jetzt wieder im vierten Kapitel dieses Buches zur Begründung meiner Auf- fassung vom Werden der Organismen (S. 139 — 148) nachgewiesen zu haben. Denn es kann wohl als ein allgemeines Gesetz in der Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 539 Biologie gelten, daß das Vermögen der Zelle, sich in 2 Tochter- zellen zu teilen, zur Erhaltung der Art dient, und daß die Zer- legung der Kernsubstanz, wenn diese als Träger der Arteigen- schaften betrachtet wird, eine „erbgleiche“ sein muß. Dies lehren uns, wie ich noch einmal hervorhebe, die unzähligen Arten ein- zelliger pflanzlicher und tierischer Lebewesen, die sich während langer Zeiträume durch Teilung fortgepflanzt und in ihren Merk- malen konstant erhalten haben. Eine heterogene Zeugung durch erbungleiche Teilung ist bei ihnen in der Natur noch niemals fest- gestellt worden. Es ist daher eine rein willkürliche Annahme, wenn Weismann seiner Determinantentheorie zuliebe den Begriff der erbungleichen Teilung in die Vermehrungsweise der Zellen bei den vielzelligen Organismen eingeführt hat. Denn auch hier bringen doch die Teilungen des befruchteten Eies nur Zellen zum Ent- wicklungsprozeß der Art hervor, liefern daher ebensogut wie bei der Vermehrung der einzelligen Organismen durch erbgleiche Tei- lung nur Artzellen. Wenn diese sich während der Ontogenese allmählich in die verschiedenen Gewebe sondern und dement- sprechende Eigenschaften gewinnen, so geschieht dies nach dem Prinzip der Arbeitsteilung zwischen artgleichen Zellen und nach dem hiermit zusammenhängenden Prinzip der histologischen Diffe- renzierung, über welches schon im Kapitel IV (S. 139 — 148) ge- handelt wurde. Bei einem abgeschnittenen Weidenzweig sprossen Wurzelfäden aus dem in die Erde gesteckten Ende hervor durch Anpassung seiner Rindenzellen an die Bedingungen der neuen Um- gebung behufs Übernahme unentbehrlicher Funktionen zur Wieder- herstellung einer lebensfähigen Pflanze, aber nicht dadurch, daß einzelne Zellen jetzt Wurzeldeterminanten durch erbungleiche Tei- lungen erhalten hätten. Wohl niemals hat ein Naturforscher eine voreilige Hypothese mit so vielen unwahrscheinlichen Hilfshypothesen ausstatten müssen wie Weismann. Seine Annahme von mehreren Sortimenten Keim- plasma, eines aktiven, eines gebundenen und eines als Reserve dienenden in ein und derselben Zelle und seine hierzu als Ergänzung gehörende Annahme von 3 verschiedenen Arten der Kernteilung einer erbgleichen, einer erbungleichen und einer dritten, welches beides zugleich ist, sind wahre Muster von Verlegenheitshypo- thesen, die nötig wurden, um die Grundhypothese gegenüber den mannigfaltigen Erscheinungen der Organismen weit aufrechterhalten zu können. Die eine hebt die andere auf, und die dritte vermittelt zwischen beiden. Ihre Verwendung zur Erklärung der Natur- 540 Dreizehntes Kapitel. erscheinungen ist wie ein Spiel mit zwei sich gegenseitig aufhebenden Behauptungen, von denen, je nachdem es eben paßt, bald die eine, bald die andere als Trumpf gezogen wird. Wenn die Zusatzhypothesen im wesentlichen darauf hinaus- laufen, den Teil der Anlagen, der durch erbungleiche Teilung und durch die Zerlegung des Keimplasma aus den Zellen herausbefördert wurde, jetzt wieder in der Gestalt von inaktivem, von Neben- und Reservekeimplasma in sie hineinschlüpfen zu lassen, so ist wohl das Natürlichste und Einfachste, überhaupt nur an der erbgleichen Teilung des Keimplasma als der einzig möglichen festzuhalten, wie wir es, gestüzt auf viele Gründe, tun. So kommen wir denn auch bei unserem vierten Ein wand zu dem Ergebnis, daß ebenso, wie Darwins Transporthypothese der Keimchen, auch Weismanns Verwendung der erbungleichen Kern- teilung als Transportmittel sich bei kritischer Prü- fung nicht aufrecht erhalten läßt und daß somit unsere im IV. Kapitel entwickelte Lehre vom Werden der Organismen (vgl. S. 122 — 178) auch in diesem Punkt zu Recht besteht. V. Ein wand gegen die künstlichen Gegensätze, in welche Weismann Keimzellen und „Soma“ gebracht hat. Nach der Anschauung von Weismann stehen die Keimzellen zu allen übrigen Zellen des Körpers in einem prinzipiellen Gegen- satz. Sie sind in das Soma gewissermaßen nur wie in einem Be- hälter eingeschlossen und befinden sich außer Beziehung zu ihm, so daß sie erblich von ihm gar nicht beeinflußt werden können. Sie allein sind durch erbgleiche Teilung im Besitze des vollen, die Art repräsentierenden Keimplasma und stammen direkt von dem befruchteten Ei durch eine kontinuierliche Folge von Zellgenerationen ab, welche die Keim bahn bilden. Allein fähig, einem neuen Organismus wieder den Ursprung zu geben, werden sie als un- sterblich bezeichnet. In vollem Gegensatz zu ihnen bergen alle übrigen Zellen des Körpers nach der Hypothese von Weismann nur Bruchstücke des vollen Keimplasma, die durch erbungleiche Karyokinese auf sie verteilt worden sind ; nur für spezielle Arbeits- leistungen durch die ihnen zugeteilten Determinanten befähigt, sind sie, zumal nach Verlust ihres Teilungsvermögens, dem Tode unfehl- bar verfallen. Gewiß bestehen auch in unseren Augen in vielen Beziehungen Unterschiede zwischen den Zellen, welche zur Fortpflanzung, und denen, welche zu den übrigen Verrichtungen des Körpers dienen, Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 541 wie sie sich eben in einem System arbeitsteilig- gewordener Glieder eines übergeordneten Ganzen ausbilden müssen; aber diese Unter- schiede sind keine prinzipiellen Gegensätze in der von Weismann ausgeführten Weise. Das Vermögen, sich durch Teilung, eventuell in infinitum, zu vermehren, ist eine allen Zellen gemeinsame Grund- eigenschaft, die nur unter besonderen Entwicklungsbedingungen mehr oder minder gehemmt oder auch ganz aufgehoben sein kann, wie schon in Kapitel VI (S. 253 — 262) besprochen wurde. Selbst die Eier und Samenfäden sind nicht jederzeit vermehrungsfähig und müssen zugrunde gehen: das Ei, wenn es nicht befruchtet wird, der Samenfaden, wenn er nicht Gelegenheit findet, in ein „reifes Ei“ einzudringen. Andererseits 'gibt es auch im Soma, das dem Tode verfallen ist, viele Arten von Zellen, wie diejenigen des Rete Malpighii, des Periosts, der Lymphfollikel, des roten Knochenmarks etc., die sich noch ohne Schranken zu vermehren befähigt gewesen wären, wenn sie nicht ihre Existenzbedingungen durch den Tod ihres Trägers verloren hätten. In derselben Lage aber haben sich ebensogut auch alle Eier und Samenfäden befunden, welche dem abgestorbenen Individuum noch angehört haben. Der von Weismann gelehrte Gegensatz zwischen Soma und Keimzellen läßt sich bei den Pflanzen und den meisten niederen Tieren gar nicht konstruieren. Denn soweit unsere Erfahrungen reichen, lassen sich dieselben durch Knospen, Knollen, Stecklinge etc., also durch einen Vorgang, den die Botaniker vegetative Fort- pflanzung nennen, ins Unbegrenzte vermehren. Die hierzu dienen- den Zellen aber können' vom Soma und namentlich von anderen indifferenten Zellen desselben in keiner Weise getrennt werden. Wo bleibt ferner die von Weismann und anderen so stark betonte Besonderheit der Keimbahn, wenn überhaupt alle Zellen nach unserer schon gegebenen Begründung durch erbgleiche Teilung aus dem Ei ihren Ursprung nehmen? Mit demselben Recht, wie eine Keimbahn, kann man, wenn man es für zweck- mäßig und der Untersuchung wert hält, eine Drüsen-, eine Muskel- eine Ganglienzellen- und allerhand andere Zellbahnen unterscheiden. Denn nichts ist bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse gewisser, als daß alle diese verschiedenen Zellenarten nach dem Grundsatz „Omnis cellula a cellula“ sich von der befruchteten Ei- zelle unmittelbar durch Zellbahnen ableiten. Allerdings ist es, wie übrigens auch bei der Keimbahn, gewöhnlich mit Schwierig- keiten verbunden, die Zellenfolge wirklich zu bestimmen, durch die der an sich unzweifelhafte Zusammenhang hergestellt wird. 542 Dreizehntes Kapitel. Auch können Eier und Samenfäden keinesfalls als undifferen- ziert bezeichnet und dadurch in einen Gegensatz zu den übrigen Zellen des Soma gebracht werden. Nur für ihre jüngsten, ge- wissermaßen noch embryonalen Stadien , für die Oogonien und Spermatogonien, würde die Bezeichnung anwendbar sein ; im reifen Zustand aber sind sie in derselben Weise, wie Drüsen-, Muskel-, Ganglienzellen etc., durch Arbeitsteilung sogar zu hochdifferen- zierten Bestandteilen des Soma geworden. Es hat vielfacher Unter- suchungen und kritischer Erwägungen namhafter Forscher (Gegen- baur) bedurft, ehe die Zellnatur des Eidotters der Vögel erkannt wurde. Auch das Riesenkeimbläschen vieler Eier ist ein so hoch- gradig differenzierter Kern, daß es, um wieder zur Karyokinese befähigt zu werden, eine vollständige Rückbildung durch Auflösung der Kernmembran, Zerfall der Keimflecke, Verteilung des Kern- saftes, also eine durchgreifende Entdifferenzierung durchmachen muß. Ebenso sind die Samenfäden zur Erfüllung ihrer Aufgabe bei der Befruchtung in so weitgehender und eigenartiger Weise differenziert worden, daß sie in diesem Zustand überhaupt ihre Teil- barkeit verloren haben. Sie sind auf das Protoplasma einer zweiten Zelle, des Eies, angewiesen, um wieder in ihrer Kernsubstanz teilbar zu werden. Nicht viel anders verhält es sich schließlich mit dem Gegen- satz, auf welchen WEISMANN sonderbarerweise gekommen ist, in- dem er die Keimzellen für unsterblich, die Somazellen für sterblich erklärt. Denn einerseits erreichen nur sehr wenige Exemplare von unzähligen Milliarden von Samenfäden oder Pollenkörnern bei vielen Geschöpfen mit reichlicher Keimesproduktion das Ziel, durch Be- fruchtung eines Eies wieder ein zur Fortpflanzung gelangendes Individuum hervorzubringen. Alle übrigen gehen zugrunde, sie sterben ; und auch von den befruchteten Eiern erfahren die meisten bei vielen Pflanzen und Tieren das gleiche Schicksal. Wenn es irgendwo berechtigt ist, vom Zufall zu sprechen, so gewiß im vor- liegenden Fall/ Ist doch die Wahrscheinlichkeit für eine tierische oder pflanzliche Keimzelle, im Sinne von WEISMANN unsterblich zu werden, noch viel tausendmal geringer, als in der Lotterie das große Los zu gewinnen! Auf der anderen Seite lassen sich Pflanzen und niedere Tiere, wie schon oben erwähnt, auf vegetativem Wege, soweit unsere Erfahrungen reichen ins Unbegrenzte vermehren, so daß ein Unter- schied zwischen Soma- und Keimzellen in bezug auf ihre Dauer- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 543 fähigkeit in diesen Fällen nicht besteht Der wahre Sachver- halt in der Sprache derNatur Wissenschaft ausgedrückt ist also der, daß die Potenz, ihre Art durch Teilung zu erhalten, von Haus aus jeder Zelle als allgemeine Eigenschaft der lebenden Substanz zukommt, daß sie aber durch die verschiedensten Umstände beschränkt und gehemmt werden kann, und daß auch bei voller Potenz doch nur wenige Zellen im Mechanismus der Natur der Vernichtung entgehen und zur Erhaltung der Art dienen. Vierzehntes Kapitel. III. Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. Wenn wir nach der vorausgeschickten Kritik der DARWiNschen und der WElSMANNschen Hypothese jetzt auf Grund des in zwölf Kapiteln zusammengestellten Tatsachenmaterials und der neuzeit- lichen, höchst erfolgreichen Forschungsergebnisse eine andere Er- klärung und Formulierung des Vererbungsproblems zu gewinnen versuchen, so ist nicht zu vergessen, daß sich dasselbe augenblick- lich in einer tiefgreifenden Umwälzung, wie kein anderes Gebiet der Biologie, befindet. Von anatomischer und physiologischer Seite wird es seit einigen Jahren gleichmäßig in Angriff genommen. Daher machen sich auf ihm auch Gegensätze bemerkbar, die auf den Verschiedenheiten der anatomischen und der physiologischen Arbeitsmethode und Denkweise beruhen. Es sind dieselben Gegen- sätze, die uns auch im Kapitel II bei der Erforschung der unbe- lebten Natur in den chemischen und physikalischen Disziplinen entgegengetreten sind. Wie man hier einerseits, von der Lehre von den Atomen ausgehend, die stoffliche Konstitution der Körper, ihre Entstehung aus elementaren Stoffteilchen und ihre Umwand-’ lungen durch Neukombination und Umgruppierung derselben unter- suchen kann, andererseits sich aber auch in der physikalischen Chemie mit ihren Wirkungsweisen, mit ihren Reaktionen, mit ihren physi- kalischen Eigenschaften und Merkmalen und mit der Frage, wie diese wieder aus den Eigenschaften der Elemente ableitbar sind, beschäftigen kann, so stehen uns auch in der Erblichkeitslehre ent- sprechende Forschungswege offen und sind je nach Vorbildung und Neigung von einzelnen Forschern beschritten worden. Bei Ver- tretern beider Richtungen x) ist hierbei nicht selten ein mangelndes 1) Johannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre , 1. Aufl. Jena 1909. — Derselbe, Experimentelle Grundlagen der Deszendenzlehre; Variabilität, Ver- erbung, Kreuzung, Mutation, in Kultur der Gegenwart , Teil III, Abt. IV, Allgem. Biologie, 1915. — Hertwig, Oscar , Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- und Vererbungslehre, Jena 1909. — Der selbe , Allgemeine Biologie, 1. — 4- Aufl., 4. Aufl., 1912, Kap. XIII, XXVI— XXVIII, XXXI. — Baur, Erw., Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, Berlin 1911. — Lang , Arnold , Experimentelle Vererbungslehre , 1914. — Plate, L., Vererbungslehre, Leipzig 1913. — Klebs, Über Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 545 Verständnis für die Methoden und Ergebnisse des von ihnen nicht gepflegten Forschungsgebietes zu beobachten. Für die anatomische Richtung gilt als sicherstes Fundament der Vererbungslehre die These, daß die Artzelle mit ihrer spezifisch organisierten Erbmasse (Idioplasma) die Anlage eines Lebewesens bildet. Vererbt wird daher, was an Anlagen in der Artzelle ent- halten ist. Damit ist für den Morphologen die Existenz eines materiellen Trägers der Vererbung eine ebenso gesicherte Tatsache, wie für den Chemiker die stoffliche Natur der von ihm untersuchten Körper. Von der physiologischen Richtung wird diese fundamentale Grundlage der Erblichkeitslehre mit ihren sich hieraus weiter er- gebenden Folgerungen nicht immer nach Gebühr eingeschätzt. Wenn ich als Beweis hierfür einige Äußerungen von Johannsen anführe, so berufe ich mich auf ihn, weil er einer der ersten und bedeutendsten Vertreter der physiologischen Schule ist und als solcher Ansichten ausspricht, die auch sonst in der Literatur viel- fach wiederkehren. So beanstandet er die Auffassung der Verer- bung als einer „Übertragung“ und erklärt (1915, 1. c. p. 645), „daß die Biologie eigentlich hier eine große Schuld hat, indem sie das Wort Erblichkeit oder Vererbung aus dem täglichen Leben nahm. Und dieses Wort bedeutet wahrlich eine , Übertragung1 Wir müßten somit eigentlich ein neues Wort für die biologische Erblich- keit ausfindig machen!“ Vom anatomischen Gesichtspunkt aber ist die althergebrachte Auffassung der Vererbung als einer Über- tragung von der elterlichen auf die kindliche Generation nicht nur voll berechtigt, sondern könnte bei bildlicher Sprechweise gar nicht anders ausgedrückt werden. Denn zwischen Eltern und Kindern findet doch in des Wortes voller Bedeutung eine Übertragung materieller Teile durch die Keimzellen statt. Diese sind in jeder Beziehung das elterliche Erbe, aus dem sich wieder ein den Eltern gleichender, kindlicher Organismus durch Entwicklung bildet. Das Fehlen gegenseitigen Verständnisses in der morphologischen und physiologischen Behandlung der Vererbungslehre läßt sich auch noch an manchen anderen Äußerungen von Johannsen in seinen Elementen der exakten Erblichkeitslehre (1909) und in seiner Ab- handlung aus der Kultur der Gegenwart (1915) erkennen. „Wie künstliche Metamorphosen. Abh. d. Natur/. Ges. zu Halle, 1906. — Derselbe, Über die Nachkommen künstlich veränderter Blüten von Sempervivum. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., 1909, math.-naturw. Kl. — Woltereck,, Beitrag zur Analyse der „ Vererbung erworbener Eigenschaften“ ; Transmutation und Präinduktion bei Daphnia. Verhandl. d. Deutschen Zoolog. Gesellsch., 1911. — Weismann, Aug., Äußere Ein- flüsse als Entwicklungsreize, Jena 1891,. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 35 546 Vierzehntes Kapitel. auch die weitere Ausbildung der Cytologie“, heißt es (1909, 1. c. p. 481), ,.die Beziehungen der Erblichkeitserscheinungen zu den cytologischen Entdeckungen formen wird, so kann vorläufig nicht auf cytolo- gischem Grunde eine , Erblichkeitstheorie* auf gebaut werden, wie das auch Gai/ton treffend motiviert hat.“ Und bald darauf fügt Johannsen hinzu: „Aus der weiteren Entwicklung der allgemeinen physikalischen Chemie werden wohl hauptsächlich die Gesichts- punkte für Theorien über Wirkungen chemischer Erblichkeits- faktoren zu erwarten sein. Die Auffassung der Gene als Organoide, als Körperchen mit selbständigem Leben und dergleichen ist aber nicht mehr von der Forschung zu berücksichtigen. Voraussetzungen, welche eine solche Auffassung nötig machen sollten, fehlen gänzlich. Ein Pferd in der Lokomotive steckend als Ursache der Bewegung — um Langes klassischen Beispieles zu gedenken — ist eine ebenso wissenschaftliche* Hypothese als die Organoidlehre zur , Erklärung* der Erblichkeit.“ In direktem Gegensatz hierzu muß von der morpho- logischen Richtung in der Vererbungslehre an der von JOHANNSEN bekämpften Organoidlehre festgehalten werden, da sie auf sicher begründeten Beobachtungstatsachen beruht. Denn die Substanz, welche alles enthält, was an erblichen Anlagen von den Eltern den Kindern überliefert wird, ist schon selbst ein Elementar- organismus, ist die als Ei oder Samenfaden differenzierte Artzelle. Ihre anatomische Analyse aber führt zu einer Reihe weiterer grund- legender Vorstellungen, die aus Beobachtungstatsachen erschlossen, ebenfalls unter den Begriff -der „Organoidlehre** fallen. Denn erstens kann die in der Artzelle gegebene Anlage nur durch einen Entwicklungsprozeß verwirklicht und in den ausgebildeten Organis- mus übergeführt werden. Entwicklung aber beruht in erster Instanz auf Vermehrung der Artzelle durch stets sich wiederholende Teilung nach vorausgegangenem Wachstum. Daher konnte der ausgebildete Organismus von diesem Gesichtspunkte aus als potenzierte Artzelle von mir (S. 134) bezeichnet werden. Ohne Berücksichtigung dieser fundamentalen Tatsache der Entwicklung ist ein wissenschaftliches Verständnis für alle Erscheinungen der Erblichkeit, welche mit Wachstum verbunden sind, überhaupt nicht möglich, wie die Ge- schichte der Biologie seit 500 Jahren in beredter Sprache lehrt. Indem Johannsen dieser morphologischen Errungenschaft nicht Rechnung trägt, bezeichnet er als eine Schwierigkeit der physio- logischen Theorie der Erblichkeit das Anwachsen der Gene, unter welchen er die physiologischen Erbfaktoren versteht (1909, p. 484 Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 547 und 485). „Nur dies können wir sagen , daß die Gene in irgend- einer Weise anwachsen müssen, um mit der Fortpflanzung Schritt zu halten. Wie dieses , Anwachsen4, gedacht werden soll, ist noch ganz unsicher; der suchende Gedanke, nach Vorgängen analoger Art greifend, heftet sich an Erscheinungen wie die von Baur in so interessanter Weise studierten Propagationen des Panachure- kontagismus bei Abutilon Thompsoni u. a.“ Demgegenüber scheint das morphologische Studium der Vererbung gerade die Schwierigkeit „des Anwachsens erblicher Anlagen“ durch die Ent- deckung der Vermehrungsweise der Artzelle durch Teilung und durch die hierdurch erzielte Potenzierung der Anlage, sowie durch die Annahme einer Zusammensetzung des Idioplasma aus biologischen Teilkörperchen (Bioblasten) in vollkommen befriedigender Weise gelöst zu haben. Auch muß daran erinnert werden, daß die anatomische Unter- suchung der Artzelle und die weitere Analyse der biologischen Erbmasse doch zu recht beachtenswerten Ergebnissen geführt haben. Ich erinnere nur an die im III. Kapitel (S. 102) besprochene Unter- scheidung von Substanzen mit verschiedenem Wert als Vermittler der Erblichkeit, an die Erkenntnis, daß das Kernidioplasma sich gleichfalls wie die Zelle durch Wachstum und Teilung in äquivalente Tochterhälften vermehrt, daß die Chromosomen sich durch Spaltung ihrer Länge nach halbieren, und daß sich in der Zelle auch sonst noch Teilkörper, die mit Eigen Wachstum und Selbstvermehrung ausgestattet sind, anatomisch unterscheiden lassen. Im Hinblick auf solche unzweifelhafte, durch Beobachtung festgestellte Tatsachen erscheint denn auch die Hypothese wohl gerechtfertigt, daß das Idioplasma der Artzelle aus einem gesetzmäßigen Verband kleinster, jenseits unseres Wahrnehmungsvermögens gelegener, mit Wachstum und Teilbarkeit begabter Substanzteilchen besteht, die man in ana- tomischer Hinsicht als elementare Erbeinheiten betrachten kann. Ob man dieselben Micellen, Bioblasten, Determinanten benennen will, ist an sich ganz gleichgültig. In welcher Weise allerdings diese hypothetischen Teilchen bei der Erzeugung der sichtbaren Merkmale des entwickelten Organismus im einzelnen Zusammen- wirken, entzieht sich zurzeit noch so vollständig unserer Erkenntnis, daß es uns sogar verfrüht erscheint, auch nur eine Hypothese darüber aufzustellen. Die Abwege, auf welche hier die spekulative Phantasie des Naturforschers geführt werden kann, hat uns die vorausgeschickte Kritik von Darwins Pangenesis und von Weis- manns Architektur des Keimplasma gelehrt. In diesem Punkt be- 35* 54§ Vierzehntes Kapitel. finde ich mich auch in voller Übereinstimmung mit Johannsen, wenn er erklärt: „Man betrachtet nicht mehr, wie es früher vielfach geschehen ist, die verschiedenen, mehr oder weniger klar hervor- tretenden einzelnen „Merkmale“ (Einzelcharaktere, Einfacheigen- schaften usw.) — und erst recht nicht die einzelnen Organe, Ge- websgruppen oder Zellen — als analytische Einheiten einer Organi- sation.“ In meinen Schriften habe ich an diesem Gedanken, den Nägeli zuerst klar ausgesprochen hat, stets festgehalten und öfters betont (1909, 1. c. p. 15): „daß man in der Vererbungslehre mit dem Wort Anlage doch nicht mehr als die unbekannte, in der Beschaffenheit der Erbmasse gelegene Ursache oder den unbekannten Grund für eine Erscheinung bezeichnet, welche im Verlauf des Entwicklungs- prozesses in einer bestimmten Organisation des Entwicklungsproduktes mit Gesetzmäßigkeit zutage tritt. So berechtigt es nun auch auf der einen Seite zu sein scheint, den unbekannten Grund in der materiellen Beschaffenheit der Erbmasse zu suchen , so willkürlich und darum fehlerhaft würde es sein, zu glauben, daß er dann nur auf der An- wesenheit eines bestimmten materiellen T eilchens, eines besonderen Bioblasten oder Determinanten etc. beruhen könne; kann er doch ebensogut auch entweder in der besonderen Stellung eines Bioblasten im System der übrigen, oder in einer be- sonderen Kombination zweier oder mehrerer Bioblasten zu einem enger zusammengehörigen Komplex, überhaupt also in dem, was man als die Konfiguration des materiellen Systems oder einzelner seiner zusammengesetzten Teile bezeichnen kann , gegeben sein.‘‘ „Für tiefere Einblicke auf diesem Gebiete fehlen dem Biologen leider noch die dem Vorgehen des Chemikers entsprechenden und gleichwertigen Methoden exakterer Forschung, trotz der neuen viel- versprechenden Forschungswege, welche durch Mendel und seine Nachfolger in der Vererbungslehre mit so reichem Erfolg einge- schlagen worden sind. Ersinnen lassen sich aber solche schwierigen Verhältnisse stofflicher Organisation nicht, wie es WEISMANN in seiner Architektur des Keimplasma versucht hat“ (1909, 1. c. p. 16). „Wenn wir uns die Frage vorlegen, welche Vorstellung wir uns von dem Aufbau der Erbmasse aus elementaren Anlagen (Erb- einheiten) machen können, so ist von vornherein zu betonen, daß der Biologe zurzeit noch nicht in der Lage ist, eine Hypothese auszu- arbeiten, welche sich der Hypothese des Chemikers und Physikers von den Atomen und Molekülen an die Seite stellen ließe. Wir bewegen uns bei der Erörterung derartiger Fragen auf einem noch Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 549 sehr dunklen Gebiete, etwa wie die Naturforscher des vorigen Jahr- hunderts, als sie für den tierischen Körper einen Aufbau aus ele- mentaren Einheiten (den Zellen) nachzuweisen versuchten. Natur- gemäß wird die Gefahr, auf Abwege zu geraten, um so größer werden, je mehr man beim Aufbau einer solchen Hypothese auf das Spezielle einzugehen versucht.“ Bei dieser Sachlage könnte man sich wohl fragen, welcher Nutzen der Wissenschaft hieraus erwachsen kann. Die Antwort würde dann lauten: das Idioplasma entpricht vermöge seiner Zu- sammensetzung allen Anforderungen zur Erklärung der Erblichkeit, ohne doch den Ergebnissen zukünftiger Forschung in irgendeiner Weise vorzugreifen. Es unterscheidet sich erstens von den Ver- bindungen der Chemie dadurch, daß es sowohl im ganzen als in den es aufbauenden elementaren Einheiten die Haupteigenschaften des Lebens, Eigenwachstum und Vermehrung durch Teilbarkeit besitzt und insofern zur Erklärung des organischen Wachstums als’ Grundlage dienen kann. Zweitens ist es eine Substanz, die, wie NäGELI treffend bemerkt hat, „durch die Zusammenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorhandenen Elemente jede mögliche Kombi- nation von Verschiedenheiten darstellen und durch Permutation in eine andere Kombination derselben übergehen kann.“ Hierdurch wird es in der Theorie nicht nur begreiflich, wie die vielen Millionen von Artzellen nach ihrer erblichen Anlage voneinander verschieden sein können, sondern es läßt sich auch verstehen, daß die in allen Embryonalzellen durch erbgleiche Teilung ausgebreitete Substanz wegen ihrer komplizierten Zusammensetzung in der verschiedensten Weise auf die Entwicklungs- und Umweltsfaktoren reagieren kann und befähigt ist, bei der Entstehung aller möglichen histologischen Differenzierungsprodukte den Anstoß zu den hierfür erforderlichen formativen Prozessen zu geben. Drittens endlich besitzt die Hypo- these einen heuristischen Wert. Denn es ist wohl zu hoffen, daß wir in Zukunft durch vollkommenere mikroskopische Untersuchungen in die Genese der verschiedenen Protoplasmaprodukte, der Muskel-, Nerven-, Bindegewebsfibrillen, der Drüsensekrete etc. und die Rolle, welche hierbei „Teilkörperchen der Zelle“ spielen, noch einen tieferen Einblick gewinnen werden. Versuchen wir jetzt, auch der physiologischen Richtung^ in der Vererbungslehre, die sich zur anatomischen Richtung wie schon erwähnt, in mandhem Gegensatz befindet, gerecht zu werden. Denn die Entwicklung der Organismen und die Vererbung sind, wenn wir nach den treibenden Kräften und Wirkungsweisen 550 Vierzehntes Kapitel. forschen, auch wichtige physiologische Probleme. Durch die also Mendelismus bezeichnete Forschung und die so begründete metho- dische Bastardanalyse, die uns schon im III. Kapitel beschäftigt hat, konnte die physiologische Richtung in der Vererbungslehre seit 15 Jahren einen großen und noch vielversprechenden Auf- schwung nehmen. Ihre Vertreter gehören daher auch hauptsächlich der zum weiteren Ausbau der MENDELschen Entdeckungen ent- standenen Schule an, wie Bateson, Baur, Castle, Correns, Johannsen, Morgan u. a. Zur Charakterisierung ihres Standpunktes gegenüber dem Entwicklungsproblem halte ich mich vorzugsweise an die von Johannsen und Baur gegebene Darstellung. Nach der Erklärung von Johannsen (1915, 1. c. p. 599) be- trachtet „die nach Exaktheit strebende Erblichkeitsforschung als ihr Ziel, sämtliche Lebensmanifestationen von den einfachsten chemisch- physiologischen Vorgängen bis zu den festesten morphologischen Merkmalen des ausgeformten Organismus als Reaktionen und eben nur als Reaktionen gegebener molekularer Konstitutionen mit gewissen temporären oder bleibenden Außenbedingungen“ zu be- greifen. „Bei jeder mehr als morphologisch-deskriptiven Betrachtung der Lebewesen“, heißt es weiter, „muß daran festgehalten werden, daß alle Lebensäußerungen, auch die Ausformung der sich ent- wickelnden Organe oder Gewebe, in letzter Linie als Reaktionen der in den grundlegenden Gameten gegebenen , inneren Konstitution, auf die verschiedentlich wechselnden Faktoren des , äußeren Milieu4 aufzufassen sind.“ Daher will JOHANNSEN auch den fertigen Or- ganismus, insofern er das Produkt einer individuellen Entwicklung ist, als das Resultat einer Serie von sukzessiven Reaktionen zu erklären versuchen. Er nimmt also, wenn ich ihn recht verstehe, „die innere Konstitution“ der grundlegenden Gameten für die Erb- lichkeitsforschung als etwas Gegebenes, nicht weiter zu Erforschendes an , ebenso wie der Physiker die molekulare Konstitution einer chemischen Verbindung als etwas „Gegeben es44 annehmen und gleichwohl ihre physikalischen Eigenschaften gegenüber den Fak- toren der Außenwelt, ihre Schwere, Löslichkeits- und Kristallisations- verhältnisse, Wärmekapazität, Kohäsion etc. untersuchen kann. Wie jeder aus diesen Sätzen leicht ersehen wird, liegen zwei sehr verschiedene Aufgaben, die sich etwa wie diejenigen des Chemikers und des Physikers zueinander verhalten, dem Programm der anatomischen und der physiologischen Behandlung des Erblich- keitsproblems zugrunde. Bei der einen Aufgabe will der Forscher einen tieferen Einblick in die Konstituton der Substanz, welcher die Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. I erblichen Eigenschaften anhaften, und in ihre anatomischen Ver- änderungen gewinnen, unter denen sich der Übergang der uns im Keim nicht erkennbaren erblichen Anlagen, zu den sich aus ihnen entwickelnden, sichtbaren Organisationen vollzieht. Bei der anderen Aufgabe will er ergründen, wie aus den Reaktionsweisen der Art- zelle den Faktoren der Außenwelt gegenüber der fertige Organismus mit seinen funktionellen Eigenschaften „als das Resultat einer Serie von sukzessiven Reaktionen entsteht“. Im ersten Fall handelt es sich ohne Frage um eine schon weiter durchgeführte und auf viel breiterer Grundlage ruhende Wissenschaft. Denn darüber, wie aus der Keimzelle aus dem ein- facheren der kompliziertere, fertige Organismus entsteht, wie also die erbliche Anlage in formaler Hinsicht verwirklicht wird, hat uns das Studium der Organogenese und der Histogenese schon eine überaus reiche und sichere Erkenntnis gebracht. Dagegen ist die Physiologie von der Entwicklung der Funktionen überhaupt noch kaum in Angriff genommen, und selbst in einfachen Fällen würde es nicht gelingen, ein späteres Stadium der Entwicklung als Folge definierbarer Wirkungsweisen des vorausgegangenen Stadiums, z. B. die Gastrula als Produkt von bestimmten Reaktionen der Blastula darzustellen. ' Ohne Zweifel handelt es sich hier um viel schwierigere Fragen der Wissenschaft, als sie die anatomische Analyse des Ent- wicklungsprozesses darbietet. Auch die physiologische Richtung der Vererbungslehre arbeitet zurzeit mit dem Begriff „der Erbeinheiten“. Nach meinem Urteil scheint sich mir keine ganz klare Vorstellung mit der Verwendung des physiologischen Begriffs verbinden zu lassen. In der neueren Literatur des Mendelismus hat Johannsen das Wort „Gen“ für Erbeinheit ein geführt. Er hat es in Anlehnung an Darwins Pangen gewählt, indem er die erste Silbe wegließ ; er wollte durch dasselbe „das schlechte mehrdeutige Wort , Anlage4 ersetzen“. Ob hierdurch jedoch eine größere Klarheit wirklich erzielt ist, will mir zweifel- haft erscheinen. Schon durch die Entlehnung von Darwins Pan- genesis kann leicht ein Mißverständnis erweckt werden. Denn Darwins Pangene oder Keimchen sind kleinste kör- perliche Elemente. Nun hat zwar JOHANNSEN wie DE VRIES als den guten Kern in Darwins Pangenesis den Gedanken be- zeichnet, daß in jeder Gamete sich materielle Repräsentanten aller Teile des Organismus finden; er selbst ist aber weit davon entfernt, sich denselben zu eigen zu machen, und betont demgemäß an ver- schiedenen Stellen seiner Schriften, daß er mit dem Begriff „Gen“ 552 Vierzehntes Kapitel. nicht die Vorstellung von etwas Körperlichem ver- binden will. „Die Gene“, bemerkt er (1909, 1. c. p. 482), „sind nicht als Träger von erblichen Eigenschaften aufzufassen“, oder auf p. 485: „Die Auffassung der Gene als Organoide, als Körper- chen mit selbständigem Leben u. dgl. ist nicht mehr von der Forschung zu berücksichtigen“ etc. Zugleich aber erklärt sich JOHANNSEN außerstande, seine negative durch eine positive Begriffs- bestimmung zu ersetzen. Denn er sagt hierüber p. 482: „Was nun aber die ,Gene‘ und , Erbeinheiten4 eigentlich sind, ist eine noch ganz offene Frage“ und ebenso auf p. 484 : „Die , eigentliche4 Natur, das , Wesen4 der genotypischen Grundlage der Organismen läßt sich also vorderhand gar nicht näher eruieren. In welcher Weise die verschiedenen genotypischen Einzelfaktoren, die Gene, wie sie wohl am einfachsten genannt werden können, wirken und Zusammen- wirken, wann Reaktionen sich abspielen, die sich uns als Eigen- schaften darstellen, wissen wir nicht“ etc. Hier könnte durch die Andeutung, daß Gene wirken und Zusammenwirken sollen, in vielen Lesern doch die Vorstellung, daß es sich um etwas Körperliches handelt, wachgerufen werden, um so mehr, als ihnen zugleich die Eigenschaft beigelegt wird, „daß sie in irgendeiner Weise an wachsen müssen, um mit der Fortpflanzung Schritt zu halten.“ Das Unbestimmte im Begriff „Gen44 tritt auch bei anderen Forschern der modernen Erblichkeitslehre hervor. So bemerkt Lang in seinem 1914 erschienenen Werk (p. 35): „Die Bezeichnung ,Gen4 soll gänzlich frei von jeder spezielleren stofflichen oder dynamischen Deutung sein, nur anzeigen, daß , etwas4 in den Ga- meten, bzw. in der Zygote vorhanden ist, was den Charakter des sich entwickelnden Organismus wesentlich bestimmt.“ Aber auch Lang neigt bei Abgabe dieser Erklärung doch zu der Vor- stellung, daß das Gen etwas Materielles ist. Denn er bemerkt gleichzeitig : „Bei aller Vorsicht, die in der Tat geboten erscheint, ist doch zu sagen, daß die Annahme immer wahrschein- licher wird, daß die Gene ausschließlich oder vorwiegend in der chromatischen Substanz der Zelle enthalten oder an dieselbe ge- bunden sind, wobei wiederum die Erkenntnis von ungeheuer weit- tragender Bedeutung ist, daß die chromatische Substanz durch während der Zellteilung erkennbare Einheiten, selbständige Chro- matinindividuen, die Chromosomen, repräsentiert wird, die aber sicher nicht den Erbeinheiten entsprechen, sondern deren mehrere bis viele enthalten“ etc. Nicht selten findet man in der neueren Literatur die Aufgabe Der- gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 553 der Mendelforschung als eine „Eigenschaftsanalyse des Organismus“ bezeichnet. Ihr Ziel sei, die ausgebildeten Merkmale oder Eigen- schaften auf „Elementareigenschaften“ der Geschlechtszellen, auf die „unit characters“ der englischen Forscher zurückzuführen und aus ihnen zu erklären. In diesem Sinne wird auch von manchen Seiten das von Johannsen geprägte Wort „Gen“ als Bezeichnung für die zu erforschenden „Elementareigenschaften“ gebraucht. „Ein scheinbar einheitlich entwickeltes Merkmal, eine Außeneigenschaff — bemerkt Lang (1. c. p. 35) — „kann durch mehr als ein Gen bestimmt werden, und umgekehrt können mehrere Außenmerkmale auf einem Gen beruhen.“ Bei solchen Redewendungen ist in- dessen nicht zu übersehen, daß niemand angeben kann , welche Vorstellung eigentlich mit dem Begriff einer Elementareigenschaft zu verbinden ist. In dieser Hinsicht stimme ich ganz mit Johannsen überein, wenn er betont (1909, 1. c. p. 393): „Es wird klarer und klarer, daß es unmöglich ist, bei bloßer Inspektion zu entscheiden, was , Einzel eigenschaff genannt werden soll oder nicht. Wie hier schon öfters gesagt wurde, ist die Kreuzungsanalyse nur eine relative; viele vermeintlich einfache Eigenschaften haben sich als komplex gezeigt, und es ist eigentlich, wie es Baur sehr richtig pointiert, irrelevant, von Einzeleigenschaften über- haupt zu reden.“ Johannsen wendet sich daher auch gegen die Meinung, daß das Wort „Gen“ der Terminus tech- nicusfür eine Elementareigenschaft sein soll, ebenso wie er sich gegen ihre stoffliche Natur ausspricht. Auf diese Weise läßt sich also das Wort „Gen“ weder in morphologischer noch in physiologischer Hinsicht näher definieren. „Gen“ heißt es im oft genannten Werk von Johannsen (1900,1.0. p. 394), „sind nur die Einheiten, mit denen man bei den Erblich- keitsstudien zu operieren hat“. Hierzu wird aber an einer anderen Stelle bemerkt (p. 482): „was die Gene oder Erbeinheiten eigentlich sind, ist eine noch ganz offene Frage.“ Bei dieser Sachlage scheint mir die Behandlung des Erblich- keitsproblems vom morphologischen Standpunkt aus in der An- nahme einer Substanz von komplizierter biologischer Struktur, die ich nach dem Vorgang von NäGELI als Idioplasma bezeichnet und in den Kern verlegt habe, jedenfalls zu bestimmteren Vorstellungen und Fragen zu führen, als die physiologische Behandlung. Das Verhältnis ist ein ähnliches wie in der Chemie zwischen der che- mischen und der physikalischen Erklärung einer Verbindung. Ich 554 Vierzehntes Kapitel. gehe hierbei auf einen von Baur gebrauchten, von Lang (1914, 1. c. p. 477) erwähnten Vergleich ein. Der durch seine Mendelforschung sehr verdiente Botaniker läßt „zwischen den Erbeinheiten, die durch die Bastardanalyse erkenn- bar werden“, und den mit den Sinnen wahrnehmbaren Außen- eigenschaften eines Organismus „ähnliche Beziehungen bestehen, wie etwa zwischen dem molekularen Aufbau, der chemischen Formel, irgendeines Stoffes und dessen Eigenschaften, wie spe- zifisches Gewicht, Geruch, Farbe, Geschmack usw. „Wenn man dies im Auge behalte“, findet es Baur „nicht weiter auffällig, daß ein und dieselbe Erbeinheit eine ganze Reihe von ver- schiedenen Außeneigenschaften beeinflußt“; denn ebenso werde ja z. B. „durch Einführung eines Wasserstoffatoms in das Benzolmolekül nicht bloß eine Eigenschaft des Benzols, etwa sein Geruch, verändert, sondern sehr zahlreiche Eigenschaften“. Wenn der Vergleich zutreffend sein soll, muß Baur sich seine Erbeinheiten, obwohl er es nicht direkt sagt, als materielle Teil- chen irgendeiner Art vorstellen, wie es doch die mit ihnen ver- glichenen Moleküle chemischer Verbindungen sind. Nun ist es nicht zu bezweifeln, daß die Chemie als morphologische Wissen- schaft in der Analyse der Substanzen einen hohen Grad von Voll- kommenheit erreicht hat, während die physikalische Chemie zwar die durch unsere Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften der Sub- stanzen zum Teil auf das genaueste ermitteln, aber nicht erklären kann, in welchem ursächlichen Zusammenhang diese erkennbaren Außeneigenschaften mit der Zusammensetzung der Moleküle aus den sie aufbauenden verschiedenen Atomen stehen, oder gar wie sie sich von den Elementareigenschaften der Atome oder von den Atomkräften ableiten lassen. Ich kann nur immer wieder im Hin- blick auf derartige wissenschaftliche Ziele auf den früher (S. 49) zitierten Ausspruch von Nernst verweisen. Wenn man sich in der Erblichkeitslehre eines möglichst in- differenten Wortes bedienen will, das weder mit morphologischen noch physiologischen Hypothesen verknüpft ist, so scheint mir der gute, philosophische Begriff der Anlage am wenigsten Miß- verständnissen ausgesetzt zu sein; denn er bringt doch nur die einzelnen Stadien eines Entwicklungsprozesses zueinander und zu ihrem Endergebnis in einen rein logischen Zusammenhang als Grund und Folge (vgl. S. 556). Er kann daher bei seiner In- differenz sowohl in anatomischer als auch in physiologischer Be- ziehung gleich gut gebraucht werden. Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 555 Im Hinblick auf die verschiedenartigen Aufgaben und Me- thoden der beiden Richtungen der Vererbungslehre, die noch in den Jugendjahren ihrer Entwicklung stehen, werden beide voraus- sichtlich ihre selbständigen Wege in der nächsten Zukunft gehen. Ich würde es ebenso wie Johannsen für verfehlt halten, wenn jemand ein Chromosom oder einen Teil desselben zum Träger irgendeiner späteren Eigenschaft machen wollte, wie schon aus meiner Kritik von Darwins und Weismanns Hypothesen hervor- geht. Fällt es doch auch dem physikalischen Chemiker nicht ein, beim Wasser, obwohl es nur aus 2 Elementen zusammengesetzt ist, eines derselben für eine bestimmte Eigenschaft verantwortlich zu machen oder für den süßen Geschmack des Bleizuckers nach einem Träger in bestimmten Atomen seiner Elementarformel zu suchen. Selbständige Entwicklung der beiden Richtungen der Erb- lichkeitslehre schließt jedoch keineswegs aus, daß nicht die eine mit der anderen in möglichst inniger Fühlung bleiben sollte, um Anregungen für weitere Forschung zu gewinnen und Nutz- anwendungen zu machen, wo sich Berührungspunkte darbieten. Daß es an solchen nicht fehlt, wurde schon früher nachgewiesen (S. 102 — 120). Ich erinnere an die Lehre von den Eigenschafts- paaren in den MENDELschen Schemata der Bastardverbindungen und an die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Kern- substanzen oder an Mendels Spaltungsregeln und an die Reduktion bei der Gametenbildung und die durch sie herbeigeführte Ent- stehung von Halbkernen. Endlich ist noch ein sehr wichtiger Berührungspunkt zwischen anatomischer und physiologischer Richtung ausführlicher zu be- sprechen , da er strittige Fragen der Vererbungslehre mit auf- klären hilft. Wie im vierten Kapitel an Beispielen genauer aus- einandergesetzt wurde, kann die in der Artzelle gegebene Anlage, welche der Ausgangspunkt aller Erblichkeit ist, nur mittels eines Systems von Bedingungen schrittweise entwickelt werden. Jeder Schritt ist ohne von außen kommende realisierende Faktoren unmöglich. Mit jedem Schritt in der Entwicklung vor- wärts wird die an ihrem Anfang nur als Artzelle ge- gebene Anlage eine andere und reichere — alsZellen- haufen, als Keimblase, als Gastrula etc. — und zwar in doppelt er Hinsicht, einmal durch die Potenzierung der Artzelle, zweitens durch den Hinzutritt und die Aufnahme realisierender Faktoren, ohne die ja über- haupt nichts geschehen kann. Da die letzteren bei normalem 556 Vierzehntes Kapitel. Geschehen mit derselben Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit wie die im befruchteten Ei gegebenen inneren Faktoren bei der Ent- wicklung in Wirksamkeit treten, hat man sie von philosophischer Seite auch der inneren, als die äußere Anlage oder dem inneren als den äußeren Grund des Geschehens gegenübergestellt. Beide Konten sind im Entwick- lungsprozeß untrennbar in der Weise miteinander verbunden, daß von dem Konto der äußeren immer mehr dem Konto der inneren Anlagen zugeschrieben wird. Wie Kuno Fischer mit Recht in seiner Logik betont hat, ist es für das Denken sehr wichtig, den Begriff der Bedingung in seiner Gewalt zu haben. „Gerade in dem Gebrauch dieses Begriffs unterscheide sich für den Kenner sehr genau das korrekte Denken von dem inkorrekten.“ „Ohne inneren Grund (Anlage) folgt nichts, ebensowenig ohne äußere Gründe. Erst aus der Vereinigung beider ergibt sich unausbleiblich die Folge. Darum ist jede Begründung einseitig, die entweder nur innere oder nur äußere Gründe (nur Anlage oder nur Bedingungen) zu ihrer Richtschnur nimmt.“ Daß Darwin und Weismann (siehe S. 531 — 537) in die an erster Stelle auf geführte Einseitigkeit in ihren Vererbungstheorien verfallen sind, ist schon bei verschiedenen Gelegenheiten von mir nachgewiesen worden. Bei dieser Sachlage, bei dem untrennbaren Zusammenhang^ der zwischen den inneren Faktoren oder der Anlage im engeren Sinn und den Bedingungen oder den realisierenden Faktoren be- steht, wird es verständlich werden, daß es nicht leicht, wenn nicht überhaupt unmöglich ist, beide rein auseinander zu halten und näher zu bestimmen, inwieweit und in welcher Weise denn nun eigentlich der fertig gebildete Organismus mit den uns sichtbaren Artmerkmalen in der Organisation der Artzelle (in ihrem Idio- plasma) als Anlage präformiert ist oder was man bei physiologischer Betrachtung überhaupt unter Vererbung von Merkmalen und Eigen- schaften zu verstehen hat. Da es nicht mehr möglich ist, nach dem als falsch erwiesenen Verfahren von Darwin und Weismann alle Merkmale des werdenden und des fertigen Organismus als Erbstücke in der Form von Keimchen oder Determinanten in die Artzelle hineinzuschachteln und so zwar eine scheinbare, aber logisch falsche Erklärung zu geben, wird ohne Frage der Begriff der An- lage und der Erblichkeit für den Forscher schwieriger zu hand- haben; er hat viel von der Bestimmtheit verloren, die ihm von Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 557 Darwin und Weismann nach dem Vorbild der alten Evolutionisten gegeben worden ist und der auf viele so bestechend gewirkt hat- Was sollen wir z. B. — um uns gleich an den Erscheinungen der Natur selbst über die genannten Schwierigkeiten zu ver- ständigen — als erbliche Merkmale bei den im VIII. Kapitel be- sprochenen Varianten der Species bezeichnen, die je nach den äußeren Faktoren, die während der Entwicklung eingewirkt haben, ein so verschiedenartiges Bild darbieten ? Sollen wir bei den Stand- ortsmodifikationen von Hieracium die Merkmale der alpinen oder die Merkmale der im Flachland gewachsenen Form als die Aus- führung erblicher Anlagen betrachten? Sollen wir beim Saison- dimorphismus die Sommer- oder die Winterform als die ererbte bezeichnen; und wie sollen wir uns im Falle von Primula sinensis oder von dem mit rotem Pfeffer gefütterten Kanarienvogel ver- halten? In der Tat sehen wir, daß in der Literatur eine offen- bare Unsicherheit in der Beurteilung und noch mehr in der Er- klärung dieser Tatbestände bei namhaften Forschern herrscht. Die Unsicherheit tritt schon bei Nägeli, dem Begründer der Idioplasmatheorie, hervor. In seinem Werk „Über die mechanisch- physiologische Theorie der Abstammungslehre“ äußert er sich in eingehender Weise über die hier aufgeworfene Frage, die er „als einen der wunden Punkte in der Methode der heutigen Ab- stammungslehre bezeichnet. An einer Stelle (1. c. p. 263), die ich ihrer Wichtigkeit wegen wörtlich wiedergebe, heißt es: „Wie der Rassenbegriff nur dann deutlich und rein hervortritt, wenn man von ihm die vorübergehenden Merkmale ausscheidet^ welche durch Ernährung und Klima unmittelbar hervorgebracht werden, so verhält es sich auch mit dem Begriff der Varietät; von demselben muß alles nichtvererbbare ausgeschlossen werden.. Die wirklichen Varietätsmerkmale lassen sich nur dann sicher er- kennen, wenn eine natürliche Form unter die verschiedensten äußeren Verhältnisse gebracht wird. Nur die bei einer solchen Be- handlung konstant bleibenden Eigenschaften gehören der Varietät an ; alle sich verändernden Eigenschaften sind als Ernährungs- und Standortsmodifikationen zu eliminieren.“ „Neben Rassen und Varietäten muß also noch eine Kategorie von Formen unterschieden werden, die durch nicht erbliche Merk- male charakterisiert ist, und die ich einstweilen in Ermangelung eines anderen Wortes mit der bisher bereits gebrauchten Benennung Modifikation bezeichnen will. Die Modifikationen werden durch verschiedene äußere Einflüsse, durch Nahrung, Klima, Reize hervor- 558 Vierzehntes Kapitel. gebracht und sind vorzüglich Standorts-, Ernährungs- und krank- hafte Modifikationen. Sie bestehen in Erscheinungen, die am In- dividuum entstehen und wieder vergehen oder, wenn sie ihm bis zu seinem Ende anhaften, doch nicht auf die Kinder übertragen werden. Kommen sie auch den Kindern zu, so ist dies nicht Folge der Vererbung, sondern weil sie in ihnen durch die nämlichen Ur- sachen, wie in den Eltern, erzeugt werden“. „Die Modifikation unterscheidet sich also dadurch von der Varietät und Rasse, daß sie nicht erblich ist. Sie hat Bestand, so lange sie sich unter den nämlichen äußeren Verhältnissen befindet, weil diese Einflüsse in jeder Ontogenie wieder die nämlichen Merk- male hervorbringen. Es ist dies aber keine Konstanz im natur- wissenschaftlichen Sinne ; in das Idioplasma wird nichts Erbliches aufgenommen, und wenn die Sippe unter andere Einflüsse kommt, ist ihr daher von den Wirkungen der früheren Einflüsse nichts zurückgeblieben.“ Die von Nägeli vertretene Auffassung kann wohl auch jetzt noch als die herrschende bezeichnet werden. So hat sich in ihrem Sinn noch kürzlich Plate in seiner Vererbungslehre ausgesprochen. Auch er will an dem Gegensatz zwischen erblichen und nicht- erblichen Eigenschaften festhalten, von denen die einen nach der Terminologie von Weismann durch die Determinanten des Keim- plasma hervorgerufen werden und daher unter den verschiedensten äußeren Verhältnissen wiederkehren, während die anderen allein oder überwiegend durch die äußeren Reize erzeugt werden und daher in ihrem Auftreten von diesen abhängen. Alle nichterblichen Eigenschaften nennt Plate, um einen kurzen prägnanten Ausdruck zu haben, Somationen, die erblichen dagegen Mutationen. Er hält die Unterscheidung zwischen erblichen und nichterblichen Merkmalen für die Medizin und Landwirschaft, sowie in deszendenz- theoretischer Hinsicht für so wichtig, daß man sie nicht verwischen sollte; er gibt aber gleichzeitig doch zu, daß die Gegensätze nicht völlig scharf sind, da die Gene zu ihrer Betätigung realisierende Faktoren nötig haben, also nicht völlig unabhängig von der Außen- welt sind. Plate spricht sich trotzdem gegen eine von Klebs, Woltereck und Baur ein geführte Betrachtungsweise aus, weil sie eine Aufhebung der Gegensätze „erblich“ und „nichterblich“ zur Folge habe, während „die Gegensätze zweifellos in der Natur existieren und eine enorme Rolle spielen“. Wenn wir uns den von Plate bekämpften Forschern zu- wenden, so suchen dieselben in den Begriff der Erblichkeit den Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 559 Einfluß der äußeren Faktoren mitaufzunehmen, und zwar auch in der Absicht, unklare Vorstellungen, die schon viel Unheil angerichtet haben, auf diese Weise aus dem Wege zu räumen. Indem ich mich an die kurzgefaßten Darlegungen von Baur halte, so ist nach seiner Definition in Übereinstimmung mit JOHANNSEN „das, was eine Spezies charakterisiert und w as vererbt wird, stets nur eine bestimmte spezifische Art undW eise der Reaktion auf Außenfaktoren. Das Resultat der Reaktion, d. h. die äußeren Eigenschaften eines jeden einzelnen Indi- viduums hängen infolgedessen von zwei Dingen ab> erstens von der spezifischen ererbten Reaktionsweise der Spezies, zu der dieses Individuum gehört, und zweitens von den Außenbedingungen, unter denen sich das betreff en de Individuum entwickelt hat.“ Dem- nach ist das, was wir als äußere Eigenschaften mit unseren Sinnen wahrnehmen, nur das Resultat einer spezifischen Reaktion auf die zufällige Konstellation von Außenbedingungen, unter denen das untersuchte Individuum sich gerade entwickelt hat. Zur Erläuterung seiner Definition an einem bestimmten Beispiel bedient sich Baur der schon früher (S. 314) erwähnten Primula sinensis rubra. Diese vererbt nicht eine bestimmte Blütenfarbe, sondern eine bestimmte Weise, auf die jeweiligen Einflüsse mit der einen oder der anderen Färbung zu reagieren, also bei 20 0 rote, bei 30 0 weiße Blüten zu bilden. Diese Reaktionsweise ist das vererbbare Merkmal, das sie von anderen Primelrassen unterscheidet, und nicht die Farbe. „Wenn z. B. Primula sinensis rubra auf Kultur bei 20 0 mit der Bildung von roten, auf Kultur bei 30 0 mit der Bildung von weißen Blüten, Primula sinensis alba dagegen auf Kultur bei 20 0 sowohl wie auch bei 30 0 mit weißen Blüten reagiert, so ist das konstante, unterscheidende Merkmal dieser beiden Rassen nicht ihre Farbe, sondern ihre spezifische, charakteristische Art, auf die Temperatur und auf andere Außen- einflüsse mit der Blütentarbe zu reagieren. Und ebenso sind nicht eine bestimmte Schwanzlänge, bestimmte Dichte der Behaarung, bestimmte Länge der Kiefern usw. die vererbbaren, für eine ge- wisse Mäuserasse charakteristischen Merkmale, sondern vererbt wird auch hier nur eine bestimmte typische Reaktionsfähigkeit auf die Außenbedingung.“ Nach dieser von Klebs, Woltereck und Baur vertretenen Auffassungs weise besteht der prinzipielle Unterschied zwischen Modifikationen und Mutationen etwa darin : die Modifikationen be- Vierzehntes Kapitel. 560 ruhen auf Unterschieden, die bei Keimzellen mit gleichartiger „Reaktionsnorm“ durch die Einwirkung verschiedenartiger äußerer Faktoren verursacht werden: sie sind nicht erblich. Mutationen da- gegen entstehen durch eine Änderung oder Verschiebung der bisherigen konstanten typischen Art, auf Außeneinflüsse zu reagieren ; also sind sie erblich. Die von mir zum Teil mit Baurs eigenen Worten wieder- gegebenen Betrachtungen und Definitionen verdienen alle Beach- tung. Sie berühren in der Tat einen schwachen Punkt in der von Nägeli, Weismann, Plate u. a. eingenommenen Stellung und überhaupt eine Unklarheit in dem populären Ausdruck: „eine erb- liche Eigenschaft“ oder „die Vererbung einer Eigenschaft“. Denn bei logischerPrüfung kann eine bestimmte, uns wahr- nehmbar gewordene Eigenschaft einesausgebildeten Organismus überhaupt nicht als solche durch die Keimzelle vererbt werden; sondern es wird, wennwir uns wissenchaf tlich genau ausdrücken wollen, nurdie Anlage, eine solche wiederhervorzubringen, vererbt. Diese korrekte Fassung bedeutet aber etwas ganz anderes als der gebräuchliche Ausdruck. Denn wie schon früher (S. 555) ausein an der gesetzt wurde, be- dürfen die in der Keimzelle gegebenen erblichen An- lagen einer Organismenart, um zu sichtbaren Eigen- schaften und Merkmalen zu werden, noch der Inszenie- rung durch den Entwicklungsprozeß unter Beihilfe der Außenwelt. Zu den erblichen Faktoren der Art- zelle müssen sich noch zahlreiche äußere oder reali- sierendeFaktoren hinzugesellen, um gemeinsam durch einen Entwicklungsprozeß das mit sichtbaren Merk- malen ausgestattete Lebewesen zu verwirklichen. In welcher Weise und in welchem Maße aber die erblichen und die äußeren, der Veränderung unterworfenen Faktoren zum Endresul- tat beitragen, entzieht sich zurzeit vollständig unserer Kenntnis- nahme. Nur das wissen wir, daß beide gleich notwendig sind. Daher ist es von vornherein logisch unrichtig, zu sagen, wenn es auch gewohnheitsgemäß geschieht, daß die Kinder irgendein Merkmal von einem Elter ererbt haben ; denn ererbt haben sie nur eine im Keim gegebene Anlage, die unter bestimmten Bedingungen wieder zur Entstehung eines elterlichen Merkmals führen kann. Wer sich mit den Erblichkeitsfragen beschäftigt, sollte nicht vergessen, daß mit dem Begriff der erblichen Anlage bestimmter Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 561 Eigenschaften immer die Einschränkung oder der Vorbehalt ver- bunden ist, daß die Anlage durch Veränderungen des Entwicklungs- prozesses in verschiedener Weise realisiert werden kann, und da- durch ein Endprodukt liefert, das anstatt der erwarteten Eigen- schaften mehr oder minder modifizierte darbietet. Es liegt hier klar auf der Hand, daß in beiden Fällen die durch die Artzelle vererbte Anlage die gleiche ist, nur ihre Inszenierung hat sich, um in dem schon gebrauchten Bild zu bleiben, geändert. Es ist da- her logisch n icht rieh ti g, nur in der einen Art des End- produktes den Ausdruck der Erblichkeit erblickenzu wollen. Bei dieser Stellungnahme können wir mit der Antwort auf die früher (S. 557) aufgeworfenen Fragen nicht länger zweifelhaft sein. Wir werden bei den Standortsmodifikationen (S. 309) weder die Merkmale der alpinen noch die Merkmale der im Flachland gewachsenen Form, beim Geschlecht weder die weibliche noch die männliche Form, beim Saisondimorphismus (S. 306) weder die Merkmale der Sommer- noch der Winterform, bei der Primula sinensis (S. 314) weder die rote noch die weiße Blütenfarbe und beim Kanarienvogel (S. 309) weder die gelbe noch die durch Fütte- rung mit Pfeffer hervorgerufene rötliche Befiederung in einseitiger Weise als den ausschließlichen Ausdruck erblicher Anlagen be- zeichnen. Denn die einen wie die anderen beruhen auf der gleichen erblichen Basis, sie sind aus dem gleichen Art-Idioplasma, oder, in der Sprache der Mendelforscher, aus den gleichen Genen hervor- gegangen; nur die definitive Ausführung ist beim Entwicklungs- prozeß infolge der ungleichen Konstellation äußerer Faktoren eine verschiedene geworden. Bei der von mir durchgeführten Definition macht die scharfe Unterscheidung des Begriffes Modifikation und des Artbegriffes nicht die geringste Schwierigkeit. Denn die Arten unterscheiden sich ja durch. Verschiedenheit in der spezifisch-biologischen Struktur ihres Idioplasma voneinander, in der Organisation der Artzelle. Daher haben wir auch kein Bedenken getragen, die Arten des LiNNEschen Systems in noch weiter untergeordnete Gruppen, in elementare und in MENDELsche Arten und in JOHANNSENs reine Linien zu zerlegen, sowie sich in irgendeiner Richtung der Beweis führen ließ, daß sich eine Gruppenbildung auf Grund geringer Verschiedenheiten in der erblichen Beanlagung (verschiedene Zahl und Art der erblichen Faktoren, verschiedene Zusammensetzung des Idioplasma der Artzellen) durchführen ließ. Das Vorhandensein O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 3^ 5 62 Vierzehntes Kapitel. der geringsten, konstant auftretenden, erblichen Anlage bei einer Anzahl von Individuen berechtigt uns, sie im System von anderen Individuen, die diese Erbeinheit nicht besitzen, als eine besondere Gruppe abzutrennen. Die Differenzen können dabei so gering- fügige sein, daß sie vom Laien überhaupt nicht wahrgenommen oder gewöhnlich übersehen zu werden pflegen. Im vollsten Gegen- satz hierzu stehen die Modifikationen. Die Vereinigung der ver- schiedensten Formen unter einen gemeinsamen Artbegriff wird dem Laien auf den ' ersten Blick unverständlich und widerspruchsvoll erscheinen ; sie ist aber nur die konsequente Durchführung ein und derselben logischen Erwägung, die nicht die Gleichheit der äußeren Erscheinungsformen, sondern die Gleichheit der Abstammung von identischen Keimzellen oder die Gleichheit der erblichen Veranlagung (Idioplasma) , zum obersten Einteilungsprinzip im System der Orga- nismen gemacht hat. Durch Prägung des Wortes „Artzelle“ habe ich demselben in meiner Allgemeinen Biologie zum ersten Mal einen scharfen und leicht faßlichen Ausdruck gegeben. Trotzdem zwei oder mehr systematisch zusammengehörige Modifikationen ein- ander sehr fremd aussehen und sich in sehr vielen Merkmalen oft scharf unterscheiden, so gehören sie doch nach dem genetischen Einteilungsprinzip zusammen, weil sie aus derselben Artzelle hervor- gegangen sind, also ihrem Idioplasma und ihren Anlagen nach gleich sind und sich daher auch ineinander um wandeln lassen. Man vergesse doch nicht, daß die aufeinanderfolgenden Stadien eines Entwicklungsprozesses (menschliche Embryonen mit Kiemenspalten, Eihäuten und Plazenta) noch viel größere Formdifferenzen unter- einander und mit dem Endprodukt verglichen, darbieten. Im Zweifels- fall entscheidet über die Zusammengehörigkeit das Experiment, die Züchtung unter verschiedenen Kulturbedingungen in aufein- anderfolgenden Generationen. Genau genommen, bereiten die Modifikationen für die Fest- stellung des Artbegriffs keine größere Schwierigkeit, als in früherer Zeit die Tierarten mit einem ausgesprochenen Generationswechsel, wie die Hydromedusen, oder viele Familien von Eingeweidewürmern, die Cestoden z. B. Auch hier erscheinen uns im Entwicklungszyklus der Art zwei miteinander in einem Wechsel stehende, ausgeprägte Formen, wie der Hydroidpolyp und die Meduse oder der Blasen- und der Bandwurm, so ungleich im Äußeren, daß sie vom Syste- matiker meist zu ganz verschiedenen Familien auf Grund ihrer äußeren Unähnlichkeit gerechnet wurden, bis sich erst beim Studium ihrer Entwicklung allmählich die Erkenntnis durchbrach, daß, was Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 563 äußerlich so verschieden erscheint, doch durch gemeinsame Ab- stammung innerlich zusammengehört, und daß es sich nur um ver- schiedene Erscheinungsformen (Phänotypen) im Entwicklungsprozeß derselben Artzelle und desselben Idioplasma handelt. Durch unsere Auseinandersetzung über Erblichkeit fällt jetzt auch von einer neuen Seite Licht auf den früher (S. 126) in anderer Weise begründeten Satz, daß alle von einer gemeinsamen Mutter- zelle, dem Ei,. abstammenden Zellen, wenn sie im Verlauf der Onto- genie durch Arbeitsteilung auch noch so sehr in viele Gewebe modifiziert werden und die aller verschieden artigsten Plasmaprodukte ausbilden, doch der Art, d. h. ihrer erblichen Anlage nach gleich sind. Denn trotz aller histologischen Sonderung, die sie zu einem histologischen Phänotypus „gemacht hat“, besitzen sie als gemein- sames Erbe der Mutterzelle, von der sie abstammen, ihr Art-Idio- plasma, den inneren Entwicklungsgrund, und haben nur eine ver- schiedene, uns sichtbar gewordene Form (Phänotypus) durch die im Entwicklungsprozeß geschaffenen Bedingungen und Beziehungen oder dem äußeren Entwicklungsgrunde (S. 555) angenommen. Bei weiterer Ausführung der vorstehenden Gedankengänge erscheint es uns daher auch aus logischen Gründen nicht zulässig, beim Vergleich der einzelnen Modifikationen einer Pflanzen- oder einer Tierspezies nach dem Vorschlag von NäGELI und Plate erbliche und nichterbliche Merkmale und Eigenschaften zu unter- scheiden, wie es ja auch bei den verschiedenen Formen des Gene- rationswechsels nicht geschieht. Denn es handelt sich doch, wie schon gesagt, nur um verschiedene Reaktionsweisen ein und des- selben Idioplasma gegenüber den äußeren Faktoren. Wenn man eine Unterscheidung machen will, dann ist es richtiger und schließt eine irrtümliche Auffassung aus, wenn man anstatt dessen von konstanten und von variabelen Eigenschaften redet. Denn darin allerdings unterscheiden sich die einzelnen Spezies vonein- ander, daß einige in ihren Merkmalen auch unter sehr verschie- denen Bedingungen eine große Konstanz bewahren, während andere leichter und in verschiedenen Graden durch Änderung darauf re- agieren. Und ebenso sind einzelne Merkmale von größerer Kon- stanz, andere mehr der Abänderung unterworfen, also variabel. Die Konstanz und Variabilität der Merkmale hängt aber nicht mit den Begriffen „erblich“ und „nichterblich“ zusammen, sondern beruht nur, wie es Baur sehr zutreffend ausgedrückt hat, auf der verschie- denen Art und Weise eines und desselben Idioplasma, auf die Ein- wirkungen der Außenwelt zu reagieren. 36 5&4 Vierzehntes Kapitel. Bei Besprechung der Modifikationen und ihrer Stellung zur Erblichkeitsfrage sieht sich Johann SEN (1. c. 1909, S. 490) veran- laßt, die Kategorie „der falschen Erblichkeit und der falschen Nicht- erblichkeit“ in die Forschung einzuführen. Er definiert sie als eine „Übereinstimmung der Nachkommen mit den Vorfahren in bezug auf eine Eigenschaft, die nicht durch Anwesenheit (bzw. Abwesen- heit) eines für die betreffenden Generationen charakteristischen Gens bedingt ist“. „Echte Erblichkeit bzw. Nicht erblichkeit beziehen sich allein auf Gene (Erbeinheiten), deren Anwesenheit oder Ab- wesenheit hier entscheidend ist; falsche Erblichkeit bzw. Nicht- erblichkeit beziehen sich allein auf Lebenslagefaktoren, welche das Realisieren einer Eigenschaft ermöglichen oder unmöglich machen können.“ Ebenso wie NäGELIS Unterscheidung von erblichen und von nichterblichen Merkmalen halte ich auch die Unterscheidung von einer echten und einer falschen Erblichkeit nur für verwirrend und daher nicht für zweckmäßig und empfehlenswert. Denn beide werden gegenstandslos, wenn man gleich den Begriff der Erb- lichkeit von vornherein scharf und richtig faßt und sich „bei wissen- schaftlicher Behandlung des Gegenstandes“ vornimmt, die gebräuch- liche, aber falsche Redewendung „Vererbung von Merkmalen“ durch den allein richtigen Ausdruck „einer Vererbung1 von Anlagen eines Merkmals“ zu ersetzen, wenn man ferner dabei im Auge behält, daß die gleichen Anlagen beim Entwicklungs- prozeß je nach den Lebenslagefaktoren oft in vorschiedener Weise realisiert werden können. Daß die Einwirkungen der Umwelt an und für sich nicht erblich sind, da sie keine Bestandteile der Erb- masse sein können, liegt ja auf der Hand, und darum sind sie von dem Begriff der Erblichkeit gleich von vornherein auszuschließen. Um Erblichkeitserscheinungen richtig beurteilen zu können, bedarf es vergleichender Beobachtungen und experimenteller Analyse in der schon früher besprochenen Weise. Im Grunde genommen ist dies auch der Standpunkt von NäGELI und von JOHANNSEN; hält dieser doch selbst seine Definition von „falscher und echter Erblichkeit“ für theoretisch wenig befriedigend ; „denn genau genommen“, — bemerkt er — „sind alle Reaktionen eines Organismus ja doch durch die genotypische Grundlage -f- die Lebenslagefaktoren direkt oder indirekt bestimmt.“ Der Umstand, „daß im Leben der Organismen die Gene und die Lebenslage- faktoren untrennbar Zusammenwirken, macht es in den einzelnen konkreten Fällen oft schwierig, die Erscheinungen der Erblichkeit Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. ^5^ in ihrer , Echtheit' oder , Falschheit4 in dem hier präzisierten Sinne zu deuten“. Im übrigen [ werden auch durch die Unterscheidung einer echten und einer falschen Erblichkeit die begrifflichen Schwierig- keiten gar nicht beseitigt. Man braucht sich bloß die Frage vor- zulegen, zu welcher Kategorie man die verschiedenen Erscheinungs- formen des Polymorphismus, des Saison-, des Geschlechtsdimorphis- mus, der beständig umschlagenden Varietäten bei den Pflanzen (Kap. VIII) etc. rechnen soll. Unsere Auffassung trägt dem von Baur, Johannsen, Klebs und Woltereck eingenommenen Standpunkt vollständig Rechnung, vermeidet aber ihre unbestimmte Ausdrucksweise, die dadurch ver- anlaßt ist, daß sie ihren richtigen Gedanken, die Bedeutung der äußeren Faktoren bei der schärferen Fassung des Erblichkeits- begriffes zur Geltung zu bringen, eine rein physiologische Formel gegeben haben. Denn das ist doch der Fall, wenn sie als das ver- erbbare Merkmal die typische Art und Weise der Reaktion auf äußere Faktoren oder, mit anderen Worten, die spezifische cha- rakteristische Reaktionsart bezeichnen. Bei dieser Definition ist meiner Ansicht nach ein wesentlicher Bestandteil des zu erklären- den Verhältnisses ganz weggelassen. Denn wenn in der Natur eine spezifische Reaktionsweise überhaupt vor sich gehen, über- haupt möglich sein soll, so muß doch vorher eine Substanz vor- handen sein, welche sich in dieser Weise betätigen kann. So er- fordert nach unserer Ansicht der Begriff der spe- zifischen Reaktion als unbedingt notwendige Ergän- zung den Begriff einer spezifisch reagierenden Sub- stanz. Dieselbe ist eben das Idioplasma von NÄGELI oder die in der Artzelle enthalten e Erbmasse vonspe- zifisch-biologischer Struktur. Daß eine Substanz von der komplizierten Zusammensetzung des Idioplasma sich in ihrer Grundlage unverändert erhält und trotzdem auf größere Unterschiede der realisierenden Faktoren, unter denen sie sich bei der Entwicklung befindet, durch Hervorbringung ver- schiedener Modifikationen reagiert, ist prinzipiell nichts Wunder- bareres, als was wir in der Chemie und Physik schon an den ein- fachsten Substanzen der leblosen Natur beobachten können. Auch diese können in ihrer elementaren Zusammensetzung dieselben bleiben, trotzdem aber je nach der Einwirkung äußerer Faktoren, wie früher (S. 532) erwähnt, uns in verschiedenen Zuständen nach fest normierten Gesetzen erscheinen. Das Wasser, bei gewöhnlicher 566 Vierzehntes Kapitel. Temperatur flüssig, gefriert bei Temperaturen unter Null zu Eis oder in der Luft zu Schneeflocken oder bildet die zierlichsten Eis- blumen, wenn es auf einer Fensterscheibe in sehr dünner Schicht ausgebreitet war. Es nimmt Dämpfform bei Erhitzung über den Siedepunkt an. Als Eis, als Wasser und als Dampf ist es in seinen physikalischen, uns wahrnehmbar gewordenen Eigenschaften nach vielen Richtungen sehr verändert worden, aber in chemischer Hin- sicht ist es doch immer dieselbe Substanz der Formel H20. Daher geht denn auch sowohl das Eis wie der Wasserdampf wieder in gewöhnliches Wasser über, wenn die hierfür erforderlichen Außen- bedingungen, die Temperaturen von o bis ioo° C, gegeben sind. Eis, Wasser und Dampf sind also nur verschiedene Zustände des chemischen Körpers H20, seine Erscheinungsformen, seine Reaktions- normen und sind als solche den oben besprochenen Modifikationen des Idioplasma vergleichbar, die bei der Entwicklung unter ver- schiedenen Systembedingungen entstehen. Der chemische Körper H20 dagegen entspricht in seiner chemischen Konstanz, die von den angegebenen Temperaturen unberührt bleibt, dem Idioplasma, das auch trotz aller Modifikationen, die es im Leben der Spezies hervorbringen kann, doch in seiner biologischen Struktur sich un- verändert erhält, wie uns die Kulturversuche der Artzellen durch mehrere Generationen unter wechselnden Bedingungen lehren. Unser Vergleich mit den chemisch-physikalischen Erscheinungen lebloser Substanzen ist auch geeignet, uns als ein weiteres Argu- ment gegen die Keimchen- und Determinantenhypothese zu dienen. Denn es läßt sich mit seiner Hilfe zeigen, wie weit sich Darwin und Weismann von der in der Naturwissenschaft üblichen Denk- weise entfernt haben. In seiner bekannten Fehde mit Spencer hat WEISMANN (1894, 1. c.) trotz der Ein würfe, die ihm von dem englischen Forscher und von mir gemacht wurden, hartnäckig an der seltsamen Behauptung festgehalten, daß die Entstehung der verschiedenen Formen eines polymorphen Tierstockes, wie z. B. eines Ameisenstaates, sich nicht anders als durch die Annahme er- klären lasse, daß im Ameisenei für sie bereits nebeneinander be- sondere stoffliche Anlagen, die Ide, vorgebildet seien, eine be- sondere Idart für die weibliche, eine andere für die männliche Ameise, eine andere für die Arbeiterin, eine andere für die Soldaten- form. Die äußeren Faktoren sollten bei der Entwicklung nur als „auslösende Reize“ in der Weise mitwirken, daß entweder das weibliche oder das männliche oder das Arbeiterinnen- oder Sol- daten-Id zur wirklichen Ausführung kommt. Das wäre etwa ebenso, Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 567 als wenn in unserem Vergleich der Physiker in das flüssige Wasser als Erklärungsgrund noch etwas Eisartiges oder etwas Dampf- artiges, das durch entsprechende Temperaturen nur zum Vorschein gebracht würde, hineinverlegen wollte. Wie sich der Physiker mit der genauen Feststellung der ursächlichen Zusammenhänge der Natur Vorgänge begnügt, in unserem Falle also mit der Erkenntnis, daß Wasser unter der Einwirkung bestimmter Temperaturen zu Eis oder zu Dampf wird, so hat auch der Biologe, gestützt auf Beobachtung und Experiment, seine Aufgabe mit der Aufklärung der ursächlichen Zusammenhänge erfüllt, durch welche die Artzelle unter wechselnden Systembedingungen bei der Entwicklung diese oder jene notwendige Erscheinungsform oder Modifikation annimmt. Hypothesen, wie sie Darwin und Weismann auf gestellt haben, stehen abseits vom naturwissenschaftlichen Denken. Zum besseren Verständnis der Entstehung der Modifikationen und ihres Verhältnisses zur Erblichkeit wird auch ein Hinweis auf die im IV. Kapitel besprochenen allgemeinen Prinzipien beitragen, nach denen aus den Artzellen die vielzelligen Organismen ent- stehen. Es ist die Potenzierung der Artzelle, es sind die Differen- zierungen und Korrelationen der von ihr während der Entwicklung abstammenden Zellgenerationen, welche je nach der Verschieden- heit der Entwicklungsbedingungen verändert werden und so zu den verschiedenen Modifikationen (Somationen) führen. Hierbei bleibt die Artzelle als erbliche Grundlage unverändert; sie reagiert nur ihrer Natur gemäß in gesetzmäßiger verschiedener Weise auf die ungleichen Entwicklungsreize. Der Erwerb von neuen Anlagen. Zum Schluß unserer Erblichkeitsstudien ist schließlich auf die vielumstrittene Frage, die in dem Schlagwort ,, Vererbung erworbe- ner Eigenschaften“ liegt, noch näher einzugehen. Daß man in früheren Zeiten, wo man sich mit den biologischen Grundlagen der Vererbung, mit dem Verlauf des Befruchtungsprozesses, mit exakten Bastardstudien, mit experimenteller Erblichkeitsanalyse in streng wissenschaftlicher Weise kaum beschäftigt hat, zu wunderlichen und jverk ehrten Vorstellungen gekommen ist, lehrt die unerfreu- liche, ältere Literatur über unseren Gegenstand. Es ist nicht nur vom Laienpublikum, sondern auch von der Wissenschaft infolge mangelnder Einsicht Mißbrauch mit dem Worte „Vererbung dieser und jener Eigenschaft“ "getrieben worden. Daß sich Weismann (1883, 1. c.) mit scharfer Kritik gegen solche Auswüchse gewandt 568 Vierzehntes Kapitel. hat, wird ihm als bleibendes Verdienst an gerechnet werden. Aber schon früh hat seine Polemik, unterstützt von vielen anderen For- schern, weit über das berechtigte Ziel hinausgeführt. Um bei der unerquicklichen Lage „des unendlich viel disku- tierten Problems“ (Lang, 1914) zu einem vorläufigen Abschluß zu kommen, scheint es mir vor allen Dingen notwendig zu sein, es von den Fesseln, in die es Weismann durch die Verknüpfung mit seinen Hypothesen der Keimplasmatheorie, der Germinalselektion und der Allmacht der Naturzüchtung geschlagen hat, wieder zu befreien und auf eine neue gesunde Basis zu stellen. Denn Weis- MANN hat die Vererbung erworbener Eigenschaften nur deswegen glatt in Abrede stellen können, weil er sich von dem Vorgang ein nach seinen Hypothesen zurechtgelegtes Bild entworfen und dann die Richtigkeit desselben auch wieder auf Grund seiner Hypothesen zu widerlegen versucht hat. Nach seinen eigenen Worten stellt sich ihm das Problem so dar (Vorträge, 1902, Bd. II, p. 71 u. 72): „Wollte man heute eine theoretische Ermöglichung der Ver- erbung erworbener Charaktere ersinnen, so müßte man annehmen, daß die Zustände sämtlicher Teile des Körpers in jedem Augenblick oder doch in jeder Lebensperiode sich in den entsprechenden An- lagen des Keimplasmas, also in den Keimzellen abspiegelten. Da nun aber die Anlagen durchaus verschieden von den Teilen selbst sind, so müßten die Anlagen in ganz anderer Weise sich verändern, als die fertigen Teile sich verändert hatten, vergleichbar etwa der stenographischen Niederschrift eines Aufsatzes in fremder Sprache.“ „Trotz dieser schier unüberwindlichen theoretischen Hindernisse haben doch verschiedene Schriftsteller den Gedanken ausgeführt, das Nervensystem, welches sämtliche Teile des Körpers mit dem Gehirn und dadurch auch unter sich in Verbindung setzt, teile diese Zustände auch den Fortpflanzungsorganen mit, so daß sehr wohl dort in den Keimzellen Veränderungen eingeleitet werden könnten, welche mit denen weit entfernter Körperteile korrespon- dieren.“ „Gesetzt nun, es wäre nachgewiesen, daß jede Keimzelle des Ovariums oder Spermariums eine Nervenfaser erhielte, was könnte ihnen anders durch den Nerven überliefert werden, als ein stärkerer oder schwächerer Nervenstrom ? Qualitative Unterschiede desselben gibt es nicht; wie also sollen die Keimesanlagen durch den Nervenstrom einzeln oder gruppenweise, und zwar korre- spondierend mit den funktionellen Abänderungen der ihnen entsprechenden Organe und Teile des Körpers beeinflußt oder gar in entsprechender Weise abgeändert werden? Oder sollen wir Der Erwerb von neuen Anlagen. 569 uns vorstellen, daß nach jeder der zahllosen Anlagen eine besondere Nervenbahn hinführt? Oder wird die Sache dadurch leichter be- greiflich, daß wir ein Keimplasma ohne Anlagen annehmen und uns vorstellen, daß nach jeder funktionellen Abänderung eines Teils auf dem Wege durch das Gehirn dem Keimplasma telegraphische Weisung zugehe, wie es seine , physikalisch-chemische Konstitution4 abzuändern habe, damit die Nachkommen doch auch etwas von dieser Verbesserung zu genießen bekommen?“ Um der Diskussion gleich von vornherein eine andere Wendung zu geben, als sie in der von WEISMANN angebahnten Richtung geführt wurde, und um einen festen wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, ist zuerst der unrichtige Ausdruck „Vererbung er- worbener Eigenschaften“ zu verbessern. Wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten, besonders aber bei Besprechung des ontogenetischen Kausalgesetzes gezeigt habe, zwingt uns die Hypothese, daß die höheren Lebewesen im Laufe der Erdgeschichte und langer Zeiträume auf natürlichem Wege aus ursprünglich sehr einfachen Lebensformen entstanden sind, zu der Annahme von zwei korrespondierenden Veränderungen im phylo- genetischen Entwicklungsprozeß. Die eine Veränderung betrifft die Artzelle ; sie erfolgt langsam, Schritt für Schritt, und verwandelt ihr Idioplasma aus einer Substanz von wenigen und einfachen An- lagen in ein immer komplizierter werdendes Gebilde. Die zweite korrespondierende Veränderung vollzieht sich dagegen bei jeder einzelnen Ontogenie dadurch, daß unter Mitwirkung zahlreicher Entwicklungsbedingungen (oder der äußeren Anlage) der aus- gewachsene, funktionierende Organismus mit seinen für uns sicht- baren Eigenschaften aus seiner Anlage zum Vorschein kommt. Wenn also überhaupt ein „Werden der Organismen“ und eine Fortentwicklung einer Art angenommen werden soll, so kann dies nach dem ontogenetischen Kausalgesetz in gar keiner anderen Weise vorgestellt werden, als daß die Artzelle fortwährend, wenn auch sehr langsam, aus irgendwelchen Ursachen zum alten Stamm ihrer Anlagen neue hinzuerwirbt. Ihre Vererbung erscheint unter diesem Gesichtspunkt als etwas Selbstverständliches. Nur wird es jetzt empfehlenswert, um von vornherein Mißverständnissen vor- zubeugen, an Stelle des schlecht gewählten Ausdrucks „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gleich die richtige und nicht mehr mißverständliche Fassung „Vererbung erworbener Anlagen“ zu setzen. Das bedeutet aber etwas wesentlich anderes und schafft 570 Vierzehntes Kapitel. gleich eine viel klarere Sachlage für die weitere Diskussion. Denn bei der neuen Fassung ist es selbstverständlich, daß, wenn die Art- zelle in ihrem Anlagebestand verändert ist, es auch einen für uns sichtbaren Ausdruck in einer Veränderung der Merkmale und Eigen- schaften des aus ihr entwickelten Organismus finden muß. Wenn es sich aber so verhält, dann ist einzig und allein die Frage, wie die Artzelle in ihrem Idioplasma neue Anlagen, die in einem späteren Außenmerkmal des Organismus für uns sichtbar werden, erwirbt, das große Problem, welches seit der Begründung der Präformation die Naturwissenschaften immer wieder von neuem beschäftigt. Auf die hier liegenden Schwierigkeiten sei jetzt noch etwas näher eingegangen im Anschluß an das IX. Kapitel, welches bereits über die Mutabilität der Artzellen gehandelt hat. Wir haben dort durch Beobachtung und Experiment zwei ver- schiedene Wege, um die Beschaffenheit des Idioplasma zu ver- ändern, kennen gelernt. Der eine Weg ist die Kombination zweier in ihren Anlagen (Genen) verschiedener Idioplasmen durch Bastard- zeugung zwischen Vertretern von zwei LlNNEschen oder zwei elementaren Arten, von zwei Varietäten oder zwei reinen Linien. Da wir uns mit ihren Ergebnissen schon auf S. 348 — 353 ausführ- lich beschäftigt haben, braucht auf diese Seite der Erwerbung neuer Anlagen durch Kreuzung ungleich beanlagter Stammeltern und auf die Folgen der Kreuzungen in den Generationen F1 — Fn nicht weiter eingegangen zu werden. Ein Hinweis auf das früher Gesagte genügt, sowie auch darauf, daß auf diesem Wege zahlreiche neue Arten entstehen können, die wir, da sie voneinander nur Unter- schiede geringen Grades darbieten, als die MENDELschen Arten, im Gegensatz zu den LlNNEschen , im VII. Kapitel bezeichnet haben. Da erfahrungsgemäß eine Kreuzung, welche fruchtbare Nach- kommen liefert, nur zwischen sehr nahe verwandten Lebewesen möglich ist, liegt es auf der Hand, daß sie für die Entehung der sehr großen Unterschiede zwischen den einfachsten und den voll- kommensten Arten der gegenwärtigen Organismenwelt nur von geringer Bedeutung gewesen sein kann. Denn wenn die Ver- änderung des Idioplasma durch Kombination auch unter Umständen einen großen Reichtum von Zwischenformen schaffen kann, so wirkt sie doch nur ausgleichend zwischen zwei Rassen oder zwei LlNNE- schen Arten, kann aber selbst nicht in größerem Maßstab schöpferisch sein und kann vollends nicht für die Stammesentwicklung der jetzt Der Erwerb von neuen Anlagen. 571 lebenden vollkommensten Repräsentanten der Organismenwelt aus allereinfachsten Vorfahren zur Erklärung benutzt werden. Erheblichere Fortschritte in der Vervollkommnung der Organi- sation der Lebewesen können nur durch die Entstehung wirklich neuer Anlagen in der Artzelle unter Mitwirkung äußerer Faktoren hervorgerufen werden. Dies führt uns zu dem zweiten der oben bezeichneten Wege, zur Mutation des Idioplasma. Da wir uns auf S.355 — 372 bereits mit dem Tatsachenmaterial, mit dem zufälligen Auftreten, mit der experimentellen Erzeugung und Bedeutung der Mutationen im Gegensatz zu den Modifikationen bekannt gemacht haben, kann es sich jetzt nur noch um die Verwertbarkeit für die Erblichkeitslehre und die mit ihr zusammenhängenden strittigen Fragen handeln. Die ungeheuren Schwierigkeiten, die mit der Vorstellbarkeit des Vererbungsprozesses für uns infolge unseres beschränkten Er- kenntnisvermögens verknüpft sind, haben gegenwärtig noch eine besondere Steigerung durch Hypothesen erfahren, die das natur- wissenschaftliche Denken in eine einseitige, durch Vorurteile ein- gezäunte Bahn gelenkt haben. Es sind die Hypothesen der Pan- genesis von Darwin, noch mehr aber die Hypothesen Weis- manns über die Architektur des Keimplasma und die Rolle, die es bei der Entwicklung und Vererbung spielt, wobei dann die alte Präformations- und Einschachtelungslehre in einem etwas ver- änderten Kleid wieder eine Auferstehung erlebt hat. Eine Folge davon ist die schon bei Galton und NüSSBAUM zum ersten- mal auftauchende Meinung, daß die Keimzellen und der sie bergende Körper des Organismus (das Soma) gleichsam zwei voneinander unabhängige Wesen sind. Das Keimplasma — lehrt dementsprechend Weismann — sondert sich von früh an in zwei voneinander un- abhängige Teile, die sich selbständig weiter entwickeln, in einen Hauptteil, aus dem sich der Körper (Soma) aufbaut und in einen Rest, der wieder die Keimzellen des neuen Organismus liefert. Da er sich nun infolgedessen keinen Modus vorstellen kann, wie neu- erworbene Eigenschaften des Soma auf das Idioplasma der Keim- zellen übertragen werden können, folgert er die „Nichtvererb- barkeit erworbener Charaktere“ als eine ihm feststehende Tatsache. Für uns, die wir die Voraussetzung nicht anerkennen, fällt auch die daraus gezogene Folgerung. Daher sind die Keimzellen für uns wie alle anderen Arten von Gewebszellen nur für besondere Zwecke differenzierte und integrierte Teile des Organismus und 572 Vierzehntes Kapitel. werden in ihrer Beschaffenheit nicht nur von ihren unendlich ver- wickelten, gegenseitigen Beziehungen, sondern ebenso auch durch ihre Abhängigkeit vom Ganzen, von dem sie Teile sind, beeinflußt. Es sind dies Fragen, die uns im vierten Kapitel, soweit sie sich an äußerlich wahrnehmbaren Merkmalen erörtern lassen, schon zum Teil beschäftigt haben. Freilich müssen wir uns zurzeit bescheiden und dürfen uns der Erkenntnis nicht verschließen, daß wir noch weit entfernt sind, in das hier herrschende Kräftespiel, in die Dyna- mik eines lebenden vielzelligen Organismus einen Einblick zu be- sitzen, ja kaum noch einen Weg zu diesem Ziel erblicken. Trotz- dem brauchen wir auch im vollen Bewußtsein von der Unzuläng- lichkeit unseres gegenwärtigen Wissens nicht auf die Hoffnung zu verzichten, in Zukunft noch jetzt ungeahnte Fortschritte zu er- zielen. Sind wir hierzu nicht durch die naheliegende Überlegung be- rechtigt, daß wir auf unorganischem Gebiet in unserem Jahrhundert mit den wunderbarsten Kraftübertragungen und Energieumwand- lungen durch verhältnismäßig einfache, chemisch-physikalische Mittel bekannt geworden sind? Auf einer chemisch hergerichteten Glas- platte können wir uns naturgetreue Bilder von Personen und Land- schaften, selbst in verschiedenen Farben, verschaffen und sie dann wieder in einfacher Weise und nach verschiedenen Methoden un- zählige Male vervielfältigen; mittels einer mitschwingenden Membran und einer an ihr angebrachten Übertragungsvorrichtung können wir das Lied einer Sängerin oder die Töne eines aus vielen In- strumenten zusammengesetzten Orchesters auf eine präparierte Wachsplatte als Engramm übertragen und von dieser wieder durch den Phonographen beliebig oft und nach Jahren in einer so großen Vollendung reproduzieren, daß die Illusion, am Konzert teilzunehmen, in uns wachgerufen werden kann. Mittels des Telephons kann das in einer Stadt gesprochene Wort auf weite Entfernungen durch einen feinen Kupferdraht fortgeleit£t und am anderen Orte durch eine schwingende Membran wieder so deutlich reproduziert werden, daß wir mit dem weit entfernten Bekannten' ein Gespräch führen und selbst den Ton seiner Stimme unterscheiden können. Wenn wir so sehen, wie durch relativ einfache Stoffe der un- belebten Natur, durch einen Kupferdraht, eine chemisch präparierte Glasplatte, eine Wachstafel, die kompliziertesten Verhältnisse: ein Konzertstück, das Lied einer Sängerin, eine Landschaft, eine mensch- liche Figur mit ihrem Gesichtsausdruck entweder bloß übermittelt (Telephon) oder dauernd als Engramm festgehalten und in diesem Der Erwerb von neuen Anlagen. 573 Fall durch geeignete Vorkehrungen beliebig oft reproduziert werden können (Phonograph, photographische Platte), liegt es dann nicht nahe, zur Erklärung der Erblichkeit ein noch höher und feiner ausgebildetes Reproduktionsvermögen auch bei der am höchsten organisierten Substanz der Natur, dem lebendigen Organismus der Zelle, anzunehmen ? Demnach läßt sich im Gegensatz zur Pangenesis von DARWIN und zur Lehre Weismanns von der Architektur des Keimplasmas und der Germinalselektion unsere Ansicht jetzt in die These zu- sammenfassen : Veränderungen, die durch äußere Faktoren während des individuellen Lebens in den Funktionen eines oder mehrerer Organe hervorgerufen werden und in ihrer Form und Struktur einen sichtbaren Ausdruck finden, haben, wenn sie von längerer Dauer sind, auch Veränderungen in allen einzelnen Zellen des Organismus zur Folge, und zwar besonders in jener Substanz, welche wir als die Trägerin der Arteigen schäften, als das Kern-Idioplasma bezeichnet haben. Neuerworbene Zustände des zusammengesetzten Organismus werden so in Arteigenschaften der Zelle, in ein anderes materielles System umgesetzt. Die Erbmasse des Organismus wird um ein neues Glied, eine neue Anlage bereichert, welche sich bei der Entwicklung der nächsten Generation wieder manifestiert, indem das neuentstehende Individuum jetzt schon „vom Keim aus“ oder aus inneren Ursachen, die von den Eltern im individuellen Leben, im Verkehr mit der Außenwelt, erworbenen Eigenschaften mehr oder minder reproduziert. Auf dieser Grundlage ist auch das im fünften Kapitel besprochene ontogenetische Kausalgesetz aufgebaut, welches in seiner Vereinigung epigenetischer und präformistischer Prinzipien zur Theorie der Biogenesis überleitet. Nach unserer Beurteilung der Gesamterscheinungen der Bio- logie muß die Zelle ein auf das feinste abgestuftes Reaktionsver- mögen für alle Vorgänge haben, die sich teils im Innern eines viel- zelligen Organismus abspielen, teils auch als Umweltsfaktoren auf sie einwirken. Wir stehen hier wohl vor Problemen der Natur- forschung, deren mechanische Erklärung wir gegenwärtig um so weniger erhoffen können, als schon die jedenfalls viel einfachere Erklärung der chemischen Affinität für den Physiker eine kaum angreifbare Aufgabe darstellt. Dagegen fußen wir mit unserer Anschauung auf einer festen, logischen Grundlage, auf dem Satz, daß als integrierter Bestandteil eines Organismus jede Zelle, also auch die Keimzelle jeder Art, an seinem Lebens- prozeß in irgendeiner Weise teilnehmen muß, gleichwie in 574 Vierzehntes Kapitel. einem einfacheren mechanischen System ein jeder Teil von den Veränderungen des Ganzen betroffen wird. In seiner mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungs- lehre nimmt schon NäGELI an, daß die zum Idioplasma organisierten Eiweißkörper ein Bild ihrer eigenen lokalen Veränderung nach anderen Stellen im Organismus führen und dort eine mit dem Bilde übereinstimmende Veränderung bewirken. „Jede Veränderung, die das Idioplasma an irgendeiner Stelle erfährt“, bemerkt er, „wird überall wahrgenommen und in entsprechender Weise verwertet. Wir müssen sogar annehmen, daß schon der Reiz, der lokal ein- wirkt, sofort überallhin telegraphiert werde und überall die gleiche Wirkung habe; denn es findet eine stete Ausgleichung der idio- plasmatischen Spannungs- und Bewegungszustände statt. Diese fortwährende und allseitige Fühlung, welche das Idioplasma unter- hält, erklärt den sonst auffallenden Umstand, daß dasselbe trotz der so ungleichartigen Ernährungs- und Reizeinflüsse, denen es in den verschiedenen Teilen eines Organismus ausgesetzt ist, doch sich überall vollkommen gleich entwickelt und gleich verändert, wie wir namentlich aus dem Umstande ersehen, daß die Zellen der Wurzel, des Stammes und des Blattes ganz dieselben Individuen hervor- bringen“ (1. c. p. 59). „Das Idioplasma in einem beliebigen Teil des Organismns erhält Kunde von dem, was in den übrigen Teilen vorgeht. Dies ist dann möglich, w^enn seine Veränderungen und Stimmungen auf materiellem und dynamischem Wege überallhin mitgeteilt werden.“ Und an dritter Stelle heißt es: „Die von außen kommenden Reize treffen den Organismus gewöhnlich an einer bestimmten Stelle; sie bewirken aber nicht bloß eine lokale Um- änderung des Idioplasma, sondern pflanzen sich auf dynamischem Wege auf das gesamte Idioplasma, welches durch das ganze Indi- viduum sich in ununterbrochener Verbindung befindet, fort und ver- ändern es überall in der nämlichen Weise, so daß die irgendwo sich ablösenden Keime jene lokalen Reizwirkungen empfunden haben und ererben.“ Im Sinne unseres ontogenetischen Kausalgesetzes können wir das Verhältnis auch in der Weise ausdrücken . Der Lebensprozeß jeder einzelnen Zelle muß unter den verschiedenartigsten Ein- wirkungen, denen er unterliegt, auf das Gesamtleben des Organis- mus, an dem er teilnimmt, gleichsam abgestimmt sein und bleibt es auch dann, wenn die einzelnen Zellen durch Arbeitsteilung und Differenzierung spezielle Leistungen ausgebildet haben, wras doch auch nur im Dienste des Ganzen und in Beziehung zu ihm ge- 575 Der Erwerb von neuen Anlagen. schehen ist. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, kann jede einem bestimmten Organismus zugehörige einzelne Zelle als der einfachste Repräsentant seiner Eigenart bezeichnet werden; sie kann, wenn sonst die hierfür notwendigen Bedingungen noch erfüllt sind, auch abgetrennt vom Ganzen, durch ihr Wachstum wieder dasselbe reproduzieren oder wieder zum Ausgangspunkt eines Lebenspro- zesses derselben Art werden, an dem sie früher teilgenommen hat. Insofern ist die Keimzelle auch die präformierte Anlage für die nächste Generation, welche durch ihre Vermittlung gleichsam das von der vorausgegangenen Generation überlieferte Erbe antritt. So wunderbar uns nun auch das Vermögen der Erblichkeit im Organismenreich von seinen einfachsten Formen bei den Ein- zelligen bis zu den höchsten Tieren erscheinen mag, so gibt es doch einen Prozeß in der Physiologie, der uns, aus innerer Er- fahrung bekannt, die weitgehendsten Analogien darbietet und so gleichsam zu Vergleichen auffordert. Es ist die für unser wissen- schaftliches Verständnis nicht minder rätselhafte Gabe des Ge- dächtnisses. Nach dem von Fechner auf gestellten Funktionsprinzip besitzt unsere Hirnsubstanz das Vermögen, Zustände der Außenwelt, die ihr auf den verschiedensten Wegen durch Sinnesorgane für che- mische, photische, mechanische, akustische, thermische Reize in Bildern, Tönen und anderen Empfindungen zugetragen werden, in das ihr eigene, aus Ganglienzellen und Nervenfibrillen zusammen- gesetzte, materielle System aufzunehmen und auf unbekannte Weise in ihm durch Zeichen (Engramme) festzuhalten. Diese können dann für kürzere oder längere Zeit unter der Schwelle des Bewußtseins in uns fortbestehen, bis sie gelegentlich entweder durch einen äußeren Anstoß oder aus inneren Ursachen wieder reproduziert werden, als Erinnerungsbilder auftauchen und als Grundlage für andere kom- plizierte psychophysische Prozesse unseres Denkens und Wollens dienen. Schon im Jahre 1870 hat der berühmte Physiologe Hering diesen Gedanken in einem geistreichen Vortrag in der Wiener Akademie: „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ näher ausgeführt und ‘zur Erklärung des Ver- mögens der Erblichkeit zu verwerten gesucht. Auf Herings in Vergessenheit geratenen Versuch habe ich wieder 1898 die Auf- merksamkeit gelenkt in meiner Allgemeinen Anatomie und Physio- ogie, die in späteren Auflagen unter dem Titel der Allgemeinen Biologie erschienen ist. Ich nahm hierbei den Standpunkt ein, daß 576 Vierzehntes Kapitel. sich in der Tat interessante Analogien zwischen den Erscheinungen der Erblichkeit und des Gedächtnisses erkennen und zum besseren Verständnis des schwierigen Problems verwerten lassen. Den HERiNGschen Gedanken hat darauf R. Semon 1904 in scharf- sinniger Weise weiter durchzuführen und zu vertiefen gesucht in seinem Buch: „Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens “ 1). Bei aller Anerkennung der Berechtigung des HERiNGschen Er- klärungsversuches habe ich indessen von Anfang an nicht unter- lassen, auch darauf aufmerksam zu machen, daß man sich hüten müsse, in gewissen Übereinstimmungen, die ein Vergleich zwischen den wunderbaren Eigenschaften des Idioplasma und den nicht minder wunderbaren Eigenschaften der Hirnsubstanz aufdeckt, mehr als eine Analogie erblicken zu wollen. Daß diese Analogie keine Identität ist, fügte ich hinzu, brauche für den Einsichtigen kaum bemerkt zu werden. Auch jetzt noch bin ich dieser Ansicht. Denn wie die mate- riellen Grundlagen des Gedächtnisses und der Erblichkeit, nämlich die Hirnsubstanz und das Idioplasma, verschieden sind, so auch die in beiden ablaufenden Prozesse. Von Gedächtnis spricht man in der Physiologie und Psychologie doch nur bei Organismen mit einem schon hochentwickelten Nervensystem und nimmt zugleich an, daß es an die Entwicklung des Großhirns gebunden ist. Daß Pflanzen oder die einzelligen Infusorien, Algen und Pilze ein Ge- dächtnis haben, wird kaum jemand behaupten, oder er gibt von vornherein dem Begriff „Gedächtnis“ eine viel weitere Fassung, als es in der Physiologie üblich ist. Das Vermögen der Erblich- keit kommt aber allen Organismen und jeder Zelle zu. Daher kann ich im allgemeinen auch nicht empfehlen, daß für die Hirnphäno- mene gebrauchte Wort „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ auf das Vermögen der Erbmasse, Reihen von Zuständen festzuhalten und wieder zu reproduzieren, einfach zu übertragen. Es scheint mir richtiger, anstatt dessen den Begriff „Reproduktionsvermögen“ für die Erscheinungen der Erblichkeit zu verwenden. Dagegen halte ich den Vergleich für außerordentlich lehrreich, weil er uns auf Eigenschaften der organisierten Substanz hinweist, von denen uns 1) Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Almanach d. Kais. Akad. d. Wissensch., 20. Jahrg., Wien 1870. — Fechner, Elemente der Psychophysik, 2. Aufl., 1889. — Hertwig , Oscar , Die Zelle und die Gewebe, Bd. II, 1898, p. 342 — 250. — Derselbe , Allgemeine Biologie, 4- Aufl., 1912, Kap. 28. — Semon, Richard , Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens , Leipzig 1904, Aufl., 1908. Der Erwerb von neuen Anlagen. 577 die anatomisch - physiologische Untersuchung nichts lehren kann, von denen uns aber die Psychologie durch das Studium unserer eigenen Bewußtseinsvorgänge Kunde gibt. Die beim Gedächtnis und bei der Erblichkeit sich abspielenden Vorgänge fallen unter den allgemeinen Begriff der Reproduktion. Insofern zeigen sie eine Reihe von Übereinstimmungen und lassen sich unter eine allgemeinste Formel bringen, wenn wir sagen: Äußere Ursachen (Originalreize Semons) üben auf ein zusammengesetztes organisches System Wirkungen aus, die als materielle Veränderungen irgendeiner Art als „Engramme“ {Semon) in ihm auf bewahrt und zu inneren Ursachen werden, die sich in der Folge wieder in abgeleiteten Wirkungen innerhalb des Systems manifestieren und zu ihrer Erklärung herangezogen werden müssen. Bei dieser Übereinstimmung zwischen dem Gedächtnis und dem Vermögen der Erblichkeit handelt es sich aber — was nicht aus dem Auge verloren werden darf — keineswegs um eine wirkliche Identität. Denn die miteinander verglichenen Prozesse laufen — abgesehen davon, daß sie auch sonst Verschiedenheiten darbieten, — schon an einem wesentlich anders beschaffenen orga- nischen Substrat ab, die einen an einem System von Ganglienzellen und Nervenfibrillen und den dazu gehörigen Sinnesorganen, welche die Originalreize zuleiten, die anderen dagegen an dem reizbaren Idioplasma der Zelle. Wenn also ein Erinnerungsbild an Ereignisse, die längst abgelaufen sind und jetzt nicht mehr unmittelbar auf uns wirken können, trotzdem aus inneren Ursachen von der Hirn- substanz reproduziert wird, so offenbart sich uns darin die Macht des Gedächtnisses oder des an das Vorhandensein eines Nerven- systems gebundenen Erinnerungsvermögens der organischen Sub- stanz. Wenn dagegen embryonale Prozesse aus inneren Ursachen, die auf der eigentümlichen, im Laufe der Stammesgeschichte lang- sam erworbenen Organisation der Erbmasse beruhen, in zweck- mäßiger Weise Organe schaffen, die, wie Auge und Ohr, für äußere, erst später eintretende Einwirkungen im voraus berechnet sind, so offenbart sich uns darin das Wesen der Vererbung, jener Fähig- keit der organisierten Substanz, häufig wiederkehrende Einwir- kungen der Umwelt durch molekulare Veränderungen in ihr System aufzunehmen und so in eine Anlage umzuwandeln, bereit, sich bei Gelegenheit zu entfalten, gleichwie das im Gedächtnis der Hirnsubstanz aufbewahrte Erinnerungsbild wieder lebendig werden kann. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufi. 37 578 Vierzehntes Kapitel. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Während der Ent- wicklung einer Artzelle nehmen die sich bildenden Teile schon lange Zeit vor ihrem Gebrauch diese und jene für besondere Ge- brauchsweisen berechneten Formen an, weil diese im Laufe der Stammesgeschichte von den vorausgegangenen Generationsreihen allmählich erworben und als Engramme nach der Sprechweise von Semon in dem materiellen System der Erbmasse festgehalten worden sind. Zurzeit sind wohl alle Versuche als aussichtslos zu betrachten, eine Struktur und einen Mechanismus der organisierten Substanz auszuklügeln, vermöge deren sich die Erscheinungen des Gedächt- nisses und die Erscheinungen der Vererbung mechanisch erklären lassen. Wenn wir auch in den feineren Bau des Gehirns, in die Form und Verbindung der Ganglienzellen durch Nervenfibrillen und in die Anordnung der letzteren zu Leitungsbahnen schon tiefer eingedrungen sind, so bleibt es uns gleichwohl ein Rätsel, wie in diesem materiellen Substrat Eindrücke der Außenwelt in Zeichen festgehalten und nach langer Zeit wieder als Erinnerungs- bilder reproduziert werden können; es bleibt uns unerklärlich, wie im Gedächtnis eines Klavierspielers sich in Blitzeseile Akkord an Akkord anschließt und gleichzeitig durch Willensimpulse Muskel- gruppen der Hand zu den kompliziertesten Bewegungen in rascher und absolut sicherer Folge veranlaßt werden. Noch mehr ist es unmöglich, sich von der feineren Organisation des Idioplasma, da sie ganz dem unsichtbaren Molekulargebiet an- gehört, eine irgendwie begründete Vorstellung zu machen, wie es Weismann durch eine erkünstelte und mit willkürlichen und falschen Annahmen konstruierte Determinantenlehre getan hat. Ich stehe hier auf demselben Standpunkt, den Nernst bei ähnlichen Problemen der theoretischen physikalischen Chemie eingenommen hat (S. 49), und halte die über sie angestellten Spekulationen für verfrüht. Es ist genug, wenn wir annehmen, daß das Idioplasma eine sehr kompli- zierte molekulare Organisation besitzt und sich aus zahllosen kleinsten, mit Wachstum und Teilbarkeit ausgestatteten lebenden Teilkörperchen zusammensetzt, daß es ferner auch in physiologischer Beziehung eine sehr reizbare Substanz ist, die auf die verschieden- artigsten Reize in feinsten Abstufungen zu reagieren befähigt ist. Wer darüber hinaus sich noch detailliertere Vorstellungen über ihren Bau und ihre Wirkungsweisen zu bilden versucht, scheint mir Gefahr zu laufen, den festen Grund und Boden der Naturwissen- schaft ganz zu verlieren. Der Erwerb von neuen Anlagen. 579 Weniger schwierig ist es dagegen, wenigstens prinzipiell zu verstehen, daß die in der Erbmasse vorhandenen Anlagen sich zeitlich in einer gewissen Reihenfolge entfalten müssen. Denn hier bietet uns der Entwicklungsprozeß selbst einen Anhalt, indem er lehrt, daß sich * die Anlagen in demselben Maße entfalten, als die Anlagesubstanz durch Vermehrung der Zellen, durch Potenzierung der Anlage (man vergl. hierüber Kap. IV) wächst. Denn hierdurch werden die einzelnen Zellen zueinander und zu ihrer äußeren Um- gebung in neue Bedingungen gebracht, durch welche die in ihnen latenten Anlagen geweckt werden. Es werden durch das mit Vermeh- rung der Zellen einhergehende Wachstum immer neue Zustände in derselben Reihenfolge geschaffen, wie sie in der Stammesgeschichte entstanden sind. Die im Laufe der Entwicklung eintretende morpho- logische und histologische Sonderung wird daher durch den morpho- logischen Ort bestimmt, den die Zellen an der zusammengesetzten Lebenseinheit infolge ihres Wachstums einnehmen; sie ist daher, wie man kurz sagen kann, „eine Funktion des Orts“ (VÖCHTING, Driesch). In demselben Sinne hat auch Nägeli bemerkt: „Mit dem wichtigen Umstand, daß die idioplasmatischen Anlagen in der- selben Folge zur Verwirklichung kommen, in der sie entstanden sind, steht der andere, vielleicht nicht minder bemerken werte Um- stand in Verbindung, daß das Idioplasma bei der ontogenetischen Entwicklung sich sukzessive in anderer morphologischer, teilweise auch in anderer physiologischer Umgebung befindet, und zwar je- weilen in derjenigen Umgebung, welche mit jener analog ist, in der die Anlage, die sich zunächst entfalten soll, entstanden ist. Es ist aber selbstverständlich, daß die Beschaffenheit der umgebenden Substanz nicht ohne Einfluß auf die Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen sein kann.“ Mit den vorausgeschickten Betrachtungen ist die Biologie nach meiner Ansicht schon bis an die äußersten Grenzen der für naturwissenschaftliche Forschung zulässigen Spekulation vorge- drungen. Was uns zurzeit auf dem Gebiet der Erblichkeitslehre not tut, sind nicht willkürlich zurechtgelegte Hypothesen, die oft wie Eintagsfliegen vergehen, sondern sorgfältig ausgeführte Be- obachtungen und vor allen Dingen an geeigneten Objekten kritisch an gestellte Experimente. Noch sind dieselben spärlich. Aber der Anfang ist gemacht; und so wird auch der weitere Erfolg auf dem betretenen Weg nicht ausbleiben! 37 Fünfzehntes Kapitel. Die Geschichte der Deszendenztheorien. Lamarckismus und Darwinismus 1). Wie uns die historische Einleitung im I. Kapitel gezeigt hatte, haben sich hervorragende Naturforscher und Philosophen schon lange Zeit vor Lamarck und Darwin mit der Frage nach der Entstehung der Organismen beschäftigt. Die alten Evolution isten sowohl wie die Anhänger der Epigenesis und die Vertreter der Panspermie konzentrierten hierbei ihr Augenmerk mehr auf die eine Seite des Problems, welche die Entstehung der Tochter- aus den Mutter Organismen, also die Gestaltung des Individuums aus den ZeugungsstofFen, betrifft. Indessen gibt es neben diesem onto- genetischen Problem, wie man es nach Haeckels Terminologie bezeichnen kann, noch ein zweites, das phylogenetische Problem. Es handelt von der natürlichen Entstehung des Pflanzen- und Tier- reichs im Verlaufe der Erdgeschichte oder, wie es Darwin aus- gedrückt hat, von der „Entstehung der Arten“. Durch dasselbe ist zu erklären, wie die unzähligen Lebewesen, die jetzt in den ver- 1) Lamarck, , Jean , Zoologische Philosophie. Nebst einer biographischen Ein- leitung von Ch. Martins. Übersetzt von A. Lang , Jena 1876. — Darwin , Charles, On the origin of species by means of natural selection, London 1859. Zitate aus der 5. Aufl. der deutschen Übersetzung: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein, 1872. — Derselbe, The Variation of animals and plants und er dornest ication, London 1868. Zitate aus der 2. Aufl. der deutschen Übersetzung : Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation, Bd. I u. II, 1873. — Der selbe , The descent of man and selection in relation io sex, 1871. Zitate aus der 2. Aufl. der deutschen Übersetzung: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht- wahl, Bd. I u. II, 1871. — Haeckel, Ernst, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. I u. II, Berlin 1866. — Derselbe , Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1868, 10. Aufl., 1902. — Derselbe , Anthrop o g enie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen, 1874, 5. Aufl., 1903. — Spencer, Herbert, Die Prinztpien der Biologie. Übersetzt von Vetter , Bd. I u. II, 1876, 1877. — Nägeli, Carl, Mechanischphysio- logische Theorie der Abstammungslehre , München 1894. — Hertwig, Richard, Die Abstammungslehre. In: Die Kultur der Gegenwart. Organische Naturwissenschaft. Bd. IV, 1914. — Weismann, Aug., Die Allmacht der Natur Züchtung. Eine Er- widerung an Herbert Spencer, Jena 1898. — Derselbe, Die Selektionstheorie, Jena 1909. Lamarckismus und Darwinismus. 581 schiedensten Arten Erde und Wasser bevölkern, aus natürlichen Ursachen sich im Laufe der Zeiten gebildet und ihre besondere Stellung im Haushalt der Natur eingenommen haben. Es liegt klar auf der Hand, daß beide Probleme sich methodo- logisch nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Die Onto- genie der Organismen ist einer direkten naturwissenschaftlichen Untersuchung mit ihren exakten Methoden zugänglich; sie spielt sich tagtäglich bei jeder Organismenart vor unseren Augen ab. Sie kann jederzeit zum Gegenstand mikroskopisch-anatomischer, chemischer, physikalischer Analysen gemacht werden. In der Tat ist hier in einem Jahrhundert emsiger wissenschaftlicher Arbeit auf solider Grundlage ein imposantes Lehrgebäude aufgeführt worden, welches eine Fülle reicher und gesicherter Naturerkenntnis birgt. Die Stammesgeschichte der Organismen oder ihre Phy logen ie dagegen ist in dieser Weise einer naturwissenschaftlichen, direkten Untersuchung nicht zugänglich. Denn wie die Vorfahrenketten der jetzt lebenden Organismen nicht mehr existieren, so sind des- gleichen auch alle Naturprozesse, durch welche sie entstanden sind, die inneren und äußeren Bedingungen abgelaufen, deren Kenntnis zum ursächlichen Verständnis aller biologischen Entwicklungsprozesse unerläßlich ist. Das Studium der Stammesgeschichte kann daher selbstverständlicher "weise nur ein natur- historisches und ein naturphilosophisches sein. In der ersten Beziehung erstreckt es sich auf die Urkunden, die als Reste ausgestorbener Lebewesen durch die paläontologische Forschung in unsere Hände gelangen. Es gleicht hierin der Geschichts- forschung, wenn sie die auf unsere Zeit gekommenen Überliefe- rungen verschiedenster Art, Darstellungen alter Schriftsteller, Denk- mäler, Münzen, Steininschriften, Hieroglyphen, Keilschriften etc. benutzt, um uns ein Bild von früheren Staatsaktionen und von dem Leben der alten Völker zu geben. Bei einem Vergleich dieser Urkunden der einen und der anderen Forschungsrichtung ist aber nicht zu verkennen, daß die Geschichtsforschung, soweit sie nicht zu weit in die Vorzeit einzudringen versucht, über ein ungleich besseres und sichereres Quellenmaterial verfügt, als die Paläontologie. Denn wenn uns diese eine teilweise Vorstellung von Lebensformen gibt, die in einer für unsere Begriffe unendlich weit zurückgelegenen Zeit, während der Kreide-, der Juraformation etc. gelebt haben, so sind es doch nur kümmerliche Reste ; denn sie betreffen meist nur das für den Lebensprozeß am wenigsten wichtige Organsystem, das Knochen- und Schalengerüst. Dazu fehlt uns noch jede Möglich- Fünfzehntes Kapitel. 582 keit eines Nachweises, daß überhaupt ein genealogischer Zusammen- hang zwischen den heutigen Lebewesen und den fossilen Resten besteht. Kann doch die Deszendenz der letzteren auch im Laufe der Jahrtausende, wie wir es bei menschlichen Familien erleben, ausgestorben sein. Das ist eine Möglichkeit, mit der in jedem Falle immerhin gerechnet werden muß. Im Vergleich zum naturhistorischen ist das naturphilosophische Studium der Stammesgeschichte umfassender und ergebnisreicher. Denn gestützt auf die gesamten Kenntnisse, welche wir von der Ontogenie, vergleichenden Anatomie und Systematik der lebenden Organismen, von ihrer Physiologie und Biologie durch Beobach- tung und Experimente auf streng naturwissenschaftlichem Wege gewonnen haben, versucht der Forscher, die ihnen zugrunde liegen- den Gesetzmäßigkeiten in jeder Richtung festzustellen, und dann benutzt er wieder die so gewonnenen Einsichten in die Natur der Lebewesen, um deduktiv sich ein Bild von ihrer Entwicklung im Laufe der Erdgeschichte zu entwerfen. Das Verfahren ist somit im Grunde dasselbe, welches den Naturphilosophen in der Astro- nomie zur Konstruktion einer Kosmogonie geführt hat, zu einer Welten entstehung, die nur aus den uns bekannten astronomischen Gesetzen gefolgert wird. Nur darin besteht eine Verschiedenheit, daß die biologischen Gesetzmäßigkeiten komplizierter, verschieden- artiger, noch weniger durchforscht und vor allen Dingen nicht in mathematische Formeln zusammenfaßbar sind, wie die astro- nomisch-mechanischen. Das Studium der Phylogenie kann daher seinem ganzen Wesen nach nur zu sehr hypothetischen Vorstellungen von der natürlichen Entstehung der Organismenwelt im Laufe der Erdgeschichte führen; es nimmt dadurch im System der Wissen- schaften eine ganz andere Stellung als alle übrigen biologischen Disziplinen ein, die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden be- arbeiten lassen und daher uns ein auf wirklicher Erfahrung be- ruhendes Wissen verschaffen. Mit dem phylogenetischen Problem haben sich schon die naturphilosophischen Richtungen in der Biologie am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Ich erwähne nur Oken, der in seiner Naturphilosophie die Lehre vom Urschleim aufstellte und die Pflanzen und Tiere des Landes von Organismen des Meeres ableitete, oder Kielmeyer, der die höheren Tiere in ihrer Entwicklung die Stufen des Tierreichs durchlaufen ließ, oder Goethe, der über die Metamorphosen der Pflanzen und Tiere schrieb. Wie in Deutschland, philosophierten gleichzeitig über die Lamarckismus und Darwinismus. 583 Entstehung der Organismenwelt in Frankreich Lamarck und G. St. Hilaire und in England Erasmus Darwin, der berühmte Großvater seines noch berühmteren Enkels. Unter diesen Forschern ragen an allgemeiner Bedeutung La- marck und Charles Darwin ohne Frage weit hervor und be- herrschen durch die von ihnen formulierten Ideen, die in mancher Beziehung in einem schroffen, wenn auch erst später schärfer hervor- tretenden Gegensatz zueinander stehen, noch auf das nachhaltigste die biologische Forschung der Gegenwart. Lamarckismus und Darwinismus sind zwei Schlagworte geworden, unter denen man zwei entgegengesetzte und sich in vielen Punkten bekämpfende Richtungen in der wissenschaftlichen Behandlung des phylogene- tischen Problems bezeichnet. Ehe ich auf die Streitfragen, auf meine Stellung zu ihnen und auf meine Auffassung von der natür- lichen Entwicklung der Organismen weit ein gehe, schicke ich eine Skizze der Lehren von Lamarck und von Charles Darwin, so- wie von ihren bedeutendsten Anhängern voraus, in derselben Weise, wie ich im I. Kapitel eine kurze Darstellung von der Theorie der Präformation, der Epi genese und der Panspermie gegeben habe. I. Die Lehre von Lamarck. In seiner 1809 erschienenen Philosophie zoologique hat Lamarck in voller Klarheit den Grundsatz aufgestellt und durch Beweise zu stützen gesucht, „daß alle Organismen unseres Erdkörpers wahre Naturerzeugnisse sind, welche die Natur ununterbrochen seit langer Zeit hervorgebracht hat“ (p. 30). „Die Natur hat mit den unvoll- kommensten oder einfachsten begonnen und mit den vollkommen- sten aufgehört“ (p. 138). Sie hat die einfachsten durch Urzeugung aus lebloser Materie „an passenden Orten und unter günstigen Umständen, ausgestattet mit dem Keime des beginnenden Lebens und der organischen Bewegung“ (p. 30), geschaffen. Lamarck bekämpft daher auf das entschiedenste die Lehre von der Un- veränderlichkeit und der Konstanz der Art. Denn „je mehr Natur- erzeugnisse gesammelt und je reichhaltiger unsere Sammlungen werden, um so mehr sehen wir, wie beinahe alle Lücken sich aus- füllen und unsere Scheidelinien sich verwischen“ (p. 26). Wenn man die Arten der einzelnen Gattungen nach ihren Beziehungen in Reihen anordnet, so „unterscheiden sich dieselben von den ihnen nächststehenden so wenig, daß alle Abstufungen vorhanden sind, und daß sie gewissermaßen ineinander übergehen“ (p. 27). Auf Grund dieser systematischen Verwandtschaften schließt Lamarck, 584 Fünfzehntes Kapitel. daß die heute lebenden Arten von ausgestorbenen, einfacheren Arten abstammen. Lamarck verwirft die von Cuvier begründete Katastrophen- theorie und ersetzt sie durch die Lehre einer allmählich vor sich gehenden Veränderung der Erde, wie sie später durch Lyell weiter ausgebildet wurde. „Wenn man erwägt“, heißt es auf S. 38, ,daß die Natur bei allem, was sie wirkt, nichts sprungweise macht und daß alles in ihr langsam und in allmählichen Übergängen vor sich geht, wenn man ferner bedenkt, daß die besonderen oder ört- lichen Ursachen der Verwüstungen, Umwälzungen oder Ver- rückungen usw. über alles, was man auf unserer Erdoberfläche beobachtet, Aufschluß geben können und nichtsdestoweniger doch ihren Gesetzen und ihrem allgemeinen Gange unterworfen sind, so wird man erkennen, daß man keineswegs nötig hat, anzunehmen, daß eine allgemeine Katastrophe alles um gestürzt und einen großen Teil der eigenen Werke der Natur vernichtet hat“. „Denn für die Natur ist die Zeit nichts und nie eine Schwierigkeit; sie steht ihr immer zur Verfügung und ist für sie ein unbeschränktes Mittel, mit dessen Hilfe sie die größten wie die geringsten Resultate er- langt.“ In gleicher Weise nimmt Lamarck auch für die Organismen eine langsam vor sich gehende Umbildung an. „Mit Hilfe erstens genügender Zeiträume, zweitens notwendig günstiger Umstände, drittens der Veränderungen, welche der Zustand aller Punkte der Erdoberfläche ununterbrochen erlitten hat, mit einem Wort, mit Hilfe der Wirkung, welche die neuen Standorte und die neuen Gewohnheiten auf die Veränderung der Organe der Tiere und Pflanzen ausüben, sind alle jetzt existierenden Organismen unmerk- lich so gebildet worden, wie wir sie wahrnehmen.“ Im VII. Kapitel seiner Philosophie zoologique versucht dann Lamarck zu beweisen, „daß die Natur die Mittel und die Fähig- keiten besitzt, die nötig sind, um aus eigener Kraft das, was wir bewundern, hervorbringen zu können“ (p. 32). Denn „die Ver- hältnisse wirken auf die Gestalt und auf die Organi- sation der Tiere ein, d. h. sie verändern mit der Zeit, wenn sie sehr verschieden werden, sowohl diese Gestalt als sogar auch die Organisation durch entsprechende Modifikationen“. Das Haupt- gewicht seiner Deduktion legt hierbei Lamarck auf Veränderungen in den Bedürfnissen der Lebewesen, auf Gebrauch und Nichtgebrauch ihrer Organe. Drei Punkte sind hier zu unterscheiden: Erstens führt nach seiner Auffassung (p. 120) „jede ein wenig beträchtliche und anhaltende Veränderung in den Verhältnissen, in denen sich Lamarckismus und Darwinismus. 585 jede Tierrasse befindet, eine wirkliche Veränderung der Bedürf- nisse derselben herbei. Zweitens macht jede Veränderung in den Bedürfnissen der Tiere andere Tätigkeiten, um diesen neuen Be- dürfnissen zu genügen, und folglich andere Gewohnheiten nötig. Drittens erfordert jedes neue Bedürfnis, indem es neue Tätigkeiten zu seiner Befriedigung nötig macht, von dem Tiere, das es empfindet, entweder den größeren Gebrauch eines Organes, von dem es vor- her geringeren Gebrauch gemacht hatte , wodurch dasselbe ent- wickelt und beträchtlich vergrößert wird, oder es erfordert den Ge- brauch neuer Organe, welche die Bedürfnisse in ihm unmerklich durch Anstrengungen seines inneren Gefühls entstehen lassen.“ Die Summe seiner Anschauungen faßt Lamarck in zwei Naturgesetze zusammen und gibt ihnen folgende Fassung: „Erstes Gesetz: Bei jedem Tier, welches das Ziel seiner Entwicklung noch nicht überschritten hat, stärkt der häufigere und bleibende Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt und vergrößert es und verleiht ihm eine Kraft, die zu der Dauer dieses Gebrauchs im Verhältnis steht; während der konstante Nichtgebrauch eines Organs dasselbe allmählich schwächer macht, verschlechtert, seine Fähig- keiten fortschreitend vermindert und es endlich verschwinden läßt.“ „Zweites Gesetz: Alles, was die Tiere durch den Einfluß der Verhältnisse, denen sie während langer Zeit ausgesetzt sind und folglich durch den Einfluß des vorherrschenden Gebrauchs oder kpnstanten Nichtgebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fortpflänzung auf die Nachkommen vererbt, voraus- gesetzt, daß die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern, oder denen , welche diese Nachkommen hervorgebracht haben, gemein seien.“ „Es sind dies“, bemerkt Lamarck bei der Aufstellung seiner beiden Gesetze, „zwei bleibende Wahrheiten, welche nur von denen verkannt werden können, welche die Natur in ihren Verrichtungen noch nie beobachtet und verfolgt haben.“ Lamarcks Philosophie zoologique hatte bei ihrem Erscheinen keinen durchschlagenden Erfolg. Weder seine Lehre von der Ver- änderlichkeit der Arten noch seine Deszendenztheorie, die niemand vor ihm so klar und scharf ausgesprochen hatte, noch weniger aber sein Erklärungsprinzip der funktionellen Anpassung, wie es Roux bezeichnet hat, konnte sich in Frankreich gegenüber der Autorität von Cu VIER durchsetzen. Wenn aber auch der Augenblickserfolg gering war, so haben Lamarcks leitende Ideen doch in der Ge- schichte der Biologie fortgewirkt und sich immer mehr, soweit sie 586 Fünfzehntes Kapitel. auf Wahrheit beruhten, siegreich durch gesetzt: seine Ansicht von der Veränderlichkeit der Arten, seine Abstammungslehre und seine kausale Erklärung derselben durch direkte Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. Ch. Darwin hat in seinen Schriften, in denen er sich der zu seiner Zeit noch wenig beachteten Deszendenztheorie anschloß, neben dem Prinzip vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl auch ein großes Gewicht auf den LAMARCKschen Faktor gelegt. Derselbe spielt eine große Rolle auch bei Her- bert Spencer, der sich von umfassenden philosophischen Gesichts- punkten aus mit der Entwicklungslehre der Organismen beschäftigt und in systematischer Weise die Gesetze der organischen Form- bildung und die Bedeutung äußerer und innerer Faktoren beim Ent- wicklungsprozeß klarzustellen versucht hat. Ebenso hat Haeckel in Deutschland mehr als andere Vertreter des Darwinismus die große Tragweite der LAMARCKschen Lehren stets hervorgehoben. Er formuliert in seiner Generellen Morphologie als „oberstes Grund- gesetz der Anpassung“ den Satz: „Jede Anpassungserscheinung (Abänderung) der Organismen ist durch die materielle Wechsel- wirkung zwischen der Materie des Organismus und der Materie, welche denselben als Außenwelt umgibt, bedingt, und der Grad der Abänderung (d. h. der Grad der morphologischen und physio- logischen Ungleichheit zwischen dem abgeänderten Organismus und seinen Eltern) steht in geradem Verhältnis zu der Zeitdauer und der Intensität der materiellen Wechselwirkung zwischen dem Or- ganismus und den veränderten Existenzbedingungen der Außen- welt.“ Am konsequentesten unter allen Forschern in Deutschland hat NÄGELI in seinen Schriften , zumal in seiner mechanisch-physio- logischen Theorie der Abstammungslehre, in scharfsinniger Weise zu begründen versucht, daß „die Eigenschaften der Organismen die notwendigen Folgen von bestimmten Ursachen seien“. Im Gegen- satz zum DARWlNschen Prinzip, das von beliebigen richtungslosen Veränderungen ausgeht, und diese allein durch Selektion zur Er- zeugung zweckmäßiger und der Umgebung angepaßter Naturpro- dukte gerichtet und geordnet werden läßt, bezeichnet Nägeli seine Auffassung von der Entwicklung der Organismen als „die Theorie derbestimmtenunddirektenBewirkuri g“. Nägelis Stand- punkt ist auch der meinige. Er liegt der Reihe meiner vergleichend- morphologischen und experimentellen Untersuchungen, namentlich aber der Darstellung eines umfangreichen Materials von Beob- Lamarckismus und Darwinismus. 587 achtungen und Experimenten und meiner Theorie der Biogenesis in den verschiedenen Auflagen meiner „Allgemeinen Biologie“ zugrunde- Widerlegung- der Einwände gegen die Theorie der direkten Bewirkung. Seit einigen Jahrzehnten ist gegen die Lehre von Lamarck eine heftige Gegnerschaft enstanden ; sie hat hauptsächlich von den Schriften Weismanns, der noch über Darwin hinaus das Selektionsprinzip in extremster Weise ausgebildet hat, ihren Aus- gang genommen. Wenn auch von vornherein zugegeben werden muß, daß Larmack infolge des niedrigen Standes biologischer Kenntnisse zu seiner Zeit, namentlich auf entwicklungsgeschicht- lichem, mikroskopischem und physiologischem Gebiet manche un- haltbaren Gedanken über das Werden der Organismen ausgesprochen hat, so sind doch hiervon auszunehmen die von ihm vertretenen Grundanschauungen : 1) die Deszendenztheorie, welche ja Darwin zum Ausgangspunkt und Fundament seiner Selektionstheorie ge- macht hat, 2) die Lehre von den Veränderungen der Lebewesen, insbesondere von ihrer funktionellen Anpassung unter dem Einfluß der Umweltsfaktoren, 3) die Lehre von der Vererbung der auf diesem Wege neuerworbenen Eigenschaften auf ihre Nachkommen. Besonders die beiden letzten Lehren sind es, gegen deren Be- deutung sich Weismann gewandt und allmählich eine große Gefolgschaft auf seine Seite gezogen hat. Er sucht sie durch eine doppelte Beweisführung zu widerlegen. Der eine Beweis richtet sich im allgemeinen gegen eine „Vererbung erworbener Eigen- schaften“, wie sie Lamarck voraussetzt; er hält sie nicht nur für unbewiesen, sondern erklärt sie überhaupt als wissenschaftlich nicht vorstellbar, und zwar wird er zu seiner weittragenden Behauptung durch seine schon früher (S. 540) erwähnte und kritisierte Hypothese veranlaßt, daß die Keimzellen zu den von ihm unterschiedenen Somazellen in einem prinzipiellen Gegensatz stehen und gleichsam ein von ihnen getrenntes Leben für sich führen, daher auch nicht von ihnen beeinflußt werden können. Auf die Unhaltbarkeit von Weis manns Hypothese, aus der er „die Nicht vererbbark eit erworbener Eigenschaften“, folgert, wurde schon auf S. 517 — 543 hingewiesen. In schroffem Gegensatz zu ihm und im Anschluß an Lamarck, NäGELI u. a. sehe ich aus Gründen, die im XIV. Kapitel: Erwerb von neuen Anlagen Seite 567 — 579 besprochen wurden, es als ausgemacht an, daß die Keim- zellen wie jede andere Körperzelle, ja vielleicht in einer noch weit 588 Fünfzehntes Kapitel. empfindlicheren Weise, wie es auch Darwin annimmt, an allen Schicksalen, an allen Veränderungen der Umweltsfaktoren oder an der Konstellation aller Bedingungen, unter denen sich das Leben eines Organismus abspielt, teilnehmen. Als Elementarteile des Ganzen, dem sie integriert sind, müssen sie in ihrer Eigenart vom Gesamtleben des Ganzen auch mit beeinflußt werden. Weismanns zweiter Beweis gegen den Lamarckismus, welchem er ebenfalls eine besonders große Tragweite zuschreibt, betrifft die passiv wirkenden Organe. Als solche bezeichnet Aug. Weismann (Vorträge, 1902, 1. c., Bd. II. p. 87) alle Organe, die „durch ihr Dasein, nicht durch eine wirkliche Tätigkeit, dem Orga- nismus von Nutzen sind“, im Gegensatz zu anderen, die sich durch häufigen Gebrauch vervollkommnen , wie Muskeln , Drüsen etc. Er erwähnt als lehrreiche Beispiele hierfür die Skeletteile der Gliedertiere, da ihre harten Chitinstücke durch den Gebrauch nicht mehr verändert werden können; „sie sind fertig“, heißt es von ihnen, „ehe sie gebraucht werden, und treten erst in Gebrauch, wenn sie schon an der Luft erhärtet und nicht mehr plastisch sind. So kann nirgends am ganzen Körper des Gliedertieres die An- passung des Skeletts in bezug auf Dicke und Wider- standskraftdurchdie Funktionselbstgeregeltworden sein, sondern nur durch Selektionsprozesse, die jeder Stelle desselben die Dicke zusprachen, die sie braucht, damit der Teil leistungsfähig sei, mag es sich nun um den Wider- stand gegen Muskelzug, oder um Biegsamkeit einer Gelenkfalte, um Härte zum Zerbeißen der Nahrung oder zum Bohren in Holz oder Erde handeln, oder etwa um bloßen Schutz gegen äußere Schädlichkeiten“ (1. c. p. 94). Weismann erblickt daher im Chitinskelett der Gliedertiere ein geradezu erdrückendes Beweismaterial gegen die Anschauungen der Lamarckianer. Denn wenn Veränderungen passiver Organe, folgert er, nicht durch Vererbung erworbener Eigenschaften, son- dern lediglich durch Naturzüchtung auf Grund der allgemeinen Variabilität aller Teile entstehen können, so läge auch kein Grund mehr vor, eine unerwiesene Vererbungsform zur Erklärung der Veränderungen aktiver Organe heranzuziehen (1. c. p. 87). In der Argumentatien von WEISMANN liegt ein Fehler vor, den schon Semon bei der Deutung der Versuche mit dem Colorado- käfer mit Recht zurückgewiesen hat. Allerdings kann der fertig ge- bildete Arthropoden panzer, soweit er aus Chitin besteht, als ein passives oder richtiger als ein wenig veränderliches Organ bezeichnet Lamarckismus und Darwinismus. 589 werden, so daß ihn SEMON einer starren Maske verglichen hat; er gehört ja in histogenetischer Hinsicht in die Reihe der Bildungs- produkte des Körpers. Diese aber sind, was von Weismann ganz mit Stillschweigen übergangen wird, von einer bildenden Substanz, einer Schicht von Zellen mit ihren Kernen abhängig. Denn unter der Chitinhaut breitet sich ja die zu ihr gehörige Hypodermis aus, die gegen Reize der Außenwelt nicht minder empfindlich ist, als die menschliche Oberhaut, trotzdem sie auch von einer bald dünneren, bald dickeren Schicht verhornter Epidermiszellen zum Schutz über- zogen wird. In Wahrheit ist also das Hautskelett der Arthropoden, wenn man zu ihm, wie sich von selbst versteht, noch die darunter gelegene Hypodermis rechnet, gar kein rein passives Organ, sondern ist mit einer aktiven Bildungsschicht, der Matrix der Histologen älterer Zeit, ausgestattet, und diese besitzt das Vermögen, die Aus- bildung des Skeletts „in bezug auf Dicke und Widerstandskraft durch die Funktion“ aktiv zu regeln und so Verhältnisse zu schaffen, für welche Weismann die „Allmacht der Naturzüchtung“ in An- spruch nimmt. An einigen konkreten Fällen sei diese aktive Rolle der Hypo- dermis bei der Erzeugung des Hautskeletts der Arthropoden noch etwas näher erläutert. Die Arthropoden gehören zu den gegliederten Tieren. Dies macht sich auch bei manchen Arten in sehr auf- fälliger Weise an ihrem Chitinskelett bemerkbar. Ist es doch aus festeren Chitinringen zusammengesetzt, die durch weichere, biegsame, chitinige Zwischenstücke in ähnlicher Weise untereinander ver- bunden sind, wie an der Wirbelsäule des Menschen die knöchernen Wirbel durch die bindegewebigen Ligamenta intervertebralia und intercruralia. In beiden Fällen wird durch die Gliederung dasselbe Er- gebnis erreicht. Der Körperabschnitt behält einen gewissen Grad von Beweglichkeit, während er bei gleichmäßiger Verknöcherung des Achsenskeletts oder bei gleichmäßig dicker Chitinisierung der Haut sie verloren haben würde. Wer sich nun die Frage nach der Ent- stehungsursache der beiden verschiedenen Arten der Gliederung vor- legt, wird über sie kaum in Zweifel sein können. Sie liegt in dem gegliederten Bau des ganzen Körpers, welcher zu den wichtigsten systematischen Merkmalen der Wirbeltiere, der Arthropoden und der Anneliden gehört. Die Gliederung, welche sich sehr frühzeitig aus- bildet, betrifft auch die Muskelanlage und zerlegt das ihr dienende Zellmaterial in viele aufeinanderfolgende Muskelsegmente. Indem aber die segmentweise abgeteilten Muskelfasern mit ihren Enden sich an das innere Achsenskelett bei den Wirbeltieren oder an die 590 Fünfzehntes Kapitel. chitinisierte Haut bei den Wirbellosen ansetzen, sind sie imstande, nicht nur dieselben zu biegen, solange sie noch nicht vollkommen starr geworden sind, sondern auch dem Eintritt einer gleichmäßigen Erstarrung durch ihre Wirksamkeit rechtzeitig entgegenzuwirken. Denn je nach dem Ansatz der segment weise angeordneten Muskel- fasern werden einzelne Strecken des Achsenskeletts sowie dert chitinisierenden Haut gedehnt, so daß dort die Verknöcherung hier die verstärkte Chitinausscheidung unterbleibt. Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, liegen sehr hand- greifliche, in der vorausgegangenen Organisation der Arthropoden begründete Ursachen vor, welche es bewirken, daß in der Mitte der Segmente, deren Haut weniger gedehnt wird, die Chitin- absonderung eine dickere und festere wird, als an den dazwischen gelegenen Strecken , die durch den Hautmuskelschlauch einer Dehnung und Erschlaffung ausgesetzt sind. Die Hypodermis mit ihrer chitinabsondernden Funktion wird also in ihren verschiedenen Bezirken in sehr ungleicher Weise durch die auf sie wirkenden Reize in Anspruch genommen. So kommen wir denn zu dem ganz entgegengesetzten Schluß als Weismann, daß das Hautskelett der Arthropoden in bezug auf Dicke und Widerstandskraft durch die Funktion selbst geregelt wird, nicht aber durch das umständ- liche und für solche Aufgaben ganz ungeeignete Selektionsprinzip. Das Gleiche gilt für einen zweiten von Weismann erörterten Fall. Es gibt verschiedene, außer jedem verwandtschaftlichen Zu- sammenhang' stehende Arten von Arthropoden und Insekten, die Einsiedlerkrebse und die Larven der Köcherfliegen, welche die Ge- wohnheit angenommen haben, einen großen Teil ihres Körpers durch ein künstliches Gehäuse zu schützen. So bergen die Einsiedler- krebse ihren Hinterleib in einer leeren Schneckenschale, und die im Wasser lebenden Larven der Köcherfliege fertigen sich aus Pflanzenteilen ein Gehäuse an, aus welchem sie nur die vorderen Körpersegmente herausstrecken. Hier wie dort hat die besondere Lebensgewohnheit die gleiche Folge gehabt, daß die Chitinhaut der künstlich geschützten Körpergegenden, im Gegensatz zum unbe- deckten Abschnitt, dünner und weicher geworden ist. Die ver- schiedene Beschaffenheit des Chitins fällt schon auf den ersten Blick dem Beobachter auf. Auch hier sucht Weismann wieder die Er- klärung in der Naturzüchtung, während nach unserer Ansicht beide Fälle in das Kapitel der rudimentären Organe gehören. Zu einer festen Chitinisierung der Oberfläche kommt es nämlich an dem ge- schützten Körperteil nicht mehr aus dem einfachen Grund, weil Lamarckismus und Darwinismus. 59 durch die künstlich geschaffene Bedeckung die normalen Hautreize wegfallen , durch welche die Hypodermis an den unbedeckten Körperabschnitten zur Chitinproduktion angeregt wird. Die Sachlage ist genau dieselbe, wie bei dem Oberflächen- epithel der Lippe an ihrer äußeren und inneren Fläche. Je nach- dem es direkt dem Einfluß der Luft unterliegt oder durch den Mundspeichel feucht erhalten wird, trägt es dort den Charakter der Epidermis mit ihren bekannten Schichten, hier den Charakter des geschichteten Plattenepithels einer Schleimhaut; der Übergang zwischen beiden vollzieht sich am angefeuchteten Lippenrand. Würde man ein Stück der Lippe dauernd nach außen umklappen, so daß sie nicht mehr durch Speichel feucht erhalten wird , so würde das geschichtete Platten epithel unter dem Reiz der Luft bald eine andere Beschaffenheit gewinnen und sich mit einer stärker verhornten Schicht überziehen. In derselben Weise erklärt sich die Chitinveränderung an den geschützten Körperteilen der Einsiedler- krebse und der Phryganidenlarven Sie ist eine direkte Folge der veränderten Umweltsfaktoren, sie ist durch Vererbung von Genera- tion zu Generation in der Species noch weiter fixiert worden. Bei dem ganzen Vorgang hat nicht das abgeschiedene passive Chitin, sondern die unter ihm gelegene aktive Bildungsschicht gemäß den sie neu treffenden Reizen reagiert. Ebenso wird nicht das Bil- dungsprodukt, der Chitinpanzer, sondern nur die Fähigkeit, einen solchen im Einklang mit den gegebenen Bedingungen zu bilden, oder, wie schon früher gezeigt wurde, es wird nicht ein Merk- mal des ausgebildeten Organismus, sondern nur die Anlage zu seiner Hervorbringung im Entwicklungsprozeß vererbt. Überall im Körper ausgebreitet und in den Kernen der lebenden Zellen lokalisiert findet sich ja das aktive Idioplasma, welches auf die aller- verschiedensten, inneren und äußeren Reize reagiert und durch Beeinflussung des Stoffwechsels der Zelle und ihrer formativen Tätigkeit die dem Reiz entsprechenden zweckmäßigen Reaktions- produkte hervorbringt. Wenn es sich bei dauernd wiederkehren- den Reizen hierbei selbst an einem Ort verändert und neue An- lagen erwirbt, so können dieselben allmählich zu einem Gemeingut des ganzen idioplasmatischen Systems werden, dem der vom Reiz zunächst betroffene lokale Teil an gehört. Somit gibt es unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung und der Erblichkeit überhaupt keine passiven Organe in der von Weismann angenommenen Bedeutung. Nur dadurch, daß Weismann diesen kardinalen Punkt ganz über- sehen hat, konnte er in den als passiv von ihm bezeichneten Organen, 592 Fünfzehntes Kapitel. wie er meint, ein unwiderlegliches Argument gegen „die Theorie der direkten Bewirkung und gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften“ erblicken. Beide Beweisverfahren haben also ihren Zweck verfehlt. 2. Die Lehre von Charles Darwin. Von der Besprechung Lamarcks und seiner Richtung gehe ich zu Darwin über, der in der Geschichte der Biologie neben ihm als Begründer der modernen Entwicklungslehre gefeiert wird. Mit Lamarck stimmt Darwin in der Annahme einer sich lang- sam vollziehenden Umwandlung der Arten und in der Annahme ihrer Entstehung aus einfachen Urformen, also in der jetzt allge- meingültigen Deszendenztheorie überein; in der Erklärung der Artbildung aus natürlichen Ursachen aber schlägt er einen eigenen Weg ein. Zwar benutzt er in manchen Fällen auch den Lamarck- schen Faktor der funktionellen Anpassung zur ursächlichen Er- klärung vieler Verhältnisse, aber er versucht ihn doch, soweit es geht, in seiner Wirksamkeit einzuschränken und durch seine Lehre von der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein oder durch die Selektionstheorie zu ersetzen. Der zu Lamarck bestehende Gegensatz , der später durch Weismann und Nägeli in größerer Schärfe ausgebildet worden ist, tritt schon in Darwins Einleitung zu seinem Hauptwerk hervor in den Sätzen (1. c. 1872, p. 15): „Die Naturforscher verweisen be- ständig auf die äußeren Bedingungen, wie Klima, Nahrung usw., als die einzigen möglichen Ursachen ihrer Abänderung. In einem beschränkten Sinne mag, wie wir später sehen werden, dies wahr sein. Aber es wäre verkehrt, lediglich äußeren Ursachen z. B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines Fußes, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, Insekten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Ebenso wäre es verkehrt, bei der Mistel- pflanze, die ihre Nahrung aus gewissen Bäumen zieht, und deren Samen von gewissen Vögeln ausgestreut werden müssen, mit ihren Blüten, welche getrennten Geschlechtes sind und der Tätigkeit ge- wisser Insekten zur Übertragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüte bedürfen, — es wäre verkehrt, die organische Einrichtung dieses Parasiten mit seinen Beziehungen zu mehreren verschiedenen organischen Wesen als eine Wirkung äußerer Ur- sachen oder der Gewohnheit oder des Willens der Pflanze selbst anzusehen.“ Lamarckismus und Darwinismus. 593 Die Erklärung für derartige Verhältnisse findet Darwin in der Selektionstheorie. Er ist zu derselben durch jahrelanges Studium der Haustiere und Kulturpflanzen geführt worden. Auf die Erfahrungen und die Erfolge der Züchter bei ihren Versuchen legt er einen großen Wert. Denn nach seiner Ansicht vollzieht sich bei der künstlichen Züchtung die Entstehung neuer Varietäten und Arten gewissermaßen unter den Augen der Menschen und läßt sich daher genauer verfolgen. Die Wirksamkeit von zwei Faktoren glaubt Darwin unterscheiden zu müssen. Den einen Faktor erblickt er in der Neigung aller Organismen, aus Ursachen, die teils in ihrer Natur, teils in Veränderungen der äußeren Be- dingungen liegen und uns in ihrem Wesen nur wenig bekannt sind, in unbedeutender Weise zu variieren. Infolgedessen sind die Kinder von ihren Eltern und untereinander an geringfügigen Merk- malen zu unterscheiden. Das Variieren erfolgt hierbei bald in dieser bald in jener Richtung; es ist — was zum Ver- ständnis der Selektionstheorie wohl zu beachten ist — vonNatur aus richtungslos. Als zweiten Faktor betrachtet Darwin die Tätigkeit des Züchters. Denn nach seiner Meinung gibt dieser den ihm durch die Natur gebotenen Variationen der Tiere und Pflanzen erst eine bestimmte Richtung, indem er bald bewußt, bald unbewußt zu seinem Nutzen oder zu seiner Lieb- haberei die ihm auffallenden und geeigneten Varietäten zur Nach- zucht auswählt und die ungeeigneten vernichtet. Der zugrunde- liegende Gedankengang, noch etwas schärfer gefaßt, ist folgender : Dadurch, daß sich die besser oder die ganz neu ausgebildete Eigen- schaft auf die Nachkommeu vererbt, in diesen wieder variiert und nach denselben Gesichtspunkten ausgewählt wird, und so von Jahr zu Jahr durch eine Reihe aufeinanderfolgender Generationen, kann sie allmählich in jedem beliebigen Grad gesteigert werden, bis das Produkt der Züchtung eine auffällige Neuheit: eine besondere Rasse, Varietät oder gar Art, geworden ist. So findet denn Darwin die Erklärung für die zahlreichen domestizierten Arten und Rassen der Tauben und Hühner, der Pferde, Rinder, Schafe und Hunde, endlich für das Heer der Acker-, Obst-, Küchen- und Zierpflanzen „in dem akkumula- tiven Wahlvermögen des Menschen. Die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen, der Mensch summiert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesemSinne kann man von ihm sagen, er habe sich O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 3^ 594 Fünfzehntes Kapitel. nützliche Rassen geschaffen.“ Daher nennt Darwin, in- dem er sich auf einen Ausspruch des Züchters Youatt beruft, das Prinzip der künstlichen Zuchtwahl „einen Zauberstab, mit dessen Hilfe der Züchter jede Form ins Leben ruft, die ihm gefällt“. Wie Darwin von der so gewonnenen Grundlage aus dann weiter zu beweisen sucht, wird das Verfahren, welches der Mensch n seinem beschränkten Kreis an wendet, von der Natur bei der Umwandlung der Organismenwelt und bei der Erzeugung neuer Arten im großen ausgeübt. Der künstlichen muß daher eine natürliche Zuchtwahl an die Seite gestellt werden. Der Beweis hierfür wird in folgender Art zu führen versucht : Ebenso wie die Pflanzen und Tiere unter der Kultur des Menschen, so variieren sie auch im Naturzustände in allen Teilen ihrer Organisation in dieser und jener Richtung. Die Rolle des Züchters aber übernimmt in der Natur der Kampf ums Dasein. Ein solcher muß, nach der Lehre von Malthus, die Darwin auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich überträgt, sich in der Natur unaufhörlich und meist unbemerkt abspielen, weil in- folge der enormen, in geometrischer Progression vor sich gehen- den Vermehrungsfähigkeit aller Organismen viel mehr Individuen erzeugt werden, als eine Existenzmöglichkeit infolge der auf ein gewisses Maß beschränkten Nahrung und des vorhandenen Raumes für sie existiert. In dem Kampf ums Dasein müssen viele Indi- viduen fortwährend zugrunde gehen, und es werden im allgemeinen nur diejenigen am Leben bleiben, die besser den Bedingungen der Umwelt angepaßt sind. Besser angepaßt aber sind solche Indivi- duen, welche infolge stattgefundener Variation geringfügige Ab- änderungen erfahren haben, die ihnen in den unendlich verwickelten Beziehungen zu anderen organischen Wesen und zu den physika- lischen Lebensbedingungen irgendeinen, wenn auch noch so geringen Vorteil vor anderen verschaffen. Indem nun die Überlebenden ihre begünstigten Abänderungen auf ihre Nachkommen vererben, und auch unter diesen wieder die besser abgeänderten bei der Fortpflanzung am meisten Aussicht zum Über- leben haben, muß auch in der Natur eine entsprechende akkumula- tive Wirkung ebenso die Folge sein, wie bei der künstlichen Zucht- wahl durch die planvolle Tätigkeit des Züchters. So verwandelt sich in den Augen von Darwin die natürliche Zuchtwahl gleichsam in „eine unaufhörlich zur Tätigkeit bereite Kraft, die den schwachen Bemühungen des Menschen so unermeß- Lamarckismus und Darwinismus. 595 lieh überlegen ist, wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind“. Denn natürliche Zuchtwahl vermag durch Häu- fung bloß individueller Verschiedenheiten in einer und derselben Richtung viel leichter größere Erfolge zu erzielen, „da ihr unver- gleichlich längere Zeiträume für ihre Wirkungen zur Verfügung stehen.“ Eine wie hohe Vorstellung Darwin von der Leistungsfähig- keit seines Erklärungsprinzips hat, geht am besten aus folgender Stelle hervor, in welcher er zwischen der natürlichen und künst- lichen Zuchtwahl einen kurzen Vergleich zieht. „Da der Mensch durch methodisch und unbewußt ausgeführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so große Erfolge erzielen kann und gewiß erzielt hat, was mag nicht die natürliche Zuchtwahl leisten können? Der Mensch kann nur auf äußerliche und sichtbare Charaktere wirken ; die Natur (wenn es gestattet ist, so die natürliche Erhaltung oder das Überleben des Passendsten zu personifizieren) fragt nicht nach dem Aussehen, außer wo es irgendeinem Wesen nützlich sein kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf jede Schattierung einer kon- stitutionellen Verschiedenheit, auf die ganze Maschinerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eigenen Nutzen ; die Natur zum Nutzen des Wesens, das sie erzieht.“ „Wie flüchtig sind die Wünsche und die Anstrengungen des Menschen ! Wie kurz ist seine Zeit! Wie dürftig werden mithin seine Erzeugnisse den- jenigen gegenüber sein, welche die Natur im Verlaufe ganzer geo- logischer Perioden angehäuft hat ! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Naturprodukte einen weit „echteren“ Charakter als die des Menschen haben, wenn sie den verwinkeltsten Lebensbedingungen unendlich besser angepaßt sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?“ — „Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in bezug auf seine organischen und anorganischen Lebensbedingungen be- schäftigt.“ Der Erfolg von Darwins Buch: „Die Entstehung der Arten“ war bald nach seinem Erscheinen ein überraschend großer. Die in dem Werk geäußerten Lehren haben bis in die Gegenwart die An- schauungen über die wichtigten Fragen des Lebens unter den Ge- 38* 59& Fünfzehntes Kapitel. lehrten, aber auch in den weitesten Volkskreisen auf das nach- haltigste beeinflußt. Darwins wissenschaftliches Ansehen erreichte bald eine solche Höhe, daß von manchen Seiten seine Selektions- theorie dem Gravitationsgesetz als ebenbürtig an die Seite gestellt und daß er als der Newton der Biologie gefeiert wurde. Ange- sichts solcher Erscheinungen drängt sich gewiß die Frage auf: wie ist diese so grundverschiedene Wirkung zweier bedeutender Werke, wie es ohne Frage die „Philosophie zoologique“ und „The origin of Species“ sind, zu erklären? Die Antwort ergibt sich teils aus der Stimmung der Zeit, teils aus gewissen Vorzügen der DARWiNschen Beweisführung. Lamarcks Zeit war durch politische Verhältnisse, durch verwüstende Kriege in einem Maße heim gesucht, daß wissenschaftliche Fragen bei weitem nicht die Rolle wTie 50 Jahre später spielen konnten. Selbst wenn die Entwicklungslehre Lamarcks unter den Fachgenossen, deren Zahl damals doch eine viel beschränktere als ein halbes Jahr- hundert später war, eine größere Beachtung gefunden hätte, so fehlte ihr jedenfalls der Resonanzboden des großen Publikums. Sie war daher, wie man häufig zu sagen pflegt, noch unzeitgemäß, sie war wie ein gutes Samenkorn, das auf einen unvorbereiteten und trockenen Boden fiel. So war Lamarck zur Rolle des Propheten in der Wüste ausersehen. Die letzten 10 Jahre seines Lebens erblindet, starb er als 85 jähriger Greis und wenig einflußreicher Gelehrter in fast kümmerlichen Verhältnissen, auch in dieser Beziehung ein Gegenstück zu dem englischer Forscher, der sein Lebenswerk wieder auf genommen und in eigenartiger Weise fortgeführt hat. Wie viel günstiger lag für Darwins Werke die Zeit nach 1859. Sie war eine Periode verhältnismäßigen Friedens; selbst die von Deutschland geführten Kriege haben bei ihrer kurzen Dauer und angesichts der mächtigen Impulse, die von ihnen für die wissen- schaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ausgingen, das Aufblühen der Wissenschaft sehr gefördert. Wissenschaft und Technik wurden in den wichtigsten Ländern Europas in allen ihren Zweigen so eifrig und erfolgreich betrieben, daß man nicht mit Un- recht das 19. Jahrhundert als das naturwissenschaftliche Zeitalter mit Vorliebe zu bezeichnen pflegte. Mit Handel und Industrie gelangte das Bürgertum zu der lange erstrebten politischen Macht im Staat ; vor allen Dingen beherrschte es die Presse; es brachte den Er- folgen der Wissenschaftler , denen es nicht zum wenigsten den eigenen Fortschritt verdankte, vielseitiges Interesse entgegen. Poli- tisch liberal und religiös aufgeklärt, war es allen Bestrebungen, Lamarckismus und Darwinismus. 597 die eine neue Weltanschauung fördern konnten, von vornherein zugeneigt. Hierzu kommen große Vorzüge, die Darwin mit seiner Forschungsmethode darbot. Er schlug einen der Richtung der modernen Naturwissenschaften besser zusagenden Weg der Beweis- führung zur Begründung seiner Ideen ein, als Lamarck. Dieser ging mehr nach der Art der deutschen Naturphilosophie bei der Mitteilung seiner Eehre vor; er stellte allgemeine Grundsätze und an sie angereihte Reflexionen auf, unterließ es aber, die Beobach- tungen und Tatsachen in solcher Fülle und Genauigkeit mitzuteilen, daß sich aus ihnen seine Lehrsätze gleichsam von selbst als not- wendige Folgerungen hätten ergeben müssen. Im Verhältnis zu der großen Tragweite der Prinzipien, durch welche eine ganz neue Auffassung vom Wesen der Art, von der Bedeutung der Systematik, vom Werden der Organismen eröffnet wurde, muß das von Lamarck gelieferte Tatsachenmaterial, aus welchem die neue Lehre gezogen wurde, als ein dürftiges bezeichnet werden. Diese Unterlassung ist um so mehr zu verwundern, als Lamarck über sehr ausgedehnte Kenntnisse von der Systematik der Pflanzen und wirbellosen Tiere gebot und auch durch anatomische Untersuchungen nach vielen Richtungen bahnbrechend gewirkt hat. Auf diese schwache Seite der Philosophie zoologique hat der Biograph von Lamarck, Charles Martins, schon aufmerksam gemacht, wenn er sagt: „Indem Lamarck mehr durch Vernunft- schlüsse als durch positive Tatsachen zu überzeugen suchte, hat er die verkehrte Mode der deutschen Naturphilosophen Goethe, Oken , Carus , Steffens geteilt. Heutzutage vernünftelt man weniger, verlangt der Leser handgreifliche Beweise, sicher kon- statierte, materielle Tatsachen, und er gibt nicht nach, bis er durch das Gewicht der Evidenz sozusagen überwältigt ist.“ Wie ganz entgegensetzt ist das von Darwin angewandte Ver- fahren. Um die Richtigkeit der ihn beschäftigenden Gedanken zu prüfen und Beweismaterial für sie zu sammeln, studiert er mit be- wundernswerter Geduld zahlreiche wissenschaftliche Zeitschriften, sammelt zerstreute Beobachtungen, die ihm als Beweise dienen können, setzt sich mit zahlreichen Züchtern in nähere Verbindung. Er sucht in die Lebensverhältnisse der Pflanzen und Tiere, in ihre verwickelten Beziehungen zur Umwelt und zueinander, in das Variieren der Arten in der Natur und im Zustand der Domestikation einen Einblick zu gewinnen; er beschäftigt sich mit der Befruch- tung der Blumen durch die Insekten, mit der Rolle der Kreuz- 59§ Fünfzehntes Kapitel. und Selbstbefruchtung, mit den Anpassungserscheinungen , der Schutzfärbung und der Mimikry, mit den Verschiedenheiten der beiden Geschlechter, mit den Gewohnheiten und Instinkten der Tiere. So zeigt sich Darwin in vielen Richtungen als Meister scharfsinniger Naturbeobachtung und sammelt auf Gebieten, die der reine Systematiker, Anatom und Physiolog zu vernachlässigen pflegte* eine so große Fülle verschiedenartiger Tatsachen, daß allein schon diese bleibenden Entdeckungen genügt hätten, ihm eine erste Stelle unter den Naturforschern zu sichern. Das ganze, weitausgedehnte Reich der Biologie sucht er seinen Zwecken dienstbar zu machen. Wo Darwin allgemeine Schlüsse zieht, tut er es in allen seinen Schriften, ausgerüstet mit einem umfangreichen Beweismaterial, welches schon von vornherein dem Leser Achtung ein zuflössen ge- eignet ist. In jeder Hinsicht entspricht er bei Niederschrift seines Werks den strengeren Anforderungen, welche die exakte Natur- wissenschaft stellt, und er verdankt wohl nicht zum wenigsten diesem Umstand seinen durchschlagenden Erfolg. Aber auch da- durch konnte er den schon von Lamarck erörterten Problemen eine viel bessere Begründung geben, daß in den seit 1809 ver- flossenen 50 Jahren das Studium der Entwicklungsgeschichte, der vergleichenden Anatomie, der Zellentheorie und nicht zum wenigsten auch der Physiologie einen mächtigen Aufschwung ge- nommen hatte. So traten jetzt die Ideen Lamarcks in Darwins Buch von der Entstehung der Arten gleichsam wieder in neuer Rüstung auf dem Kampfplatz auf und schlugen hier bald siegreich jeden Widerstand nieder. Endlich hat Darwin als Ersatz für die Lehre Lamarcks von der funktionellen Anpassung die Deszendenztheorie mit einem neuen originellen Gedanken, mit der Selektionstheorie, aus- gestattet. Diese sagte in mancher Hinsicht dem wissenschaftlichen Geist der Zeit mehr zu und schien besonders der in der Physio- logie vorherrschenden mechanistischen Forschungsrichtung auf das beste zu entsprechen. Der Hinweis auf die Tätigkeit des Züchters, der nach der Darstellung von Darwin neue Rassen von Kultur- pflanzen und domestizierten Tieren im Laufe einer kurzen Kultur- periode gleichsam geschaffen hat, war für viele von bestechender Wirkung. Der Ersatz der künstlichen durch die natürliche Zucht- wahl empfahl sich als ein origineller wenn auch wenig klar durch- dachter Gedanke, durch den die Natur selbst zum Züchter ihrer mit den verschiedensten Vorzügen ausgestatteten Organismen ge- macht wurde. Hierbei war die Personifikation der Natur zu einem Lamarckismus und Darwinismus. 599 göttlichen Wesen, das nach vorbedachten Zwecken handelt und nach ihnen die Lebewesen gestaltet, durch die Zufallstheorie mit ihren Lehren vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des Passenden vermieden. Beide Gedanken lagen durchaus in der Richtung der Zeit, zu- mal in England, wo mit dem raschen Emporblühen von Handel und Industrie die Richtung des Utilitarismus, das Nützlichkeitsprinzip in Philosophie, in Nationalökonomie und im täglichen Leben sich allgemeinen Beifalls erfreute. Auch machte sich damals in England infolge der überraschend schnellen Ausbreitung des Handels, welcher sich auf naturwissenschaftliche Technik , auf Massen- fabrikation und Umsatz in überseeischen Ländern stützte, ein brutaler Daseinskampf in der Mitte des 19. Jahrhunderts geltend; er wurde durch das von Malthus aufgestellte vermeintliche Gesetz, dessen uneingeschränkte Geltung von der heutigen Nationalökonomie ebensowenig wie das eherne Lohngesetz von Lassalle mehr an- erkannt wird, wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen gesucht, darauf von Darwin zu einem allgemeinen Naturgesetz gestempelt und als solches auch zur Grundlage seiner Selektions- theorie gemacht. Die harten Tatsachen der sozialen Entwicklung, die viele am eigenen Leibe verspüren konnten, schienen für die Wahrheit der wichtigsten Annahmen der DARWiNschen Selektions- theorie zu sprechen. Da eine Zeitlang im Handel die freie Kon- kurrenz als die Mutter jeden Fortschrittes, am lautesten vom Manchestertum , gepriesen wurde , ist in manchen Schriften des Darwinismus auch die Bezeichnung „die Konkurrenz in der Natur“ für den Kampf ums Dasein gebraucht worden. Wer die Zeit von 1866 bis jetzt selbst mitdurchlebt hat und ihre Literatur in Wissenschaft und Kunst nur einigermaßen kennt, weiß aus Erfahrung, wie eine Zeitlang die Bezeichnung „Kampf ums Dasein“ zum Schlagwort für viele Verhältnisse geworden war. Die Nationalökonomen wetteiferten in seinem Gebrauch. Während Darwin es nur für die Beziehungen zwischen den einzelnen tierischen und pflanzlichen Individuen, die in irgendeiner Weise miteinander konkurrieren, gebraucht hat, hielten viele Biologen es für notwendig, dem Begriff eine weitere Fassung zu geben, da Darwins Fassung für die Erklärung mancher Erscheinungen in der Biologie nicht auszureichen schien. Denn ähnliche, auf Zweck- mäßigkeit beruhende Abhängigkeitsverhältnisse, wie zwischen den verschiedenen Arten im Tier- und Pflanzenreich, lassen sich auch innerhalb des einzelnen Organismus in der Struktur seiner Organe 6oo Fünfzehntes Kapitel. und seiner Gewebe beobachten. Daher schrieb Roux seine Schrift über den „Kampf der Teile im Organismus“ 1 88 1. Weismann dehnte darauf den Kampf auch auf die Teile innerhalb der Zelle aus, veranlaßt durch seine Determinantenlehre und durch sein Dogma von der Nichtvererbarkeit erworbener Charaktere. Je nachdem der Kampf ums Dasein zwischen den kleinsten, unsichtbaren Teilchen im Innern einer Zelle oder zwischen den Zellen im geweblichen Verband oder zwischen den Individuen nach der ursprünglichen Lehre von Darwin oder zwischen den durch ihre Vereinigung wieder entstandenen Tier- und Pflanzenstöcken stattfindet, hat Weis- mann demgemäß auch vier Formen der Auslese: als Germinal-, Histonal-, Personal- und Kormalselektion unterschieden. Schon bald nach dem Erscheinen von Darwins Entstehung der Arten trat überhaupt unverkennbar in der Literatur die Neigung hervor, aus dem Kampf ums Dasein ein universales Erklärungsprinzip zu machen; oft wurde an Heraklits Ausspruch erinnert, nach welchem der Kampf derVater allerDinge ist. Kaum ist eingröße- rer Kontrast denkbar als zwischen der Weltanschau- ung der vorausgegangenen Jahrhunderte mit ihren auf christlicher Liebe beruhenden Lehren und der Weltanschauung, die aus dem erbitterten Kampf ums Dasein und der auf Wissenschaft begründeten Selek- tionstheorie eine Orientierung auf neue Lebensziele zu gewinnen suchte. Wenn so die Lehren Darwins mit einem schon seit längerer Zeit vorbereiteten Wechsel in der Weltanschauung der modernen Menschen zeitlich zusammenfielen, so ließen sie sich auch leicht in die zur Herrschaft gelangte mechanistische Richtung der Naturwissenschaften einfügen. Denn nach einem weit ver- breiteten Glauben erklärt der Kampf ums Dasein, verbunden mit der Auswahl des Passenden, wie man sehr häufig mit lobendem Nachdruck hervorgehoben findet, das Zweckmäßige ohne Zuhilfenahme des Zweckbegriffs. Es schien dadurch dem Naturforscher, der sich auf eine materialistische Weltanschauung in seinem Denken eingestellt hatte, ein Weg gewiesen, „das Zweckmäßige als das Produkt unbewußt wirkender, mechanischer Kräfte zu be- greifen“. Lamarckismus und Darwinismus. 6o 3. Die Nachfolger und Anhänger Darwins, E. Haeckel und A. Weismann. Die durch Darwin hervorgerufene Bewegung, die bald dem engeren Bereich der Biologie entwuchs und wegen ihres tiefen Einflusses auf das ganze Geistesleben unserer Zeit als Darwinismus bezeichnet worden ist, verdankt einen großen Teil ihrer treibenden Kraft der entschlossenen Mitwirkung zweier deutscher Forscher, Ernst Haeckel und A. Weismann. Beide trugen wesentlich zur raschen Verbreitung und allgemeineren Anerkennung des Darwinis- mus bei ; zugleich gingen sie über die Lehre des Meisters noch in vielen Beziehungen hinaus; sie erweiterten, modifizierten sie und fügten zum Teil ganz neue Bestandteile hinzu. Ein volles Ver- ständnis der als Darwinismus bezeichneten Richtung ist daher nur zu gewinnen, wenn man zugleich auch die Lebensarbeit von Haeckel und Weismann berücksichtigt. Die Stellung von Haeckel und Weismann innerhalb des Darwinismus ist eine sehr verschiedenartige und in vielen wichtigen Fragen einander entgegengesetzte. Haeckel hält an den Richtlinien der von Darwin entwickelten Lehre, namentlich auch an der Vereinigung der Selektionstheorie mit den Erklärungsprinzipien von Lamarck, also an der funktio- nellen Anpassung und der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften fest. Während Darwin als Systematiker und Biologe, ist Haeckel als Morphologe und Embryologe der Überlegene und sucht auf den von ihm beherrschten Gebieten die Deszendenztheorie durch seine Gasträatheorie und das biogenetische Grundgesetz, durch die Aus- arbeitung von Stammbäumen und durch das Studium verbindender Zwischenformen (missing links) weiter auszubauen. Keiner hat so- viel wie er durch sein überzeugtes und enthusiastisches Eintreten für Darwin zur raschen Ausbreitung der neuen Lehren beige- tragen. An den Kreis der Fachgelehrten richtete er seine Gene- relle Morphologie, an ein größeres Publikum seine populären Schriften, die Natürliche Schöpfungsgeschichte und die Anthropo- genie, die durch ihre gewandte und bestechende Darstellung eine weite Verbreitung fanden und, in viele Sprachen übersetzt, in allen Kulturländern für den Darwinismus Propaganda machten. Wo Darwin sich mit Vorsicht ausdrückte, auch wohl Bedenken oder Zweifel äußerte, trat Haeckel mit Bestimmtheit, die jeden Einwand abschnitt, zugleich agitatorisch und Anhänger werbend auf. Fragen der Wissenschaft machte er zu solchen der 6o 2 Fünfzehntes Kapitel. Überzeugung und des Glaubens. In der auf biologischem Boden erwachsenen Erkenntnis vom Wesen der Organismen fand er ein geeignetes Rüstzeug zum Kampf gegen eine auf kirch- licher Überlieferung gegründete, dualistische Weltanschauung. Ihre Bekämpfung wurde für ihn, nachdem er durch seine populären Schriften mit weiteren Kreisen Fühlung gewonnen hatte, bald die wichtigste Lebensaufgabe. Denn wie er sich in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (io. Auf!., p. 31) ausspricht, „muß die von Darwin ausgebildete Entwicklungstheorie, welche wir hier als natürliche Schöpfungsgeschichte zu behandeln haben, und welche bereits von Goethe und Lamarck angebahnt wurde, bei folge- richtiger Durchführung schließlich notwendig zu der monistischen oder mechanistischen (kausalen) Weltanschauung hinleiten“. „Wo der teleologische Dualismus in den Schöpfungs wundern die will- kürlichen Einfälle eines launenhaften Schöpfers aufsucht, da findet der kausale Monismus in den Entwicklungsprozessen die not- wendigen Wirkungen ewiger, unabänderlicher Naturgesetze.“ Indem Haeckel die wissenschaftliche zugleich auch zu einer politisch-religiösen Frage machte, hat er zwar viele Angriffe gegen seine Lehre von Vertretern des katholischen und protestantischen Kirchentums hervorgerufen, aber dadurch im wesentlichen doch erreicht, daß Deszendenz- und Selektionstheorie in immer weitere Kreise eindrangen und überzeugte Anhänger fanden. Anstatt zum Nachteil gestaltete sich die Gegnerschaft der Kirche vielmehr zum ausgesprochenen Vorteil der neuen Be- wegung. Denn Darwinianer und aufgeklärt sein, fiel jetzt in eins zusammen, und bald galt als Reaktionär, wer den unter dem Sammel- namen des Darwinismus zusammengefaßten Lehren nicht in allen Punkten zustimmte. Eine ganz andere Stellung wie Haeckel nimmt A. Weismann dem Darwinismus gegenüber ein. Er kann als sein Theoretiker b ezeichn et wer den. Obgleich schon frühzeitig ein überzeugter Anhänger der Lehren Darwins, weicht er doch später in vielen Punkten von ihnen ab und gibt ihnen eine so sehr abgeänderte Fassung, daß man von einem Neu- darwinismus oder Weismannismus gesprochen hat. Veranlaßt durch seine Keimplasmatheorie und seine Experi- mente über Vererbung von Verstümmelungen leugnet Weismann „die Vererbung erworbener Eigenschaften“, welche zu den Grund- sätzen sowohl von Lamarck als von Darwin und Haeckel gehört. Er leugnet sie, teils weil er es für unmöglich hielt, sich Lamarckismus und Darwinismus. 603 eine mechanische Einrichtung auszudenken, durch welche Ver- änderungen an einzelnen Teilen des Körpers auf die Keimzellen übertragen werden könnten , teils weil er glaubte, eine scharfe Trennung zwischen Keimzellen und Somazellen annehmen zu müssen (siehe Kap. XIII, S. 540). Wenn aber erworbene oder somatische Eigenschaften nicht vererbt werden, dann sind sie auch für die Fortbildung der Art ohne Einfluß. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, Anpassung des Individuums an seine Umgebung infolge direkter Einwirkungen derselben verlieren dann die ihnen von Lamarck zugeschriebene und auch von Darwin und Haeckel übernommene Bedeutung. Zur Umgestaltung der Art können nur Veränderungen dienen, die vom Keim selbst aus- gehen, unabhängig vom Soma und von den Einflüssen der Außen- welt. Sie liefern allein das Material, aus dem die variierenden Indivi- duen entstehen, die im Prozeß der Naturzüchtung ausgewählt oder verworfen werden, je nachdem sie in ihren variierten Eigenschaften ihrer Umgebung und Lebensaufgabe besser angepaßt sind. Indem der LAMARCKsche Faktor für unmöglich erklärt wurde, blieb als Erklärungsprinzip für die innere und äußere Zweck- mäßigkeit in der Organisation der Lebewesen nur noch dieAllmacht der Naturzüch tun g in der Richtung der bis zum Extrem durchgeführten Zufalls- und Se- lektionstheorie übrig. Gewiß hat durch dieses theoretisch konsequente Vorgehen von Weismann Darwins Lehre an Klarheit und Schärfe gewonnen, zugleich aber auch ihre ursprüngliche Anpassungsfähigkeit und Geschmeidigkeit eingebüßt, der sie so viele Erfolge verdankte. Von jetzt war die ursächliche Erklärung für die zweck- mäßige Veränderung der Organismen nur noch auf eine einzige Karte gesetzt. Freilich ist diese Karte Darwins Selektionstheorie. Aber mit diesem scheinbaren Sieg, den man in der Verkündung der Allmacht der Naturzüchtung erblicken könnte, würde Darwin, wenn er ihn erlebt hätte, wenig zufrieden gewesen sein. Denn er selbst hat sich entschieden da- gegen verwahrt, daß er die Modifikation der Spezies ausschließlich der natürlichen Zuchtwahl zuschreibe. Zu seiner Verwahrung hat er später noch die Bemerkung hinzugefügt: „Die Kraft bestän- diger falscher Darstellung ist zäh; die Geschichte der Wissenschaft lehrt aber, daß diese Kraft glücklicherweise nicht lange anhält“ (1. c. 1872, p. 558). Wie man leicht sieht, ist die wissenschaftliche Richtung in der Fünfzehntes Kapitel. 604 Biologie, die man häufig mit einer gewissen Oberflächlichkeit als Darwinismus bezeichnet, nichts weniger als eine einheitliche. Wenn man historische Gerechtigkeit üben will, so sind vom Darwinismus die Frage nach der Veränderlichkeit der Arten, die Deszendenz- theorie und die Lehre von der funktionellen Anpassung auszu- scheiden. Denn Darwin hat dieselbe von Lamarck und anderen übernommen und nur noch weiter ausgebildet. Dagegen hat er als wirklich neues Erklärungsprinzip, wie Haeckel von allem An- fang an in seiner Generellen Morphologie und Natürlichen Schöp- fungsgeschichte mit Recht betont hat, die Selektionstheorie mit dem Kampf ums Dasein und dem Überleben des Passenden hinzugebracht. 4. Zusammenfassung der drei Parteistandpunkte in der Frage vom Werden der Organismen. In der Vereinigung der erwähnten Elemente zu einer einheit- lichen Erklärung der Erscheinungen im Organismenreich bestehen die allergrößten Verschiedenheiten unter den Biologen der Gegen- wart. Doch lassen sich drei Hauptrichtungen unterscheiden: 1. Die Richtung von Darwin und Haeckel verbindet mit der Selektionstheorie die Lehre Lamarcks und hält an der „Ver- erbung erworbener Eigenschaften“ durch den Keim auf die Nach- kommen fest. 2. Die zweite Richtung von Weismann und seinen An- hängern leugnet die Vererbung erworbener Eigenschaften, gibt das LAMARCKsche Prinzip preis und lehrt die Allmacht der Natur- züchtung. 3. Die dritte Richtung wird von Lamarck, Nägeli, von mir und anderen vertreten. In ihr wird der Schwerpunkt bei der Frage nach der natürlichen Entwicklung der Organismen auf die Theorie der direkten Bewirkung und auf „die Vererbung erworbener An- lagen“ im früher (Kap. XIV, S. 544 — 579) festgestellten Sinn gelegt. Das Prinzip der Selektion gewinnt hierbei eine veränderte Fassung und eine sehr viel untergeordnetere Bedeutung (508 — 511). Wenn wir von mehr nebensächlichen Fragen absehen, so handelt es sich bei der zukünftigen Entwicklung der Biologie um die Stellungsnahme zur Selektionstheorie und zur Theorie der direkten Bewirkung. Welche Rolle spielen sie beim Werden der Organismen? Inwieweit tragen sie zu seiner kausalen Erklärung bei? Das nächste Kapitel soll sich mit diesen Aufgaben be- schäftigen. Sechzehntes Kapitel. Kritik der Selektions- und Zufallstheorie1). In seiner Schrift, in der er die Allmacht der Naturzüchtung verkündet, macht Weismann zugleich das offene Eingeständnis, daß wir „durch Erfahrung niemals den Vorgang der Naturzüchtung feststellen können“ (1. c. p. 42). Das Eingeständnis ist wichtig für die Beurteilung der Selektionstheorie vom Standpunkt der Natur- wissenschaft aus. Denn die Stärke einer naturwissenschaftlichen Theorie beruht doch in erster Hand darauf, daß sie aus Erfahrungen und Tatsachen, die sich wirklich beobachten lassen, ableitbar ist. Und wenn in der Physik und Chemie schon durch eine einzige Tatsache, die sich nicht erklären läßt, eine Theorie in ihrem Geltungs- bereich einzuschränken ist, so wird sie vollends unhaltbar, wenn sie sich überhaupt gar nicht auf Tatsachen und Erfahrungen be- gründen läßt. Eine naturwissenschaftliche Theorie istkeinGlaube, der auf der inneren Überzeugung beruht und auch unabhängig von Erfahrungen und Tatsachen bestehen kann. Weismann schließt denn auch an sein Geständnis unmittelbar die Frage an (1. c. p. 42): „Was ist es denn aber, was uns diesen 1) Wagner , Moritz, Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen, Leipzig 1868. — Wiegand, Der Darwinismus und die Naturforschung Neivtons und Cuviers, Bd. I — III , Braunschweig . 1974 . — Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweck- mäßigkeitslehre, Leipzig 1881. — v. Hartmann, Eduard, Wahrheit und Irrtum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwicklungstheorie, Berlin 1875. — Derselbe, Grundriß der Naturphilosophie, 1907. — Wotff, Gustav, Beitrag zur Kritik der Darwinschen Lehre. Biol. Zentralbl., Bd. X, 1890. — Plate, L., Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. Ein Handbuch des Darwinismus, 4- Aufl., 1918. — Eimer, Die Entstehung der Arten, 1888. Orthoqenesis, Bd. II. — Krapotlcin, Peter, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. Übersetzt von Landauer. Leipzig 1904 • — Pauly, A., Darwinismus und Lamarckismus, München 1905. — Johannsen, W., Experimentelle Grundlagen der Deszendenzlehre; Variabilität, Ver- erbung, Kreuzung, Mutation. Die Kidtur der Gegenwart, IV. Abt., Organische Natur- wissenschaften, Bd. I, Allgemeine Biologie, 1915. Vgl. auch Literatur zu Kap. XIV. — Peter, K., Die Zweckmäßigkeit in der Entwicklungsgeschichte. Berlin. Julius Springers Verlag, 1920. — Weidenreich, Franz, Das Evolutionsproblem und der individuelle Gestaltungsanteil am Entwicklungsgeschehen. Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik, Heft 27. Berlin, Julius Springers Verlag, 1921. 6o6 Sechzehntes Kapitel. Vorgang mit so großer Sicherheit als wirklich annehmen läßt?“ Und er gibt hierauf die Antwort: „Nichts anderes als die Macht der Logik; wir müssen Naturzüchtung als das Erklärungs- prinzip der Umwandlungen annehmen, weil uns alle anderen schein- baren Erklärungsprinzipien im Stich lassen und weil es nicht denk- bar ist, daß es noch ein anderes Prinzip geben könne, welches die Zweckmäßigkeiten der Organismen erklärt, ohne ein zwecktätiges Prinzip zu Hilfe zu nehmen. Es ist mit anderen Worten die einzig denkbare natürliche Erklärung der Orga- nismen, als Anpassungen an die Bedingungen auf- gefaßt.“ Was indessen Weismann selbst von der „Macht dieser Art Logik“ hält, darüber spricht er sich an einer Stelle einer späteren Schrift über die Selektionstheorie (1909, p. 47) aus: „Wir dürfen wohl sagen, daß der Selektionsprozeß mit logischer Notwendigkeit aus der Erfüllung der drei Voraussetzungen der Theorie: Varia- bilität, Vererbung und Kampf ums Dasein mit seiner bei allen Arten enormen Vernichtungsziffer hervorgehe“ etc. „Diesem logischen Beweis kann man indessen eine gewisse Un- sicherheit vorwerfen, eben wegen unseres Unvermögens, den Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen im einzelnen nachzuweisen. Wir sind also auf einen Wahrscheinlich- keitsbeweis angewiesen. Derselbe liegt in der Er- klärungskraft der Theorie.“ Über diese aber bemerkt Weismann gleich darauf: „Der stärkste Beweis für die Kraft des Selektionsprinzips liegt in der Unzahl von Erscheinungen, die auf keine andere Weise (?) erklärt werden können. Dahin gehören alle Bildungen, welche dem Organismus nur passiv von Vorteil sind, weil sie alle aus dem vermeintlichen ,LAMARCKschen Prinzip4 nicht her vor gegangen sein können.“ (Hierzu vergleiche man Seite 588—592.) In seiner Beweisführung für die „Allmacht der Naturzüchtung,“ setzt also Weismann an Stelle des zuerst verkündeten „logischen Beweises“ den „Wahrscheinlichkeitsbeweis“, der in der Erklärungs- kraft der Theorie liegt. Der Wahrscheinlichkeitsbeweis ist aber bei näherer Betrachtung nichts mehr als eine Art apagogischer Beweis, wie solcher früher in der kirchlichen Scholastik mit unter den Beweismitteln für das Dasein Gottes aufgeführt und in den Schulen gelehrt wurde. Denn ist es nicht ein „apogogischer Be- weis“, wenn Weismann an einer anderen Stelle (1. c. p. 61) der- selben Schrift bemerkt: „Auch wenn wir nicht imstande wären, Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 607 einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit zu erbringen, d. h. durch direkte Beobachtung zu zeigen, daß die kleinen individuellen Variationen im einzelnen Fall den Ausschlag geben und darüber entscheiden können, wer in Nachkommen weiterleben soll und wer nicht — selbst dann müßten wir Selektion doch annehmen, weil sie die einzige mögliche Erklärung ist, welche wir für ganze Klassen von Erscheinungen geben können, und weil sie sich andererseits aus Faktoren zusammensetzt, welche als tatsächlich vorhanden nachgewiesen werden können, und welche, wenn vor- handen, mit logischer Notwendigkeit so Zusammen- wirken müssen, wie die Theorie es verlangt. Wir müssen sie annehmen, weil die Erscheinungen der Entwicklung und der Anpassung einen natürlichen Grund haben müssen.“ Aus derartigen Bekenntnissen Weismanns geht wohl für jeden, der hören und sehen will, mit genügender Klarheit hervor, daß die Selektionstheorie auch jetzt, wo mehr als 60 Jahre seit dem Er- scheinen von Darwins Entstehung der Arten verflossen sind, als Theorie nicht derartig gesichert ist, daß nicht Zweifel über die große, ihr zugeschriebene Tragweite berechtigt wären. Anstatt von einer „Allmacht“ wird von sehr angesehenen Forschern auch von einer „Ohnmacht der Naturzüchtung“ gesprochen (Spencer), und Darwins Freund und Verehrer Huxley machte schon zur Zeit des größten Enthuasiasmus für die neue Lehre einen scharfen Unterschied zwischen Entwicklungslehre und Selektions- theorie in bezug auf die ihnen innewohnende Sicherheit. Denn er bemerkt: „Wenn die DARWiNsche Hypothese auch weggeweht würde, die Entwicklungslehre würde noch stehen bleiben, wo sie stand.“ Darwin selbst war sich der Schwächen seiner Theorien wohl bewußt und ist, wenn ich seine Schriften recht verstehe, weit von der Sicherheit Weismanns und Haeckels entfernt. Häufig hat er Zweifel empfunden, die ihn veranlaßten, sich nach neuen Be- weisen umzusehen. „Einige Schwierigkeiten“, bemerkt er noch in der 5. Auflage seines Hauptwerks, „sind von solchem Gewicht, daß ich bis auf den heutigen Tag nicht an sie denken kann, ohne in gewissem Maße wankend zu werden“ (1. c. 1872, p. 184). Vor allen Dingen hat er sich, wie früher schon hervorgehoben wurde, energisch dagegen verwahrt, daß er die natürliche Zuchtwahl für das einzige Mittel zur Abänderung der Lebensformen halte. Im Gegenteil, er sucht überall auch noch nach anderen 6o8 Sechzehntes Kapitel. Hilfsprinzipien, die er häufig mit der Selektion kombiniert wirken läßt. Daher finden sich nicht selten Aussprüche, wie folgende: „Etwas mag der bestimmten Einwirkung der äußeren Lebens- bedingungen zugeschrieben werden; wie viel aber, das wissen wir nicht. Etwas, und vielleicht viel, mag dem Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe zugeschrieben werden. Dadurch wird das Endergebnis unendlich verwickelt“ (1. c. 1872, p. 53). Die Variabilität läßt er durch viele unbekannte Gesetze geregelt werden, er mißt eine große Bedeutung „den Gesetzen der Korrelation und des Wachstums“ bei. An einer anderen Stelle (p. 150) bekennt Darwin offen: „Wenn eine Abänderung für ein Wesen von dem geringsten Nutzen ist, so vermögen wir nicht zu sagen, wieviel davon von der häufenden Tätigkeit der natürlichen Zuchtwahl und wieviel von dem bestimmten Einfluß äußerer Lebensbedingungen herzuleiten ist. So ist es“, fügt er als Beispiel hinzu, „den Pelz- händlern wohl bekannt, daß Tiere einer Art um so dichtere und bessere Pelze besitzen, je weiter nach Norden sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wieviel von diesem Unterschied davon herrühre, daß die am wärmsten gekleideten Individuen viele Generationen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wieviel von dem direkten Einfluß des Klimas? Denn es scheint wohl, als ob das Klima einige unmittelbare Wirkungen auf die Beschaffenheit des Haares unserer Haustiere ausübe.“ Und wieder an anderen Stellen heißt es (p. 227): „In vielen Fällen sind Modifikationen wahrscheinlich das direkte Resultat der Gesetze der Abänderung oder des Wachstums, unabhängig davon, daß dadurch ein Vorteil erreicht wurde“, oder (p. 228): „Die Anpassungen können in vielen Fällen durch den vermehrten Gebrauch oder Nichtgebrauch, unterstützt durch direkte Einwirkung äußerer Lebensbedingungen, leicht affiziert werden und sind in allen Fällen den verschiedenen Wachstums- und Abände- rungsgesetzen unterworfen.“ Die Notwendigkeit und Mitwirkung der Zuchtwahl für die Bildung neuer Formen wird sogar ausge- schlossen in der Bemerkung (p. 233): „Für jede unbedeutende indivi- duelle Verschiedenheit muß es ebensogut wie für stärker ausge- prägte Abänderungen, welche gelegentlich auftreten, irgendeine b ewirkende Ursache geben, und wenn die unbekannte Ursache dauernd in Wirksamkeit bleiben sollte, so ist es beinahe gewiß, daß alle Individuen der Spezies in ähnlicher Weise modifiziert werden würden.“ Man vergleiche hiermit auch die ähnlichen Aussprüche auf p. 18 1, 233, •236, 550, 568. Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 609 Indessen kann es trotz solcher Aussprüche keinem Zweifel unterliegen, daß Darwin bej der Frage nach der Ent- stehung der Arten stets den Schwerpunkt auf seine Selektionstheorie legt. Denn wie er öfters in dieser oder jener Fassung bemerkt (p. 53), ist „die über alle diese Änderungs- ursachen bei weitem vorherrschende Kraft die fortdauernd anhäu- fende Wirkung der Zuchtwahl, mag sie nun planmäßig und schneller, oder unbewußt und langsamer, aber wirksamer in Anwendung kommen“. Infolge der von Darwin geübten Kombinierung verschiedener Prinzipien wird der Leser gewöhnlich im unklaren gelassen, was auf das Konto des einen oder des anderen zu setzen ist. Aber gerade durch diesen Umstand hat die Selektionstheorie, was für die Geschichte ihrer Verbreitung sehr ins Gewicht fällt, in der von Darwin vorgetragenen und auch von Haeckel, Plate u. a. fest- gehaltenen, sehr unbestimmten und oft recht unklaren Fassung einen höheren Grad von Anpassungsfähigkeit auf verschiedenartige Fälle und eine größere suggestive Kraft erhalten; zugleich rührt aber von diesem Verfahren auch die Unbestimmtheit und Unklar- heit her, welche mit den Schlagworten „Anpassung im Kampf ums Dasein, Auswahl des Passenden“ verknüpft ist; sie ist erst durch die dogmatische und schärfer gefaßte Darstellung Weismanns be- seitigt worden. Wie man vom Standpunkt des objektiven Naturforschers und Psychologen im Hinblick auf die Geschichte des Darwinismus und auf die angeführten Aussprüche seines Begründers und seiner An- hänger wohl sagen kann, ist die Selektionstheorie in der Seele Darwins unter dem Einfluß des in England herrschenden Utili- tarismus in Philosophie und Nationalökonomie als ein geistreicher Einfall entstanden. Nach dem Vorbild des menschlichen Züchters wurde die natürliche Züchtung als eine Formel ausgedacht, um die Entstehung der Arten zu erklären. Sie wirkte fortan als treibendes Motiv in Darwins Betrachtungsweise der Beziehungen der Lebe- wesen zu ihrer Umwelt. Da nach der Selektionsformel die Ent- stehung der Eigenschaften der Organismen durch den Nutzen und Vorteil, welchen sie ihren Trägern verschaffen, bestimmt wird, so wurde das Aufspüren des Nutzens zur Hauptaufgabe für die Er- forschung der Ursprungs der Arten; und da nun schließlich jedes Organ und jeder Bestandteil von Pflanze und Tier sich von irgend- einem Gesichtspunkte aus als nützlich, vorteilhaft und zweckmäßig beurteilen läßt, so wurde hierin wieder ein Beweis für die Richtig- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 39 6io Sechzehntes Kapitel. keit der ausgedachten Formel erblickt. Unter diesem leitenden Motiv wandelte sich die Forschen gsmethode Darwins mehr und mehr zu einer reinen Manier um, die in dem Buch über die ge- schlechtliche Zuchtwahl schließlich ihren Gipfelpunkt erreicht hat. Unter deutschen Forschern aber ist niemand mehr als Weismann in die Fußtapfen seines Meisters getreten. Schon oft und von verschiedenen Seiten, darunter auch von hervorragenden Naturforschern und Philosophen, sind gegen die Tragweite der Selektionstheorie sehr berechtigte Einwände erhoben worden, von C. E. v. Baer, von Wigand, von Ed. v. Hartmann, dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten, von Nägeli, Krapotkin, Driesch, Wolff, Pauly u. a. Die Einwände haben sich von Jahr zu Jahr so verdichtet, daß man von einer Krisis des Darwinismus gesprochen hat. Eine wirkliche Klärung der Meinungen ist aber auch unter den Biologen bis zur Stunde nicht eingetreten, vielmehr hat sich, wie in früheren Perioden bei der Herrschaft der Präformationstheorie, der Lehre von der Kon- stanz der Arten usw., gezeigt, wie Ansichten, wenn sie den Cha- rakter von Glaubenssätzen angenommen haben, nicht so leicht wieder infolge eines der menschlichen Natur eigenen Trägheits- gesetzes aufgegeben werden. Um so mehr aber ist es unabweis- bare Pflicht der Wissenschaft, immer wieder von neuem den Kampf für Aufklärung und Wahrheit mit besserem Rüstzeug aufzunehmen. Denn was nicht mit den Gesetzen und den wirklichen Vorgängen in der Natur übereinstimmt, das kann sich, auch wenn es durch Autoritäten gestützt und von der Menge gläubig aufgenommen wird, gewiß nicht auf die Dauer behaupten. Es kommt die Zeit, wo es aus der lebendigen Wissenschaft wieder ausgeschieden wird und dann nur noch in der Geschichte, wie die Einschachtelungs- theorie weiterlebt. A. Kritik der Selektionstheorie in ihrer Anwendung auf die domestizierten Rassen. Darwin ist zur Aufstellung seiner Selektionstheorie durch das Studium der domestizierten Pflanzen und Tiere veranlaßt worden. Sein Hinweis auf diese hat für die Annahme seiner Lehre sehr bestechend gewirkt. Denn an und für sich kann ja nicht be- zweifelt werden, daß unter Mitwirkung des Menschen sehr viele auffällige und mit besonderen Eigenschaften ausgestattete Lebens- formen entstanden sind, die ohne ihn in der Natur zum großen Teil nicht existieren würden. Man vergleiche hierüber Kapitel XII, Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 6l I Abschnitt 3 : Über die Bedeutung der vom Menschen ausgeübten Selektion im Haushalt der Natur (S. 508). Es fragt sich nur, aus welchen Ursachen die domestizierten Rassen entstanden sind und welche Rolle die Selektion dabei gespielt hat. An diesem Punkt hat daher auch die Kritik zuerst einzusetzen. Bei Beurteilung der künstlichen Zuchtwahl kommen drei Fak- toren in Betracht: 1) der Organismus, der domestiziert wird, 2) die Einwirkung der Umwelt, 3) die Selektion des Züchters. Der erste ist der wichtigste Faktor. Denn jeder Organismus ist ein eigen- artiges, sehr kompliziertes System von reizbaren und leicht ver- änderlichen Teilen (Organen, Geweben, Zellen); er reagiert daher auf äußere Eingriffe seiner Art gemäß oder spezifisch. Doch ist der zweite Faktor für den Lebensprozeß gleich unentbehrlich und notwendig; er greift in die ganze Maschinerie des Lebens beständig mit ein. Somit hängen vom Zusammengreifen beider Faktoren naturgemäß auch alle Veränderungen ab, welche ein Organismus überhaupt erfahren kann. Der Züchter kommt, solange er nur Selektion treibt, erst an dritter und letzter Stelle in Betracht. Es ist daher die einfache, gewöhnlich nicht klar durchdachte Frage zu erwägen, ob die durch das Zusammenwirken der beiden ersten Faktoren veranlaßten Veränderungen unbestimmte oder fest bestimmte, in anderen Worten, ob sie zufällige oder gesetzmäßige sind. Je nachdem das eine oder das andere der Fall ist, wird auch die Rolle des Züchters eine verschiedene sein müssen. Denn im ersten Fall könnten die Variationen, wenn sie vom Zufall abhängen und richtungslos sind, in einer bestimmten Richtung, wie es Dar- wins Lehre annimmt, durch den Prozeß der Selektion, durch die „akkumulative Auswahl“ des Züchters geleitet werden. Da ohne sein Zugreifen der Organismus aus dem richtungslosen Variieren nicht herauskäme, dem Spiel des Zufalls als direktionsloses Gebilde der Natur preisgegeben, so würde der Züchter beim Werden des Organismus dadurch, daß er ihm erst Ziel und Richtung gibt, in einem gewissen Sinne bestimmend mitwirken. Im zweiten Falle könnte er zwar durch Veränderung der Lebensbedingungen, also indirekt, mitgewirkt haben, würde aber sonst durch Selektion die durch die Umweltsfaktoren hervorgerufenen und bereits gesetz- mäßig fixierten Variationen nur isolieren und für ihre bessere Ver- mehrung und Erhaltung sorgen. Beim Werden des Organismus spielt er dann etwa eine dem Chemiker vergleichbare Rolle, der nach bestimmten, durch Erfahrung ermittelten Methoden zwar ver- schiedene Elemente synthetisch zu neuen Verbindungen vereinigen 39* ÖI2 Sechzehntes Kapitel. kann, aber dabei doch immer nur die Bedingungen schafft, unter denen auf Grund des Naturgesetzes die Affinitäten chemischer Körper in Wirkung treten und zu Neubildungen führen müssen. Beim Streit um die Selektionstheorie handelt es sich daher in erster Linie um die Erforschung der Be- dingungen und Ursachen, unter denen die Organismen variieren, und um die Beantwortung der Frage, ob die Organismen je nach ihrer spezifischen Natur auf be- stimmte und während längerer Dauer einwirkende Reize in ihren Funktionen und in ihrer Organisation in bestimmter oder in beliebiger Richtung reagieren und variieren. Darwin selbst hat diese Kardinalfrage, von der die Beurteilung der Selektionstheorie im wesentlichen abhängt, unbeantwortet ge- lassen. Seiner unsicheren Stellung zu derselben gibt er aber einen nicht uninteressanten Ausdruck in der Bemerkung (1. c. p. 148): ,,Ich habe bisher von den Abänderungen zuweilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall veranlaßt wären. Dies ist natürlich eine ganz inkorrekte Ausdrucksweise ; sie dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besonderen Ab- weichung zu beurkunden.“ Da dies aber das Alpha und Omega ist, ob durch das Zusammenwirken von Organismus und äußeren Faktoren bestimmt gerichtete oder beliebige, unbestimmte Variationen entstehen, so entbehrt die Selektionstheorie von vornherein, solange diese Vorfrage nicht entschieden ist, einer festen, wissenschaftlichen Grundlage und hat während 60 Jahren nur als Meinungs- oder Glaubenssache ihr Dasein fristen können. Ganz im Gegensatz zu Darwin, der sich noch mit einer ge- wissen Vorsicht und zuweilen ausweichend ausgesprochen hat, haben manche seiner Anhänger die richtungslose Variation und die Rolle des Zufalls ohne weitere Prüfung als Dogma und gleichsam als etwas Selbstverständliches behandelt. Nicht selten wird man in den Schriften von Haeckel, Weismann u. a. Aussprüchen, wie dem folgenden begegnen: „Vollends wenn wir die ganze Entwicklungs- reihe verwandter Formen vergleichend ins Auge fassen, erkennen wir klar, wie die natürliche Züchtung, nach allen Rich- tungen planlos wirkend, eine allmähliche Vervollkommnung langsam herbeiführt, aber erst nach vielen vergeblichen Versuchen zuletzt etwas halbwegs , Zweckmäßiges* zufällig erreicht“ (Haekel, N. S., 10. Auf!., p. 775). Als Darwin seine Aufmerksamkeit dem Züchtungsproblem zu- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 5 1 3 wandte und zum Ausgangspunkt seiner Theorie machte, fehlten auf diesem Gebiet noch methodisch und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten durchgeführte Untersuchungen. Es lagen nur die oft wenig zuverlässigen und nicht auf den Grund der Sache ein- dringenden Angaben von Pflanzen- und Tierzüchtern vor, auf die sich Darwin häufig beruft. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die biologische Wissenschaft, zum Teil durch Darwin angeregt, mehr des Gegenstandes bemächtigt. Durch die bahnbrechenden experimentellen Untersuchungen von NäGELI, de Vries, Klebs, Johannsen, Baur, Correns, Morgan, Goldschmidt u. a., sowie durch die neu geschaffene Mendelforschung ist ein besseres Ver- ständnis gewonnen worden. Wir wissen jetzt, daß der Züchter auf zwei Wegen neue Kulturformen von Lebewesen gewinnen kann. 1. Die beiden experimentell festgestellten Wege, auf denen abgeänderte Organismen entstehen. a) Die Kombination zweier Idioplasmen. Der eine Weg, mit dem ich beginnen will, weil hier die schon im III. Kapitel besprochenen Verhältnisse für die Kritik am klarsten liegen, ist die Kombinierung von zwei Idioplasmen mit wenigen differenten Merkmalen durch Bastardierung von Eiern und Samenfäden, die von zwei durch wenige Merkmale unterschiedenen Varietäten oder nahe verwandten Spezies herrühren. Schon von den ältesten Zeiten an haben Kreuzungen eine sehr wichtige Rolle bei der Vermehrung der domestizierten Pflanzen und Tiere gespielt und haben wohl mit am meisten dazu beigetragen, die ungeheure Mannigfaltigkeit, die sie uns in der Gegenwart zeigen, hervorzu- bringen. Durch die neue Wissenschaft der Mendelforschung, durch ihre Lehre von der Selbständigkeit der Erbeinheiten, durch die Lehre von der Mischbarkeit und Kombination der Erbeinheiten nach dem Wahrscheinlichkeitsgesetz ist auch schon ein tiefer Ein- blick in das Gesetzmäßige der Erscheinungen gewonnen worden, wie uns das III. Kapitel (S. 72 — 96) gelehrt hat. So kommen z. B. bei Vermischung von 2 Varietäten mit 10 differenten Merkmals- paaren (Polyhybriden) 1024 äußerlich verschiedene Lebensformen nach einigen Generationen rechnungsmäßig zustande. Auf diesem Wege erhält der Züchter die beste Gelegenheit, für seine Zwecke geeignete Formen zu weiterer Fortzucht und Reinkultur auszuwählen. In großen Gärtnereien und Samenzüchtereien werden so z. B. besonders gefärbte, aus ästhetischen Gründen beliebte und daher 6i4 Sechzehntes Kapitel. vom Händler gewünschte Varietäten aus Kulturen von Mischlingen ausgelesen, nach Vernichtung der übrigen durch Samen weiter vermehrt und nach wenigen Generationen bei konsequent durch- geführtem Verfahren als samenbeständige Neuheiten in den Handel gebracht. Wenn ein Mischling mit homozygoten Merkmalspaaren isoliert worden ist und dann durch Verhütung neuer Kreuzungen in reinen Linien fortgezüchtet wird, so wird er sich konstant er- halten. Wenn es sich dagegen um einen heterozygoten Mischling handelt, so muß er trotz fortgesetzter Selektion und Reinzucht eine verschiedenartige Nachkommenschaft liefern, da nach der Mendel- schen Spaltungsregel immer wieder von neuem Spaltungen ein- treten. Infolge seiner Studien ist daher Bateson in eine Oppositions- stellung zur Selektionstheorie gedrängt worden. „Selektion wird niemals“, bemerkt er sehr zutreffend, „die blauen Andalusier (hetero- zygotische Mischlinge einer schwarzen mit einer weißen schwarz- fleckigen Hühnerrasse) konstant machen können ; eine solche Kon- stanz könnte nur dadurch erfolgen, daß ein blaues Tier entstände, dessen Gameten selbst den „blauen Charakter“ trügen; ob dies mög- lich ist oder nicht, ist eine Frage für sich. Falls der Selektionist nur über diese Erfahrung nachdenkt, wird er direkt ins Zentrum unseres Problems geleitet; es werden ihm sozusagen die Schuppen von den Augen fallen, und mit einem Schlage wird er die wahre Meinung von Typenfestheit, Variabilität und Mutation sehen, welche nicht mehr luftige Mysterien sind.“ Es ist wichtig, sich nach allen Richtungen darüber vollkommen klar zu werden, warum dieErgebnisse der Mendelforschung mit Darwins Selektionstheorie nicht in Einklang ge- bracht werden können, obwohl der Züchter in diesem Falldochauch eine AuswahloderSelektion trifft. Aber diese ist etwas ganz anderes als die Selektio n, welche dasWesen der DARWlNschen Theorie ausmacht. Denn weder schafft sie etwas Neues noch vervollkommnet sie bei der Fortzucht das Ausgewählte Schritt für Schritt durch Häufung kleiner, zufälliger Verbesse- rungen in der Beschaffenheit des gewünschten Merk- mals. Der Zufall ist bei dem ganzen Vorgang ebenso ausgeschaltet, als wenn zwei mit gegenseitigen Affi- nitäten begabte chemische Substanzen sich zu einer dritten Substanz untereinander verbinden. Wie in der Chemie die Verbindungen, so entstehen auch durch Vermischung Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 615 zweier Idioplasmen neue Lebensformen nach feststehenden und uns zum Teil bekannten Gesetzen. Durch die Selektion werden neu aufgetretene Formen, welche ohne Wirkung neuer Ursachen un- veränderlich und nicht mehr verbesserungsfähig sind, nur aus einem Gemisch mit anderen isoliert; zugleich wird für ihre raschere Ver- mehrung gesorgt. Wenn hierbei die nicht gewünschten Formen zugleich vernichtet werden, so kann das Verhältnis zwischen den ausgewählten und den verworfenen mendelnden Individuen auch als ein „Überleben des Passenden“ oder als „Kampf ums Dasein“ (bei dem der auswählende Mendelforscher zugleich der Kampfrichter ist) bezeichnet werden. Auch von Anpassung kann man reden, und zwar an den Geschmack und die Wünsche des Züchters. Denn unter dem Einfluß von Darwin sind die in der Darwinistischen Literatur eingebürgerten, sattsam bekannten Schlagwörter, welche meist menschlichen Verhältnissen entlehnt und in weitestem bild- lichen Sinne gebraucht werden , so dehnbare Begriffe geworden, daß sie sich für alle möglichen Naturvorgänge verwenden lassen. Demnach ist aus dem Studium der Bastardbefruchtung und im Hinblick auf die Ergebnisse der Mendelforschung folgende Lehre zu ziehen: Die vom Züchter auf diesem Gebiet ausgeübte Selektion ist ohne jeden Einfluß auf die Entstehung neuer Formen von Lebewesen, da diese ja nachge- wiesenermaßen von ganz anderen Faktoren abhängt und daher in anderer Weise ihre naturwissenschaft- liche Erklärung findet. Seine Tätigkeit ist vielmehr auf eine engeres Gebiet beschränkt. Geleitet durch die verschiedensten Beziehungen, die sich zwischen dem Menschen und den ihn umgebenden Lebewesen bilden, übt derZüchter in unserem Fall einenEinfluß auf die Erhaltung, Verbreitung und die Zahlenver- hältnisse der seinem Machtbereich unterworfenen Lebewesen aus. Dadurch, daß er die einen erhältund ihre Vermehrung begünstigt, die anderen zurück- drängt oder vernichtet, verändert er in beschränkter Weise das Gesamtbild der Lebewelt, aber nicht da- durch, daß er neue Lebensformen schafft; denn diese werden ihm ja durch die Natur schon fertig geliefert. Hier liegt ein 1 ogisches Verhältnis, über welchessich die unentwegten Darwinianer vor allen Dingen recht klar werden sollten. Denn ohne Zweifel fällt hier die ganze Tätigkeit des Züchters bei der Selektion auch 6i6 Sechzehntes Kapitel. unter den Begriff der direkten Bewirkung; und zwar sind dabei die bewirk enden Ursachen die ausden ver- schiedensten Motiven hervorgehenden Eingriffe des Menschen in den Bestand der Lebewelt, die auf diese Weise seinen Wünschen und seinen Launen angepaßt wird. Man vergleiche hiermit auch Kapitel XII Abschnitt 3: Über die Bedeutung der vom Menschen ausgeübten Selektion im Haushalt der Natur (S. 508). b) Durch Mutation des Idioplasma entstehende, abgeänderte Organismen. Nachdem wir beim Studium der neuen Formen von domesti- zierten Lebewesen, welche durch die Bastardierung erhalten werden, erkannt haben, daß bei der Entstehung neuer Eigenschaften und Organisationsverhältnisse ein akkumulatives Wahlvermögen des Züchters im Sinne Darwins nicht mitwirkt, wenden wir uns dem zweiten Wege zu. Auf diesem können neue Kulturformen von Pflanzen und Tieren zustande kommen, wenn geeignete wilde Arten unter mehr oder weniger veränderte Lebensbedingungen gebracht werden. Pflanzen beginnen zu variieren, abgesehen von anderen Umständen, infolge intensiver Düngung des Bodens, also durch chemische Eingriffe, besonders wenn diese während der Entwick- lung der Keimlinge aus dem Samen oder während der Samen- bildung in der Mutterpflanze ein wirken. Der Zucht der Sämlinge im Mistbeet, im Treibhaus, im gut vorbereiteten, nahrungsreichen Boden verdankt der Gärtner einen großen Teil seiner Erfolge. Seit den klaren und experimentell gut begründeten Auseinander- setzungen von Nägeli, von DE Vries, Klebs u. a. lassen sich die so entstehenden Abänderungen in zwei wesentlich verschiedene Gruppen trennen, in die schon früher besprochenen Mutationen und in die Modifikationen (Varianten). Mutationen, über welche das wichtigste Tatsachenmaterial schon auf Seite 355 — 372 mitgeteilt worden ist, sind erblich gewordene und im Idioplasma fixierte Abänderungen, welche innerhalb einer Art plötzlich und ohne Übergänge in die Erscheinung treten und auch unter veränderten Kulturbedingungen erhalten bleiben. Aus dem Samen einer Mutation gehen immer wieder in derselben Rich- tung mutierte Nachkommen hervor. Nach Nägeli muß auf dem Gebiet der Mutationslehre DE Vries wegen seiner langjährigen und gründiichen Experimente als erste Autorität geschätzt werden, so daß auf sein Urteil das größte Gewicht zu legen ist. Nach Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 617 seinen Erfahrungen finden Mutationen mit einem Male statt und stellen einen plötzlichen Sprung von der normalen Pflanze zu der veränderten und zugleich erblich gewordenen, neuen Form dar (1. c. 1906, p. 290, 291, 346). Sie treten bei Arten, die zu Mu- tationen neigen, öfters sowohl zuv erschiedenen Zei ten als auch gleichzeitig in einer größeren Zahl verschie- dener Individuen auf. Alles deutet darauf hin, daß eine gemeinsame Ursache für ihr Entstehen vorhan- den sein muß, daß die Mutabilität der Ausdruck eines verborgenen Zustandes oder einer verborgenen Ten- denz, also etwas durchaus Gesetzmäßiges sein muß (1. c. 1906, p. 346 u. 291). Der neue Zustand äußert sich gewöhn- lich in mehreren Merkmalen, die durch dieselbe Ursache zusammen beeinflußt worden sind, so daß die ganze Konstitution eine etwas veränderte geworden ist. Auch nach den Berichten, welche Gärtner über die Herkunft der von ihnen in den Handel gebrachten Neuheiten seit ico Jahren veröffentlicht haben und die von DE Vries und Korschinsky sorgfältig zusammengestellt sind, ist das plötzliche Auftreten der Abarten, ihre Samenbeständigkeit und ihre Konstanz bei fort- gesetzter Reinkultur die Regel. Daher sprechen sowohl de Vries, wie KORSCHINSKY u. a. als ihre feste Überzeugung aus, daß in derartigen Fällen neue Arten unabhängig von natür- licher Auslese entstanden sind. DE Vries bezeichnet dies als den Grundgedanken seiner Mutationstheorie (1. c. 1906, p. 140). Demselben haben übrigens einzelne Züchter, gestützt auf ihre aus- gebreiteten Erfahrungen , schon ehe sich die Wissenschaft des Gegenstandes bemächtigt hat, einen unzweideutigen Ausdruck ge- geben, wie ich zwei literarischen Angaben von DE Vries entnehme. Der belgische Züchter de Mons, welcher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele der jetzt am meisten bekannten Sorten in den Handel gebracht hat, sagt ausdrücklich, daß er selbst keine neue Formen hervorgebracht hat. „La nature seule cree“ (de Vries, 1. c. 1901, Bd. I, p. 126). Den gleichen Gedanken spricht ein von JORDAN mitgeteiltes, von Züchtern zuweilen gebrauchtes Scherz- wort aus: „Die erste Bedingung, um eine Neuheit hervorzubringen, ist, sie bereits zu besitzen.“ Demnach kann esbeimheutigen Stand der Wissenschaft nicht mehr zweifelhaft sein, daß Mutationen unabhängig von Selektion entstehen. Wenn mit ihnen dann noch eine Selektion vom Züchter getrieben wird, so ist sie für die Frage nach dem 6i8 Sechzehntes Kapitel. „Werden der Organismen“ etwas ganz Unwesentliches, und hat keine andere Bedeutung, als die bei der Kombi- nation zweier Idioplasmen vorgenommenen Sortie- rung der nach einem Naturgesetz aus ihr entstehen- den verschiedenen Formen. 2. Auswahl und Sortierung von Varianten. Zu den Mutanten bilden die im VIII. Kapitel eingehend be- sprochenen Artvarianten oder die Modifikationen einen Gegensatz, indem sie nicht wie jene im Idioplasma unabänderlich fixiert sind; sie beginnen wieder zu schwinden, wenn die Kulturbedingungen, infolge deren sie aufgetreten sind, nicht mehr einwirken. Manche Kulturformen verwildern wieder oder schlagen, wie sich der Bota- niker ausdrückt, in den Naturzustand zurück. Äpfel- und Birn- bäume bringen dann anstatt saftiger, wohlschmeckender Früchte nur wieder Holzäpfel und Holzbirnen hervor, Treibhausprimeln und großblumige Stiefmütterchen bilden auf magerem Sandboden bald nur erheblich kleinere Blüten. Es ist derselbe Fall wie bei den Standortsmodifikationen, z. B. bei der Versetzung mancher Pflanzen aus der Ebene ins Hochgebirge und umgekehrt. Die Hauptaufgabe des Gärtners, um die domestizierte Form mit ihren Vorzügen zu erhalten, läuft hier im wesentlichen darauf hinaus, für den Fort- bestand gleich günstiger Kulturbedingungen zu sorgen. Für Darwin haben die Modifikationen, für deren leicht schwankende Abänderung der Begriff der fluktuierenden Variabilität eingeführt wurde, eines der wichtigsten Beweismittel für die Ent- stehung der Arten nach den Prinzipien der Selektionstheorie ge- bildet. Jetzt ist auch diese Hauptstütze durch planmäßig durch- geführte experimentelle Forschung erschüttert worden. Geradezu bahnbrechend haben hier die Studien von Johannsen über die fluktuierende Variabilität gewirkt. Nach ihnen kann es fast als erwiesen betrachtet werden, daß die Züchter ihre Kulturpflanzen nicht durch planmäßige Häufung kleiner Veränderungen Schritt für Schritt und durch Auswahl des Passenden nach Darwin ver- bessern, sondern nach Vilmorins Prinzip der individuellen Nachkommenbeurteilung. Das heißt: die Züchter arbeiten mit einem unreinen Ausgangsmaterial, das schon aus genotypisch verschiedenartigen Bestandteilen, aus mehreren reinen Linien zu- sammengesetzt ist; sie nehmen bei ihrem Eingreifen eine Sortie- rung des Gemisches vor, indem sie die für ihre Zwecke am meisten taugliche Linie (vgl. Kap. VII, S. 286) auswählen und sie durch Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 6 1 9 Reinzucht erhalten. Ist dieselbe einmal aussortiert und dadurch eine bessere Rasse von Bohnen, von Zuckerrüben, von Gerste, von Hafer etc. gewonnen worden , so kann auch durch fort- gesetzte Selektion der Charakter der reinen Linie nicht mehr geändert werden. Ich verweise auch auf das VIII. Kapitel über fluktuierende Variabilität und ergänze es nur durch die wichtigen Schlußfolgerungen, welche sich durch ihr ge- naueres Studium für die Beurteilung der Selektionstheorie ergeben . Wie wir früher gesehen haben, lassen sich aus einem Bohn en- gemisch durch sorgfältige, über längere Zeit ausgedehnte Rein- kulturen mehrere „reine Linien“ heraussortieren. Eine solche ist „der Inbegriff aller Individuen, wTelche von einem einzelnen, absolut selbst befruchtenden, homozygotischen Individuum abstammen“ Sie bildet die einzige zuverlässige Grundlage für eine exakte Erb- lichkeitsforschung. Auch innerhalb einer reinen Linie zeigen die einzelnen Bohnensamen eine fluktuierende Variabilität in bezug auf Größe, Gewicht und andere Merkmale; sie variieren um ein be- stimmtes Mittel und werden hiernach als Plus- und Minusvarianten unterschieden. Diese Unterschiede sind aber nicht erblich (geno- typisch); sie sind nur durch die verschiedene Lebenslage bedingt. Wenn man daher unter gleichen Bedingungen kleinere und größere, oder leichtere und schwerere Bohnen aussät, so erhält man Pflanzen, die sich in bezug auf die neue Ernte nicht voneinander unter- scheiden. Sowohl die aus leichteren wie die aus schwereren Bohnen- samen gezüchteten Pflanzen liefern eine Ernte von Plus- und Minusvarianten, die genau wieder um dasselbe Mittel schwanken, wobei es gleichgültig ist, ob die Pflanzen aus einem leichteren oder schwereren Bohnensamen stammen. Und dieses Ergebnis bleibt konstant, auch wenn man die Kulturen über eine längere Reihe von 6 Generationen ausdehnt. Johannsen faßt daher das Resultat seiner Versuche in die Sätze zusammen: „In reinen Linien ist keine Wirkung von Selektion der Plus- und Minusabweicher zu spüren, sie ist auch bei länger fortgesetzter Kultur fast gleich Null; Ausschläge der fluktuierenden Variabilität sind nicht erblich.“ Zu demselben Er- gebnis führten Experimente, bei welchen die Form der Bohnen- samen, bestimmt nach ihrem Längs- und Breiten durchmesser, zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht wurde. (Man vergleiche hierzu Kapitel VIII, S. 315—335.) Ausdehnung der Zucht in reinen Linien auf andere Pflanzen- arten hat zu entsprechenden Resultaten geführt. So haben Ver- 620 Sechzehntes Kapitel. suchsreihen mit „schartiger Gerste“, welche eine Abnormität ist, ebenfalls keine Wirkunng der Selektion in reinen Linien ergeben. Für die Richtigkeit dieser Auffassung fallen namentlich schwer ins Ge- wicht die in 15 Jahren gesammelten Erfahrungen von Nilsson-Ehle, welcher als Direktor der Zuchtanstalt in Svalöff die Methoden zur Verbesserung der Getreide- und Hülsenfruchtrassen geprüft und schon seit 1892 den Standpunkt vertreten hat, daß „seine Pedigree- kulturen (d. h. Kultur in reinen Linien) durch Selektion nicht ge- ändert werden, und daß neue Typen ganz unabhängig von einer Selektion durch stoßweise Änderungen — eventuell auch durch Kreuzung — entstehen“. Besonders schön hat sich dieses — wie JOHANNSEN in seinem Werk hervorhebt — bei Untersuchung der Winterfestigkeit der Weizenrassen gezeigt. „Bei reinen Linien war eine Selektion derjenigen Individuen, welche den ungünstigen Winter überlebt haben, nicht imstande, die .Festigkeit' der betreffenden Linien zu verbessern. Arbeitet man aber mit einer gemengten Population, welche Linien verschiedenen Festigkeitsgrades enthält, dann ist es leicht, durch Selektion die winterfestesten Formen her- auszuzüchten, ganz wie wir es für die Bohnenpopulation in bezug auf Größe oder Breitenindex erwähnt haben. Selektion ver- schiebt aber nicht den Typus der reinen Linien.“ Nach dem Urteil von JOHANNSEN, welcher über den fraglichen Gegenstand auf Grund langjähriger Experimente am scharfsinnig- sten nachgedacht hat (1. c. p. 166), ist bis auf den heutigen Tag keine einzige Tatsache bekannt, welche andeuten könnte, daß „durch Auswahl von Plus- oder Minusvarianten einer genotypisch einheit- lichen Population erbliche Unterschiede erzeugt werden“. Zu demselben Resultat gelangte der Botaniker KORSCHINSKY, der, um den Wert der Selektionstheorie zu prüfen, sich mit dem Studium der Entstehung neuer Formen in der Gartenkultur be- schäftigte, da Darwin auf ihr seine Lehre in der Hauptsache auf- gebaut hat. Er mußte sich aber bald überzeugen, wie er bemerkt (1. c. p. 241), daß die Schlußfolgerungen, zu denen Darwin in bezug auf die Entstehung der kultivierten Formen gelangt war, auf einer unrichtigen Auffassung der Tatsachen beruht. „Wenig- stens kann ich“, erklärt er, „in bezug auf die Gartenpflanzen ent- schieden behaupten , daß kein einziger Züchter jemals zur Ge- winnung von neuen Rassen mit individuellen Merkmalen ope- rierte, und daß niemals eine Häufung der letzteren beobachtet wurde.“ Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 6 2 3. Zusammenfassung der Kritik. Wenn wir daher zum Schluß aus unserer Kritik der künst- lichen Zuchtwahl, von welcher Darwin dann zur natürlichen Zucht- wahl geführt worden ist, das Ergebnis in wenigen Worten zu- sammenfassen, so kann dasselbe nur lauten: Der Züchter kann durch Selektion nichts Neues produzieren. Seine Kunst besteht ausschließlich im Auffinden und in der geschickten Auswahl für seine Zwecke geeigneter erblicher Abän derun gen von Lebewesen, welche die Natur entweder durch Kombination zweier verschie- dener Idioplasmen oder durch Mutation eines be- stehenden Idioplasma hervorgebracht hat. Wie schon früher erwähn t wurde, ist „die erste Bedingung, um eine Neuheit hervorzubringen, sie bereits zu be- sitzen“. Wer, auf diese neuzeitlichen Fortschritte der Wissenschaft ge- stützt, in Darwins Buch von der Entstehung der Arten das erste Kapitel: „Abänderung im Zustand der Domestikation“, wieder auf- merksam durchliest, wird über die ganz außerordentliche Schwäche de r Fundam ent e, auf denen die Selektions- theorie von ihm aufgebaut worden ist, erstaunt sein. Zwar hat Darwin auch die Entstehung neuer Rassen durch Bastardierung in Erwägung gezogen. Er rechnet mit der Möglich- keit, daß unsere Rinder-, Hunde-, Hühner- und Taubenrassen von mehreren wilden Arten durch Kreuzung abstammen. Mit der Zucht von Taubenrassen hat er sich selbst eingehend beschäftigt; aber er ist auf diesem Wege zu keinem, die Frage nach der Ent- stehung einer Tierart irgendwie klärenden Ergebnis gekommen. So sagt er z. B. : „Wir wissen nichts über den Ursprung und die Geschichte irgendeiner unserer Hausrassen“ (1. c. p. 49) oder: „Die Veredelung rührt im allgemeinen keineswegs davon her, daß man verschiedene Rassen miteinander gekreuzt hat. All die besten Züchter sprechen sich streng gegen dieses Verfahren aus, es sei denn zuweilen zwischen einander nahe verwandten Unterrassen“ (p. 41). In Darwins erstem Kapitel wird man vergeblich nach Beweisen suchen, welche uns zur Annahme seiner Behauptung ver- anlassen könnten: „Der Schlüssel (für die Entstehung der domesti- zierten Rassen) liegt indem akkumulativen Wahlvermögen des Menschen; die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen; der Mensch summiert sie in gewissen Ö22 Sechzehntes Kapitel. ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er habe sich nützliche Rassen ge- schaffen“ (p. 40). Ebenso gibt das von Darwin zusammengestellte Material von Tatsachen keine Berechtigung zu dem allgemeinen Satz, mit dem er das erste Kapitel seines Buches in einer kurzen Zusammenfassung abschließt : Die über alle diese Änderungsursachen bei weitem vor- herrschende Kraft ist die fortdauernd anhäufende Wirkung der Zuchtwahl, mag sie nun planmäßig und schneller, oder unbewußt und langsamer, aber wirksamer in Anwendung kommen“ (p. 53). So also sieht es mit der wichtigsten Grundlage und mit dem Ausgangspunkt von Darwins Selektionstheorie aus. Es wäre gewiß recht wünschenswert, wenn seine Anhänger über diese Sachlage einmal gründlich und ohne Voreingenommenheit nachdenken wollten. 4. Der logische Irrtüm in der Begründung der Lehre von der künstlichen Zuchtwahl. Um unseren ablehnenden Standpunkt auch für Fernstehende noch überzeugender zu machen, wird es, wTie ich glaube, beitragen, wenn ich auf die Ursache ein gehe, warum der Gedanke der künst- lichen Zuchtwahl auf Darwin, auf die von ihm beeinflußten Bio- logen und auf wissenschaftlich interessierte Laien einen so starken Eindruck gemacht hat und noch zur Stunde macht. Offenbar können sich manche Forscher, die sich in ihm verstrickt haben, nur schwer von ihm wieder lossagen. Die Ursache beruht nicht bloß in der richtigen Einschätzung der durch Beobachtung und Ex- periment festgestellten Tatsachen, sondern auch und vielleicht noch mehr in begrifflichen Unklarheiten, die sich bei der Be- wertung der Leistungsfähigkeit der künstlichen Zuchtwahl und beim Gebrauch so wenig scharf umschriebener Ausdrücke, wie Selektion, akkumulatives Wahlvermögen, Entstehung der Arten, leicht ein- stellen. Daher soll jetzt auch noch eine Klärung in dieser Richtung versucht werden. Ich räume ein, daß man durch Selektion und Zuchtwahl im Artbild Veränderungen erzielen kann ; füge aber gleich einschränkend hinzu, daß diese mit dem Werden der Organismen und mit den hierbei wirksamen Faktoren in keinem Zusammenhang stehen und daher auch nicht geeignet sind, für beide eine kausale Erklärung zu liefern. Selektion ist für das Werden der Organismen nur ein Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 623 rein negativer Faktor, der durch Vernichtung von Lebewesen oder durch Verhinderung ihrer Vermehrung durch Zeugung die Zu- sammensetzung der Lebewelt verändert, aber in der Organisation der von ihr Ausgewählten auch nicht die geringste Veränderung hervorbringen kann. Neue Eigenschaften der Organismen in ihrem Bau und ihrer Funktion können nur nach dem Prinzip der direkten Bewirkung und auf Grund der allgemeinen Naturgesetze entstehen, denen das Werden der Organismen ebensogut wie alles physikalische und chemische Geschehen unterliegt. Ein Beispiel soll uns gleich zur Erläuterung des Gesagten, in dem man einen Widerspruch erblicken könnte, dienen : Die Spezies „Pferd“ setzt sich aus weiß, schwarz, fuchsig und anders gefärbten Individuen zusammen. Unter diesen Verhältnissen ist nichts leichter, als daß ein Tierzüchter auf einer größeren Insel oder in einem gegen die Umgebung isolierten Land durch konsequente, während mehrerer Generationen durchgeführte Abschlachtung aller Rappen und Füchse ' und durch Beschränkung der Fortzucht nur auf die weißen Individuen eine reine Rasse von Schimmeln züchtet; eben- sogut könnte nach derselben Methode der künstlichen Zuchtwahl auf zwei anderen abgegrenzten Gebieten hier eine reine Rasse von Füchsen, dort von Rappen gezüchtet werden. Nach Ablauf längerer Zeit würde der Systematiker, dem der wirkliche Hergang unbekannt geblieben ist, berechtigt sein, von drei verschieden gefärbten Pferde- rassen (Lokal Varietäten) zu sprechen, die drei getrennten Gebieten eigentümlich sind. Ohne Zweifel hat in diesem Beispiel der Ein- griff des Menschen das Artbild des Pferdes durch Trennung der ursprünglich gemischt vorkommenden, verschieden gefärbten Indivi- duen in drei räumlich getrennte Gruppen umgewandelt; dagegen hat er weder hier noch dort auch nur das Allergeringste in der Organisation der einzelnen Individuen der Spezies Pferd verändert. Die von ihm geübte künstliche Zuchtwahl hat mit der wissenschaft- lichen Frage nach der Entstehung der weiß, der schwarz oder der fuchsig gefärbten Pferde überhaupt nichts zu tun. Der Züchter hat ja nichts anderes geleistet, als daß er unter den ihm fertig ge- gegebenen Naturprodukten die ihm nicht passenden ausgemerzt hat; aber ein neues Merkmal in der Organisation des Pferdes, das nicht auch ohne seinen Eingriff vorhanden sein würde, hat er nicht ge- schaffen. Zwar könnte er im Hinblick darauf, daß er durch seine Tätigkeit und sein Verfahren dazu beigetragen hat, daß in dem abgeschlossenen Landbezirk nur weiße Pferde Vorkommen , ver- sucht sein, von sich zu sagen, er habe dort die weiße Pferderasse 624 Sechzehntes Kapitel. geschaffen. — Man vergleiche als Pendant hierzu den auf S. 622 zitierten Ausspruch Darwins. — Das Inkorrekte in dieser ober- flächlichen Ausdrucksweise läßt sich indessen bei wissenschaftlicher Prüfung leicht nachweisen. Denn man braucht dem Züchter nur ein aus reinen Linien stammendes Rappenpaar zu geben und ihm die Aufgabe zu stellen, von seiner Kunst, eine Schimmelrasse aus ihm hervorzubringen, eine beweiskräftige Probe abzulegen. Dann freilich wird er sich zu dem Eingeständnis bequemen müssen, daß es über seine Kraft und Kunst gehe, einen Rappen in einen Schimmel umzu wandeln. Wie in diesem besonderen, so verhält es sich auch in allen anderen Fällen, auf die sich Darwin beruft. Wenn trotzdem her- vorragende Vertreter der Bilologie mehr als ein Menschenalter die Selektionstheorie als ein die Organismen veränderndes oder als ein artbildendes Prinzip gläubig hingenommen haben, so sind sie zu Opfern einer doppelten Täuschung geworden, in die sie Darwin, sich selber unbewußt, durch seine Darstellung versetzt hat. Die eine Täuschung erklärt sich aus dem Gebrauch des Wortes „Art“. Denn wie schon im VII. Kapitel, das uns jetzt für die Kritik des Darwinismus zu einer nicht unwichtigen Grundlage dient, nachgewiesen wurde, ist das Wort „Art“ nur ein Begriff, unter dem man je nach seiner weiteren oder engeren Fassung Individuen vereinigt, die in mehr oder weniger zahlreichen, mehr oder weniger bedeutenden Merkmalen voneinander abweichen. Inhalt und Umfang des Artbegriffs kann man nun allerdings auf Grund einer Sortierung und Selektion der unter ihm zusammengefaßten Naturobj ekte, aber nicht diese selbstverändern. Denn sie bieten ja dem Züchter die selektions- wertigen Unterschiede schon vor der Selektion und aus Ursachen dar, die mit der Selektion in gar keinem inneren Zusammenhang stehen. Wie schon früher bei der Erörterung des wissenschaftlichen Speziesbegriffes näher ausgeführt wurde, sind aus derartigen Gründen die Systematiker veranlaßt worden, die LlNNEsche Großart in ele- mentare oder Kleinarten zu zerlegen, wie Draba verna, Viola tricolor und soviele andere (vgl. S. 280 — 284). Bei noch weiter und tiefer eindringender wissenschaftlicher Erkennntis in das Wesen der Orga- nismen und bei der dadurch notwendig gewordenen „systematischen Selektion“ hat man die begriffliche Kategorie der Varietäten oder MENDELschen Arten geschaffen (S. 284 — 286), hat endlich Jo- hannSEN durch eine noch genauer durchgeführte Analyse des Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 625 Speziesbegriffes die in ihm früher unbemerkt gebliebenen „reinen Linien“ entdeckt und die Methoden, sie systematisch abzugrenzen und zu isolieren, in scharfsinniger Weise ausgebildet (S. 286 — 293). Wenn sich auf solchem Wege unsere Vorstellung vom Wesen einer Organismenart ändert, so läßt sich daraus nur folgern, daß neue Arten hier auf dem Wege der Begriffsbildung, durch engere oder weitere Spezialisierung, entstanden sind. Auch in dieser Hinsicht läßt sich die Selektion, man mag sich stellen wie man will, nicht als eine Kraft bezeichnen, welche von Darwin in seiner bildlichen Ausdrucksweise zu den Änderungsursachen der Organismen gerechnet und ihnen sogar als überlegen erklärt wird (vgl. S. 594, 595). Denn eine Auswahl kann nur zwischen schon vorhandenen Gegenständen vorgenommen werden. Die Gegen- stände selbst aber, auch wenn sie leicht veränderliche Lebewesen sind, werden dadurch keine anderen. Von den soeben entwickelten Gesichtspunkten aus wird man es verstehen, wenn ich den von DARWIN gewählten Titel „Ent- stehung der Arten“ als keinen glücklichen bezeichne. Denn schon hierdurch ist das eigentlich wissenschaftliche Problem, welches die Entstehung oder das Werden der Orga- nismen betrifft, verschleiert und zu einer Quelle von Mißver- ständnissen gemacht worden. Schon mit der Wahl des Titels be- ginnt die Vermengung von zwei ganz verschiedenartigen Verhält- nissen. Denn wie aus meiner Darlegung hervorgeht, kann, während die Organismen selbst durch die Selektion keine Änderung er- fahren, doch die LlNNEsche Kollektivart oder, was noch deutlicher ist, das Artbild als der Inbegriff aller unter einer systematischen Kategorie zusammengefaßten, voneinander etwas differenten Indi- viduen durch Ausrottung einzelner Phaenotypen verändert werden. Nicht mehr als dieses eine Verhältnis wird durch das riesige Tatsachenmaterial, daß Darwin in seinen Werken zusammen- getragen hat, bewiesen. Gegen eine derartige Wirkung der Zuchtwahl wird wohl nie- mand, da sie offen zutage liegt und als Folge jedweder Sor- tierung etwas Selbstverständliches ist, einen Zweifel erheben. Mit ihrer Hilfe hat der Mensch in der Tat die größten Wirkungen hervorgebracht und im Laufe der Zeiten das Antlitz der Erde von Grund aus verändert, wie ich es am Schluß des zwölften Ka- pitels (S. 508) dargestellt habe. Mit Fug und Recht habe ich dort die vom Menschen ausgeübte Selektion selbst in ihrer schärfer O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 4° 626 Sechzehntes Kapitel. definierten Begrenzung unter die vielen Faktoren der direkten Be- wirkung mit auf genommen. Wie bei der Theorie von der künstlichen Zuchtwahl eine Selbsttäuschung durch den unkritischen Gebrauch des Begriffes „Art“ mitspielt, so ist noch eine zweite Täuschung durch die Darstellung der Zuchtwahl alseinesakkumulativen Pro- zesses hervorgerufen worden. Wenn in unserem oben gewählten Beispiel der Züchter durch Abschlachten aller anders gefärbten Pferde nur eine Schimmelrasse, weil sie ihm besser gefällt, hat überleben lassen, so ist es leicht zu ersehen, daß man nicht sagen kann, die Schimmel seien durch die zielbewußte Tätigkeit des Züchters entstanden. Denn hier erkennt gleich jedermann, daß sie schon lange vorher da waren. An diesem Verhältnis, an dessen Richtigkeit ein Zweifel gar nicht aufkommen kann, wird nichts ge- ändert, wenn Darwin das Wahl vermögen zu einem akkumulativen Prozeß gestaltet. Darwin geht hierbei von der Erfahrung aus, daß die Orga- nismen in der Ausbildung vieler Merkmale eine fluktuierende Varia- bilität zeigen, daß infolgedessen sich viele Gegensätze in der Or- ganisation verwandter Lebewesen durch unzählige Zwischenstufen überbrücken lassen. Daher könne eine Umwandlung eines Orga- nismus in der Richtung dieses oder jenes Extrems der fluktuierenden Variabilität allmählich erreicht werden, wenn nur ein Faktor vor- handen sei, der das an sich richtungslose Variieren auf ein be- stimmtes Ziel lenke, und dieser Faktor sei eben der zielbewußte Züchter. Demgegenüber ist zu betonen, daß doch der Vorgang der Selektion durch seine Zerlegung in Differentiale und durch seine so notwendig gewordene unaufhörliche Wiederholung in seinem Wesen nicht verändert wird. Ausgewählt kann auch unter diesen Verhältnissen nur zwischen Objekten werden, die schon vor der Wahl in ihren Eigenschaften gegeben sind. Die Frage, welche schon früher nach der Entstehung des großen Unterschiedes erhoben werden mußte, würde eben auch bei der Entstehung jedes Teil- unterschiedes von neuem zu wiederholen sein; sie ist durch Dar- wins Darstellung nur verhüllt worden. Sofern der Züchter nur wählt oder Selektion treibt, hat er mit der Entstehung der Eigen- schaften der Organismen auch bei der Annahme einer akkumula- tiven Selektion nicht das Geringste zu tun. Das Werden der Organismen ist ein Problem der Biologie, das nur durch die weiteren Fortschritte der vergleichenden Anatomie, Entwicklungslehre und Cytologie, durch die experimentelle Er- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 627 forschung der Lebensprozesse, der Bastardierung und der Erblich- keitsgesetze, der natürlichen Entstehung und künstlichen Hervor- bringung von Mutationen, von Modifikationen und von Mißbildungen weiter aufgeklärt werden kann. Hier sind die für die Wissenschaft fruchtbaren Ergebnisse zu erwarten, denen gegenüber man nur von einer „Ohnmacht“ der Selektion für „die Entstehung der Arten“ sprechen kann. B. Kritik der natürlichen Zuchtwahl (natural selection). Wenn nach unserer Darstellung die Selektionstheorie schon auf dem Gebiet, das zu ihrer Aufstellung den Anstoß gegeben hat, auf dem Gebiet der Domestikation, als erklärendes Prinzip versagt, so erhebt sich die berechtigte Frage, ob nicht auch die von ihr erst abgeleitete „natürliche Zuchtwahl“ zu verwerfen ist oder ob sie bloß deswegen festgehalten werden muß, weil es nach Weismanns An- sicht keine andere Erklärung für eine natürliche Entstehung der Organismen gibt? Wenn man künstliche und natürliche Zuchtwahl miteinander in Vergleich stellt, so sind von den drei hierbei zu analysierenden und schon früher (S. 611) besprochenen Faktoren zwei die gleichen, nämlich der Organismus und die auf ihn einwirkenden Umwelts- faktoren; zu besprechen ist daher nur der dritte Faktor, welcher bei der natürlichen Zuchtwahl die Rolle des Züchters vertritt, in- dem er den Ausleseprozeß zwischen den kleinen zufälligen Varia- tionen besorgt und ihn in einer bestimmten Richtung, wie das „akkumulative Wahlvermögen des Menschen“, leiten soll. Für den Forscher, der nicht auf dem dualistischen Standpunkt eines Theis- mus steht, kann der Züchter zunächst nur die Natur selbst sein. Doch erhebt sich hier gleich die Schwierigkeit, daß dieselbe nicht als ein persönliches, von Wünschen geleitetes, nach Zwecken handeln- des und nach Zielen strebendes Wesen vorgestellt, also anthropo- morphisiert werden kann. Die Lösung dieser Schwierigkeit glaubte Darwin bei der Lektüre von Malthus in einer geistreichen Kon- struktion gefunden zu haben, die er als Ersatz für einen persön- lichen Züchter benutzt hat. Im Organismus — so folgerte er — haben nur die Abänderungen Bestand, welche für ihn von Vorteil sind. Da bei der starken Vermehrung der Lebewesen zwischen ihnen ein ununterbrochener Kampf ums Dasein stattfindet, der mit dem vorzeitigen Tod der Mehrzahl endet, müssen die in vorteilhafter Weise abgeänderten Individuen mehr Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung haben, als die übrigen, und ebenso ihre Nachkommen, 40* 628 Sechzehntes Kapitel. die von ihnen den Vorzug geerbt haben. Durch die in langen Zeiträumen erfolgende Summierung kleinster Vorteile in derselben Richtung bei einem Teil der Individuen und durch das nebenher gehende Aussterben minder geeigneter Lebensformen, die keine Nachkommen haben hinterlassen können, muß der Charakter der Art allmählich geändert werden. Der Weg ist allerdings ein sehr beschwerlicher, muß aber doch bei Zuhilfenahme außerordentlich langer Zeiträume, über die man frei verfügen kann, zum Ziele führen. Es muß auf diese Weise auch eine Trennung einer ur- sprünglich einheitlichen Art in mehrere Unterarten erfolgen können, wenn ein Teil der Individuen in dieser, ein anderer in jener für sie vorteilhaften Weise abändert. An Stelle des menschlichen Züchters mit seinem akkumulierenden Wahl vermögen tritt also jetzt als züchtendes Prinzip das Überleben der passenden Organismen, die sich reichlich fortpflanzen, und der Kampf um das Dasein zwischen ihren Nachkommen mit seinen in gleicher Weise sich einstellenden akkumulierenden und auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Wirkungen. Das von Darwin ausgesonnene neue Entwicklungsprinzip ist kaum scharf zu definieren und klar vorzustellen. Die hierbei ge- brauchten Redewendungen, wie Auswahl (Selektion), Kampf ums Dasein, Nützlichkeit, Vervollkommnung, sind menschlichen Verhält- nissen entlehnte Begriffe und werden bei ihrer Übertragung auf Naturvorgänge häufig in bildlichem Sinne gebraucht, was für die schärfere Durcharbeitung einer naturwissenschaftlichen Theorie jeden- falls nicht von Vorteil ist. Auf den Begriff einer „natürlichen Zucht- wahl“ würde Darwin wohl bei seinem Versuch, die Entstehung der Arten zu erklären, nie gekommen sein, wenn er nicht von den falsch beurteilten Verhältnissen des Tier- und Pflanzenzüchters und der damals neu aufgekommenen MALTHUSschen Lehre ausgegangen wäre. Ebenso ist der seit 1859 zum Schlagwort gewordene .Aus- druck: „der Kampf ums Dasein“ menschlichen Verhältnissen, be- sonders der zu damaliger Zeit hemmungslosen, wilden Konkurrenz in der Maschinenindustie und im Handel entlehnt. Es wird von ihm in dem Buch von der Entstehung der Arten ein vielseitiger und dementsprechend unbestimmter Gebrauch gemacht. Denn wie Darwin ausdrücklich (p. 75) bemerkt, verwendet er ihn „in einem weiten und metaphorischen Sinn, unter dem sowohl die Abhängig- keit der Wesen voneinander als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird“. „Daher kann man auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 629 um ihr Dasein gegen die Trocknis, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend Samen erzeugt, unter welchen im Durch- schnitte nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch richtiger sagen, sie kämpfe ums Dasein mit anderen Pflanzen derselben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden etc.“ In diesem metaphorischen Sinn werden unter dem Ausdruck ,. Kampf ums Dasein“ fast alle Beziehungen begriffen, in denen sich ein Lebe- wesen zu den übrigen Organismen und auch zu seiner leblosen Umwelt befindet. Überhaupt läßt sich schließlich j edes Kausalverhältnis von Ursache und Wirkung, wenn die leblose Natur anthropomo rphisiert wird, bildlich als ein Kampf darstellen. Zuweilen wird in der Darwinistischen Literatur anstatt „Kampf ums Dasein“ auch der Ausdruck Konkurrenz für die Beziehungen gebraucht, in welchen sich die Organismen zueinander und zu ihrer Umwelt befinden. Solche Schlagwörter, indem sie in jedermanns Mund geraten und oft ohne Verständnis gebraucht werden, können vorübergehend sehr wirkungsvoll werden. Wie sehr sich aber auch die Wertschätzung und Bedeutung derartiger allgemeiner Ausdrücke, die oft sehr komplizierte Zusammenhänge behandeln, in kurzer Zeit ändern kann, lehrt die Beurteilung der Rolle der Konkurrenz von seiten der Vertreter des Handelsstandes und der Nationalökonomie. Gerade zu Darwins Zeit wurde die Konkur- renz und das freie Spiel der Kräfte als das Prinzip, auf welchem aller Fortschritt ökonomischer und sozialer Entwicklung beruht, nach allen Richtungen gepriesen. In unserer Gegenwart hat sich eine fast entgegengesetzte Ansicht geltend gemacht, welche durch Trusts, durch Syndikate und Staatsaufsicht die schädlichen Wirkungen der Konkurrenz beseitigen will und in der besseren Organisation das hauptsächliche Mittel zum Fort- schritt sieht. Nützlich, zweckmäßig, passend sind ebenfalls allgemeine Aus- drücke, die einer verschiedenartigen Beurteilung unterworfen sind; in der Darwinistischen Literatur spielen sie eine sehr große Rolle, während sie in der übrigen Naturwissenschaft kaum gebraucht werden. Wenn Leben und Tod eines Individuums im Kampf ums Dasein von der geringeren oder größeren Nützlichkeit einer Ver- änderung abhängig gemacht wird, wie es durch die Selektions- theorie geschieht, so ist nicht zu vergessen, wie sehr diese Ver- hältnisse sich unserer wissenschaftlichen Beurteilung entziehen, und 630 Sechzehntes Kapitel. wie man von sehr vielen Einrichtungen, namentlich aber von vielen rein morphologischen Merkmalen überhaupt nicht angeben kann, ob sie und wodurch sie für den Organismus nützlich, zweckmäßig und dadurch selektionswertig sind. Die hierin und überall zutage tretende Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit der Annahmen der Selektionstheorie, die Willkürlich- keit bei ihrer Verwertung zur Erklärung bestimmter Verhältnisse macht sowohl die Stärke wie die Schwäche derselben aus. Ihre Stärke beruht ja darin, daß sie sich eben wegen ihrer Allgemein- heit fast für alle Verhältnisse der Organismen weit als Erklärungs- prinzip ausnutzen läßt. Denn von allen Organismen kann man schon aus der einfachen Tatsache, daß sie existieren, schließen, daß sie existenzfähig und an ihre Umgebung angepaßt sind, wie auch der umgekehrte Schluß, daß Arten ausgestorben sind, weil sie sich nicht mehr den veränderten Verhältnissen anpassen konnten, nicht widerlegt werden kann. Noch eingehender als an dieser Stelle habe ich mich über die Unklarheiten in den Begriffsbestimmungen und über die Unbestimmtheit in den Redewendungen von Dar- win im Kampf ums Dasein, Wettbewerb oder Konkurrenz in der Natur, Zuchtwahl, künstliche und natürliche Auslese in einer 1918 erschienenen kleinen Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des biologischen Darwinismus“ (2. Auflage, 1921, Jena, Fischers Verlag) ausgesprochen. Ihr erster Teil „Der biologische Darwinismus“ (S. 8 — 25) dient hauptsächlich diesem Zweck. So ist es gekommen, daß der Ausdruck „Auswahl des Passenden im Kampf ums Dasein“ ein halbes Jahrhundert lang in der Gelehrten- und Laienwelt wie eine Zauberformel wirkte, welche sich als Er- klärung für alles verwerten ließ. Mit Hilfe genügend langer Zeit- räume und kleiner Veränderungen, von denen immer die besten im Kampf ums Dasein bestehen blieben, glaubte man für die kompli- ziertesten Verhältnisse der Organisation einen einfachen Schlüssel zu einer Erklärung gefunden zu haben. Und so lautete denn fortan, wenn die Frage nach der Entstehung der Organismen, ihrer Or- gane, ihrer Funktionen, nach ihren Beziehungen zueinander und zur Außenwelt aufgeworfen wurde, die Antwort: durch Selektion und abermals durch Selektion und so im endlosen Einerlei fort. Auch wurde jetzt bald das Verhältnis umgekehrt. Da sich alle wirklichen und scheinbaren Anpassungserscheinungen durch die Formel der Selektion, obwohl sie wissenschaftlich nicht bewiesen war, wie man so sagt, erklären ließen, so wurde schon in der bloßen Möglichkeit einer auf diesem Wege zu erzielenden Erklärung auch Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 631 ein Beweis für ihre Richtigkeit erblickt und aus diesem Umstand „die Allmacht der Naturzüchtung“ als wissenschaftliches Dogma von Weismann verkündet. Die biologische Wissenschaft hat etwas Ähnliches schon einmal in der Aufstellung des Prinzips der Lebenskraft erfahren, welches nach der trefflichen Bemerkung von DU Bois-Reymond in seiner berühmten Vorrede zur Schrift über tierische Elektrizität die Rolle „eines Mädchens für alles“ in der Physiologie gespielt hat. Damals war es die Lebenskraft, die das Eigentümliche des Lebens aus- macht, die in den Stoffwechsel in besonderer Weise eingreift und verursacht, daß die organischen Substanzen von denen der un- belebten Natur so verschieden sind, die dem kranken Körper wieder zur Gesundheit verhilft, die sich bei der Entwicklung des Eies zum Embr)^o regt und als Nisus formativus alle seine Form Verwandlungen hervorruft. Wenn man das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl als Kraft bezeichnet, wie es von Darwin nach dem auf S. 594 zitierten Satz geschehen ist, so gleicht sie jedenfalls der Lebenskraft darin, daß auch ihr alle möglichen Wirkungen zugeschrieben werden. Denn für die Selektionstheorie gibt es keine Schwierigkeit, die nicht angeblich durch ihre Formel erklärt würde. Aber in dieser formalen Stärke, durch welche sie die Laienwelt geblendet hat, liegt zugleich für den Forscher auch ihre Schwäche und für den Fort- schritt der Wissenschaft eine große und ernste Gefahr. Denn während sie den Schein erweckt, alles zu erklären, vermag sie doch in keinem Fall uns über den Verlauf und die wirklichen Ursachen eines Vorgangs zu be- lehren, also das zu leisten, was man in den chemisch- physikalischen Naturwissenschaften erklären heißt. Wie viel mehr ist im Vergleich zu ihr unser wirkliches Wissen und unsere hierauf gegründete Erkenntnis vom Werden der Organismen durch das methodische Studium der Entwicklungsgeschichte, durch die Erforschung des Zeugungsprozesses, durch die Begründung einer exakten Erblichkeitslehre, durch die Mendelforschung usw. in 50 Jahren gefördert wprden, als in demselben Zeitraum durch die über die Selektionstheorie handelnde Literatur, in welcher immer wieder dieselben unbeweisbaren und, wie noch weiter gezeigt werden wird, oberflächlichen Behauptungen wiederholt und durch Anhäufung neuer Beispiele von Anpassungen um nichts besser bewiesen werden ! Wir gehen nach diesen Vorbemerkungen zu den wichtigsten Ein wänden gegen die Richtigkeit der natürlichen Zuchtwahl (natural selection) selbst über. Die Einwände lassen sich in folgende 632 Sechzehntes Kapitel. 5 Gruppen zusammenfassen: 1. Kleine Organisationsunterschiede besitzen, auch wenn sie vorteilhaft sind, keinen Selektionswert. 2. Viele morphologische für das System der Organismen sehr wichtige Verhältnisse sind ohne Selektionswert, da sie für die Lebewesen von keinem entsprechenden Vorteil sind. 3. Es gibt viele Organisations- verhältnisse, die wegen ihrer Gesetzmäßigkeit und Wiederholung durch das Selektionsprinzip nicht zu erklären sind. 4. Einwände, welche der Genealogie entnommen sind. 5. Die Stellung der Selek- tionstheorie zum Zweckbegriffe. Erste Gruppe der Einwände: betreffend den Selektionswert kleiner Organisation s vor teile. Schon von vielen Forschern (Huber, Mivart, Kölliker, Wigand, Nägeli, Spencer, Bateson, Reinke, Kassowitz u. a. nach einer Zusammenstellung von Plate) ist mit Recht betont worden, daß kleine Veränderungen, wie sie gewöhnlich bei der Variabilität innerhalb einer bestimmten Art beobachtet und von Darwin als Material für die Auslese angenommen werden, keinen Selektionswert besitzen. Das heißt: die angenommenen kleinen Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen können bei der Entscheidung über Leben und Tod keinen Ausschlag geben und können daher auch nicht durch Selektion gesteigert werden. Denn wie Nägeli bemerkt, können „nützliche Veränderungen erst, wenn sie eine bemerkbare Höhe erreicht haben und in zahlreichen Indi- viduen vorhanden sind, eine ausgiebige Verdrängung der Mit- bewerber bewirken. Da sie aber im Anfänge durch eine lange Reihe von- Generationen jedenfalls noch sehr unbedeutend und nach der Selektionstheorie auch nur in einer kleinen Zahl von Individuen vertreten sind, so bleibt die Verdrängung aus und eine natürliche Zuchtwahl kommt, da ihr der wirksame Hebel mangelt, überhaupt nicht zustande“ (Nägeli, 1. c. p. 289). Aber auch für den Fall, daß es sich um eine schon größere nützliche Veränderung handelt, die — nehmen wir einmal an — 3 Individuen unter 10000 erfahren haben, so bleibt die Verdrängung dieser durch jene immerhin noch ein kaum vorstellbarer Prozeß. Denn die 10000 müssen an ihre Daseinsbedingungen, unter denen sie sich schon während langer Zeiträume entwickelt haben, jeden- falls ebensogut wie vorher noch angepaßt und daher auch erhal- tungsfähig sein. Auch von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich nicht absehen, wie von den 3 abgeänderten Individuen den 10000 Kritik der Selektion s- und Zufallstheorie. 633 unverändert gebliebenen eine lebensgefährliche Konkurrenz gemacht werden könnte. Wenn, um ein Beispiel zu gebrauchen, unter 10000 gut gedeihenden, konstant weißblühenden einjährigen Pflanzen plötz- lich drei blau gefärbte, also schon stark und auffällig abgeänderte Mutanten auftreten und wenn die Bienen diese Farbe mehr als die weiße bevorzugen, daher die blau gefärbten Blüten häufiger als die weißen aufsuchen und die Befruchtung vermitteln, so würde doch hieraus weder den blauen ein erheblicher Vorteil, noch den weißen ein erheblicher Nachteil im Kampf ums Dasein erwachsen. Denn auch die weiß blühenden Pflanzen würden von den Bienen, da sie ihren Bedarf an Honig und Pollen von den drei blau ge- färbten doch wirklich nicht decken können, aufgesucht und be- fruchtet werden müssen. Wenn das Verhältnis umgekehrt wäre und auf 10000 blau blühende 3 Pflanzen mit weißen Blüten kämen, die weniger gern von den Bienen auf gesucht werden, dann würde ihre Fortexistenz wegen ihrer unvorteilhaften Blütenfarbe bedroht sein, aber gewiß nicht umgekehrt! Ferner darf man, um den Selektionswert eines Merkmals richtig einzuschätzen, auch nicht übersehen, daß ein Organismus, je höher er entwickelt ist, um so mehr aus sehr vielen Organen zusammen- gesetzt ist und zahllose Eigenschaften und Merkmale darbietet, daß bei ihnen die Erhaltung des Lebens vom Zusammenwirken aller abhängt und ein Merkmal dabei oft nur in verschwindenderWeise einen Anteil nimmt. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann der Selektionswert eines Merkmals, selbst wenn es sehr erheblich und nützlich abgeändert ist, gleich Null bleiben. Man halte sich nur die menschlichen Verhältnisse vor Augen, da sie jeder aus seiner eigenen Erfahrung am besten kennt. Wie schwer ist es einem Kind, die Prognose für seinen Erfolg im Leben zu stellen! Wie oft bleiben die mit vorzüglichen Eigenschaften des Geistes und des Körpers ausgestatteten Schüler auf ihrer weiteren Lebensbahn hinter manchen weit weniger gut beanlagten Altersgenossen mit geringerem Selektionswert zurück ! Daß ähnliche Überlegungen schon bei Darwin (1. c. p. 224) ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt haben, geht aus seinen eigenen Worten hervor : „Diese Schwierigkeit schien mir manchmal beinahe ebenso groß zu sein als die hinsichtlich der vollkommensten und zusammengesetztesten Organe.“ Auch Plate bekennt in seiner Verteidigung der Selektionstheorie (1913, 1. c. p. 179) bei Erörterung der verschiedensten Einwände: „Es ist fast ausnahmlos unmöglich, in einem speziellen Fall das Maß des Selektionswertes anzugeben 634 Sechzehntes Kapitel. und vielfach sogar unmöglich , festzustellen , ob ein anscheinend nützliches Organ selektionswertig ist oder nicht. Der hieraus sich ergebende Schluß ist, daß die Richtigkeit der Selektionslehre nur selten aus der Beobachtung spezieller Fälle in der Natur sich er- gibt, sondern daß sie in der Hauptsache eine logische Folgerung aus den allgemeinen Erfahrungstatsachen der Variabilität, des Ge- burtenüberschusses und des Kampfes ums Dasein darstellt/' Und er fügt später hinzu (1. c. p. 1 8 1) : „In der Erkenntnis der Unmöglich- keit, die Rolle der Selektion für die Vergangenheit und für jeden gegenwärtigen Fall exakt rekonstruieren zu können, liegt gewiß etwas Deprimierendes, aber deshalb bleibt sie nicht weniger richtig“!! Das Gegenteil von der letzten Bemerkung dürfte eher näher liegen. Denn das Deprimierende bei der Prüfung des Selektions- wertes wächst noch gerade dadurch, daß im Gegensatz zu der an- geführten Bemerkung Plates die Richtigkeit der Selektionstheorie überhaupt in keinem einzigen Fall gezeigt worden ist (vgl. S. 605) und daß auch der logische Beweis, wie selbst Weismann zugibt (S. 606) noch aussteht. Außer dem zuerst besprochenen Haupteinwand lassen sich noch weitere wichtige Bedenken gegen die Rolle des Selektionswertes in Darwins Theorie zusammenstellen. Ein solches Bedenken er- wächst aus der geschlechtlichen Vermehrung der Organismen und ihren Folgen. Wenn wir wieder unser schon oben erörtertes Bei- spiel nehmen von den 10000 Individuen einer Pflanzenart mit weißen Blüten, unter denen sich 3 variierte Individuen mit blauen Blüten finden, so müssen sehr häufig Kreuzungen bei unbehinderter Möglichkeit gegenseitiger Befruchtung stattfinden. Die Hybriden werden nach den MENDELschen Spaltungsregeln in die Stammformen wieder Zurückschlagen , und da mit jeder neuen Generation die blauen Mutanten immer wieder neue Kreuzungen mit den weißen unter gleich ungünstigen proportionalen Verhältnissen eingehen, werden sie trotz nützlicher Veränderung keine Möglichkeit zu ihrer rascheren Verbreitung und zur Verdrängung der weißen Individuen finden. Im Gegenteil sind sie der Gefahr des Aussterbens wegen ihrer numerischen Schwäche trotz ihres Selektions wertes ausgesetzt. Nur wenn die 3 blau blühenden Pflanzen sich durch Reinzucht stets untereinander befruchteten, würde die Möglichkeit gegeben sein, daß sie sich unter Erhaltung ihrer guten Eigenschaft ver- mehren und schließlich nach längerer Zeit bei genügender Zunahme als nützliche Mutation die Stammform verdrängen. Wenn es nun Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 635 aber zu keiner Reinzucht, kann es auch zu keiner Verdrängung kommen. Somit ist es auch von diesem Gesichtspunkt aus gar nicht auszudenken, wie eine vorteilhafte Mutation, wenn sie nur bei wenigen Exemplaren zufällig erfolgt, nach dem Selektionsprinzip weiter verbessert und gesteigert werden könnte. Bei der künstlichen Zuchtwahl liegt der Fall in dieser Be- ziehung viel günstiger ; denn hier kann der Züchter die ihm zweck- mäßig erscheinende zufällige Mutation isolieren und durch Inzucht rasch vermehren. In der Natur aber würde dies nur dann ge- schehen können, wenn alle 10000 Pflanzen unseres Beispiels mit ursprünglich weißen Blüten überhaupt nicht zur Fortpflanzung ge- langen oder sonstwie plötzlich absterben würden, wozu natürlich jeder vernünftige Grund fehlt. Daß hier ein schwacher Punkt der Selektionstheorie vorliegt, ist schon früh, selbst von Anhängern Darwins, empfunden und durch die Hilfstheorien der Migration und geographischen Isolierung abzustellen versucht worden. Wie verfehlt indessen dieser Versuch ist, kann mit ein paar Sätzen leicht bewiesen werden. Es läßt sich nämlich logischerweise die Migrationstheorie gar nicht zur Stütze der Selektionstheorie verwerten. Denn aus welchem Grund und in welcher Weise sollten die wenigen variierten Individuen einer Art, wenn man von besonderen Ausnahmefällen absieht, beim gewöhn- lichen Verlauf der Dinge von den übrigen getrennt und an einen anderen Standort versetzt werden, wie die 3 blau blühenden Varie- täten unseres Beispiels? Und wie sollte dies vollends zu häufig wiederholten Malen geschehen können, was doch der Fall sein müßte, da die DARWiNsche Auslese ein akkumulativer Prozeß ist? der sich fortwährend jahraus jahrein wiederholen muß, um über- haupt eine bemerkenswerte Veränderung hervorzubringen? Eine mitjedem Schritt der Selektion Hand inHand gehende, also gleichfalls jahraus jahrein sich wiederholende Migration und Isolation ist gewiß a priori ganz un- denkbar. Unwiderleglich ist daher die Bemerkung Nägelis (1. c. p. 316), daß „das Heilmittel viel schlimmer ist als das Übel“. „Denn die Unmöglichkeit der Migration ist viel leichter einzusehen, als die Unmöglichkeit der natürlichen Selektion. Jener schwache Punkt dieser letzteren, daß werdende Vorteile noch keine Ver- drängung zu bewirken vermögen, läßt sich durch allgemeine Phrasen umgehen und verdecken. Aber die Vorstellung, daß die abändern- den Individuen sich zur Reinzucht isolieren, ist so bestimmt und zugleich unnatürlich, daß kein Zoologe oder Botaniker sie seinem 636 Sechzehntes Kapitel. Publikum ohne ganz entscheidende Belege und neue theoretische Erklärungen bieten dürfte. Immerhin gehört die Migrationstheorie, weil sie eine biologische Folge der Selektionstheorie ist, zu den stärksten Widerlegungen der letzteren.“ Um Mißverständnissen gleich von vornherein die Spitze ab- zubrechen, will ich nicht unerwähnt lassen, daß obige Bemerkungen nicht gegen manche Ergebnisse der Pflanzen- und Tiergeographie und auch nicht gegen die Bedeutungslosigkeit geographischer oder anderer Formen der Isolation gerichtet sind, durch welche eine Art in zwei Abteilungen getrennt und so in verschiedene Lebens- lagen gebracht wird. Wenn in diesem Fall eine Spaltung der ur- sprünglichen Art in zwei neue Unterarten nach längeren Zeiträumen eintritt, so handelt es sich nicht um die Folgen einer Selektion, sondern um eine aus der verschiedenen Situation sich ergebende direkte Bewirkung (vgl. auch S. 485 — 492). Zur Vervollständigung unserer Kritik ist ferner noch daran zu erinnern, daß über Leben und Tod der einzelnen Individuen sehr viele Faktoren entscheiden, und daß unter diesen fast alle weitaus wichtiger sind als der von den Darwinisten angenommene Selektions- wert kleiner, zufälliger Organisationsvorteile. Man vergesse doch nicht, daß die Mehrzahl der Organismen der Vernichtung während der Anfangsstadien ihrer Entwicklung und im jugendlichen Zustand anheimfällt. Wenn nun bei ihnen der Selektionswert eines Organes sich erst im ausgebildeten Zustand, wie es meist der Fall ist, geltend macht, so kann er in der Haupt- vernichtungsperiode jedenfalls keine Rolle spielen. Der Gefahr, ganz vernichtet zu werden, sind daher unter den gewöhnlichen Lebensverhältnissen die Keime weniger Individuen mit einem Se- lektionswert, der noch nicht wirken kann, mehr ausgesetzt als die Keime, die den Vorteil der großen Zahl für sich haben. In diesem Fall muß der Sieg immer auf seiten der ungeheueren Quantität gegenüber einer sehr schwach vertretenen und nur für eine noch ferne Zukunft besser veranlagten Minorität liegen. Aber auch an- genommen, daß die selektionswertige Eigenschaft schon entwickelt ist, sind die Chancen des Aussterbens, wenn 3 gegenüber 10000 stehen, bei diesen noch immer viel größer als bei jenen. Die Masse an sich muß eine besser organisierte, aber verschwindend kleine Minorität schließlich immer erdrücken. Wie man schon hieraus erkennen wird, gibt ein Organisations- vorteil überhaupt im Kampf ums Dasein nicht allein den Ausschlag. Über Leben und Tod der Organismen entscheiden noch viele andere Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 637 Faktoren. Unter ihnen will ich einen, auf den besonders Wolff in seinen Beiträgen zur Kritik der DARWiNschen Lehre die Auf- merksamkeit gelenkt hat, kurz besprechen. Wolff nennt ihn den Situationsvorteil. Individuen, welche sich unter einer zufällig günstigeren Situation befinden als andere, haben vor diesen mehr Chancen, erhalten zu bleiben. Der Situationsvorteil kann unter Um- ständen sogar so sehr den Ausschlag geben, daß auch die größten Organisationsvorteile ihm gegenüber ganz zurücktreten. „Bei einem Eisenbahnunglück“ — bemerkt WOLFF — “ bleiben nicht diejenigen unverletzt, die zufällig die festesten Knochen haben, sondern die- jenigen, welche zufällig die günstigsten Plätze ein nehmen. Ein et- waiger Organisationsvorteil ist hier im Verhältnis zur Größe der Gefahr viel zu klein, als daß er den weit größeren Situationsvorteilen gegenüber in Betracht kommen könnte. Er käme nur in Betracht ceteris paribus, d. h. wenn alle Individuen sich der Gefahr gegen- über in völlig gleicher Situation befänden. Ein solches ceteris paribus setzt der Darwinismus überall voraus. Dies ist aber völlig unbe- rechtigt. Ich kann mir nur wenige Fälle denken, in denen eine zufällige Organisationsvariierung einen Vorteil bietet, dem ich nicht einen Situationsvorteil gegenüberstellen könnte.“ Wenn so schon die größten Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Selektionswertes einer einzigen Organ Veränderung und einer hier- durch erzielten Vervollkommnung bestehen, wie riesengroß und gar nicht vorstellbar müssen sich dann lie Schwierigkeiten gestalten bei der Erklärung, wie durch Selektion gehäufte kleine, zufällig entstandene Variationen allmählich ein so wunderbar zusammen- gesetztes Organ, wie das Wirbeltierauge, zustande bringen sollen. Denn hier müßten zahlreiche verschiedene Teile — die Netzhaut mit ihren vielen Schichten, die Chorioidea, die Sklera und die Horn- haut, die Linse mit dem Corpus ciliare und der Irisblende, der Glaskörper, die Augenlider mit der Tränendrüse und ihren Abführ- wegen, die verschiedenen Augenmuskeln, ja schließlich auch die Sehzentren im Gehirn — ein jeder Teil einzeln , durch ungezählte zufällige kleinste Variationen und durch jedesmalige Auswahl der besten davon entstanden sein; und diese Zufallsprodukte müßten dann wieder durch Zufall und akkumulative Selektion zusammen- gepaßt worden sein (vgl. S. 161) so lange, bis endlich das zweck- mäßig eingerichtete Wirbeltierauge nach unzähligen Versuchsproben fertig geworden ist. Noch mehr aber steigt die Leistung des Zu- falls geradezu ins Unendliche, wenn man sieht, daß die Cephalopoden (vgl. S. 426) ein ebenso kompliziert eingerichtetes Auge wie die 638 Sechzehntes Kapitel. Wirbeltiere besitzen, obwohl sie mit ihnen in keinem genetischen Zusammenhang stehen, und daß auch dieses Auge, obwohl es aus einem anderen Zellenmaterial und auf anderen ontogenetischen Wegen gebildet worden ist, doch nach demselben Grundplan mit Retina, Glaskörper, Linse, Ciliarkörper, Iris, Hornhaut, Augenlidern, Augenmuskeln ausgeführt ist. Ich verweise auf den Vergleich zwischen dem Auge der Wirbeltiere und der Cephalopoden, welchen ich als eines der schönsten Beispiele konvergenter Naturzüchtung auf S. 429 — 433 genauer beschrieben habe, schon damals in der bestimmten Absicht, das Beispiel später bei der Kritik der Se- lektionstheorie noch besonders zu verwerten. Auch Darwin hat den schon von Mivart als Einwand be- nutzten Fall erörtert, meint aber, daß, wenn man die Entwick- lung des Auges durch natürliche Zuchtwahl in einem Fall zugebe, sie dann offenbar auch in dem anderen möglich sei. Das heißt doch in Wahrheit nichts anderes, als daß ein Forscher, der das erste Wunder zugegeben habe, auch das zweite anzunehmen kein Bedenken mehr zu tragen brauche. Wir sind dagegen der Ansicht, daß zwei so zusammengesetzte Organe^ die trotz ihrer verschiedenen Abstammung doch in so überein- stimmender Weise für gleichartige Funktion nach dem Konvergenz- prinzip gebaut sind, wie das Wirbeltier- und Cephalopodenauge, nicht als Zufallsprodukte nach dem Prinzip der Selektionstheorie, sondern nur auf Grund von verwickelten, uns gänzlich unbekannten Naturgesetzmäßigkeiten durch fortdauernde Einwirkung ein und derselben konstanten Ursache, nämlich der Lichtwirkung, auf zwei verschieden beschaffene, durch Licht reizbare Substrate des Lebens entstanden sein können. Wie das Beispiel vom Wirbeltier- und Cephalopodenauge sind natürlich auch alle anderen zahllosen Fälle von konvergenter Natur- züchtung, von denen ich einige besonders lehrreiche im zehnten Kapitel aus den verschiedensten Gebieten der Morphologie heraus- gegriffen und auf den Seiten 391 — 450 besprochen habe, nicht minder wichtige Beweise gegen das auf der Zufallstheorie aufgebaute Hypothesengebäude des Darwinismus. Daher empfehle ich von diesem Gesichtspunkte aus das im zehnten Kapitel zusammen ge- stellte Beweismaterial noch einmal kritisch zu durchdenken. Zweiter Einwand: Der fehlende Selektionswert vieler morphologischer Merkmale. Alle rein morphologischen Merkmale der Pflanzen und Tiere, die von keinem Nutzen für den Organismus sind und deren Zahl Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 639 sehr groß ist, können nicht nach dem Selektionsprinzip erklärt werden. Denn es fehlt ja allen Veränderungen, die zu ihrer Ent- stehung geführt haben, von vornherein der Selektionswert. Gerade die rein morphologischen Charaktere, wie sie Nägeli genannt hat, sind nun aber für die Systematik viel wichtiger als die Anpassungs- merkmale. Bei den Pflanzen ist es für die Chlorophyllfunktion ganz gleich- gültig, ob die Blätter rund oder oval oder lanzettförmig, ob sie glattrandig, gezackt oder gesägt, ob sie am Zweig gegenständig oder spiral angeordnet sind. Auch die Formen der Blüten, die Zahl und Anordnung der Staubfäden, welche Linne einst als Einteilungs- prinzip für sein System benutzt hat, bieten dem Nützlichkeitsforscher nur wenig Angriffspunkte, da Lippen-, Glocken- und anders ge- formte Blüten Eier und Pollen in genügender Menge produzieren und von Insekten, welche die Befruchtung vermitteln, aufgesucht werden. Bei den Fischen kann es wohl auch nicht über Leben und Tod entscheiden, ob ihre Haut mit Plakoidschuppen, wie bei Selachiern, mit Schmelzschuppen, wie bei Ganoiden, oder mit Ktenoid- und Zykloidschuppen, wie bei Teleostiern, bedeckt ist. Solche Beispiele würden sich leicht in die Hunderte vermehren lassen. Wenn dies schon vom ausgebildeten Organ gilt, um wie viel mehr von allen kleinen Veränderungen, welche im Laufe der Stammesgeschichte dem jetzt bestehenden Zustand vorausgegangen sind ! Darwin selbst (1. c. p. 232) hat diesen Ein wand von Nägeli als einen sehr wichtigen bezeichnet. Denn da diese morphologischen Charaktere, wie er zugibt, „die Wohlfahrt der Art nicht berühren, so können auch unbedeutende Abänderungen an ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinflußt oder gehäuft worden sein“. Er nennt es geradezu „ein merkwürdiges Resultat, zu dem wir ge- langen, daß Charaktere von geringer vitaler Bedeutung für die Art dem Systematiker am wichtigsten sind“ (p. 239). So nimmt denn Dar- win zu ihrer Erklärung die uns noch unbekannten Gesetze des Wachs- tums und die Folgen direkter Bewirkung in Anspruch. Auch hier zeigt sich wieder, wie Darwin mit zwei entgegengesetzten Prinzipien arbeitet, die er gar nicht scharf voneinander zu trennen sucht, sondern bald so, bald so, entweder jedes für sich oder beide kom- biniert anwendet. Denn ganz in unserem Sinn fügt er hinzu, „für jede unbedeutende individuelle Verschiedenheit muß es ebensogut wie für stärker ausgeprägte Abänderungen, welche gelegentlich auftreten, irgendeine bewirkende Ursache geben, ünd (wenn die unbekannte Ursache dauernd in Wirksamkeit bleiben sollte, so ist es 640 Sechzehntes Kapitel. beinahe gewiß, daß alle Individuen der Spezies in ähnlicher Weise modifiziert werden würden“ (1. c. p. 233). Darwin selbst spricht sich in diesen Worten ganz offen für das Prinzip der direkten Be- wirkung aus, gibt also für derartige Fälle seine Selektionstheorie preis im Unterschied zu Weismann und Plate. Dieser bemüht sich, dieselbe bei Besprechung des gleichen Einwandes voll aufrecht- zuerhalten (Selektionsprinzip, 1913, p. 84). Dritte Gruppe von Ein wänden: Allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Organisation der Lebewesen, die sich nicht durch Selektion von zufälligen Organisationsvorteilen erklären lassen. Es gibt Organisationsverhältnisse der Lebewesen von so allge- meiner Gesetzlichkeit, daß ihre Entstehung nicht durch Zuchtwahl aus kleinen Organisationsvorteilen logischerweise erklärt werden kann. Hierher gehören, um mit ihnen gleich zuerst zu beginnen, die fundamentalen Eigenschaften der lebenden Substanz, sich zu ernähren, zu wachsen, fortzupflanzen, Arbeit zu verrichten und die verschiedensten Reize zu empfinden. Nehmen wir nur die Ver- mehrung der über das individuelle Maß hinausgewachsenen Zelle durch Teilung. Da sie eine unentbehrliche Voraussetzung für die Erhaltung des Lebens auf unserer Erde ist, muß mit der Ent- stehung lebender Substanz auch ihre Fähigkeit, sich durch Er- nährung, Wachstum und Teilung zu erhalten, gegeben sein; denn ohnedem würden auch die einfachsten Lebewesen keine Dauer- fähigkeit besessen haben. Ein allmählicher Erwerb durch akku- mulative Selektion ist ausgeschlossen, da hier die logische Sach- lage ein Entweder — Oder verlangt. Denn Fälle einer zufällig be- ginnenden, aber nur in Bruchteilen von 1I8. 1/i, V2 etc. durch geführten Teilung haben für die Erhaltung der Art nicht mehr Selektions- wert, als die Fälle, in denen überhaupt keine Schritte zur Teilung gemacht werden. Zu dem Begriff der lebenden Substanz gehören die fundamentalen Lebenseigenschaften als unentbehrliche Attribute in derselben Weise hinzu wie zum Wesen des Sauerstoffs seine Fähigkeit gehört, sich in bestimmten Verhältnissen mit dem Wasser- stoff zu Wasser nach der Formel H20 zu verbinden. Wie die Chemiker bei den Eigenschaften der Elemente, müssen auch wir Biologen bei den Eigenschaften der biologischen Verbindungen uns mit der Feststellung des Gesetzmäßigen in den beobachteten Er- scheinungen begnügen, da es von vornherein als ein törichtes Unter- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 641 nehmen zu betrachten wäre, noch über die Feststellung ihrer Ge- setzmäßigkeit hinaus die Selektionsformel als eine weitere Erklärung in Anwendung bringen zu wollen. Entsprechende Gesetzmäßigkeiten, bei denen eine Erklärung durch zufällige nützliche Veränderungen, die durch akkumulative Selektion gerichtet werden, von vornherein ausgeschlossen ist, lassen sich auch bei höher organisierten Pflanzen und Tieren in Fülle zu- sammenstellen, wie es Wolff in seiner schon erwähnten lesens- werten Kritik der DARWlNschen Theorie getan hat. So sind be- kanntlich die Tiere nach einigen wenigen Grundplänen organisiert, von denen man die beiden wichtigsten als den bilateral-symme- trischen und als den radiären bezeichnet. Beim bilateralen Typus besteht der Körper aus zwei Flälften, die spiegelbildlich zueinander sind, links und rechts von einer Medianlinie liegen und Gegenstücke oder Antimeren heißen. Beim einfach radiären Typus dagegen ist der Körper in so viele, einander gleichwertige Antimeren zerleg- bar, als Radien durch die Flauptachse gezogen werden können. Gewöhnlich sind nun in jedem einzelnen Antimer genau dieselben Organe mit großer Gesetzmäßigkeit entwickelt, also beim bilateral- symmetrischen Typus in doppelter, beim radiären in größerer Zahl je nach der Summe ihrer Radien. Wir finden daher bei den Wirbeltieren 2 Augen und 2 Gehör- werkzeuge, eine linke und eine rechte Flirnhälfte mit symmetrischer Verteilung der Ganglienzellen und der komplizierten Nervenfaser- bahnen, eine linke und eine rechte vordere und hintere Extremität, linke und rechte Zahn- und Muskelgruppen, alles Gebilde, die trotz ihres sehr komplizierten Baues meist bis in das kleinste Detail ein- ander entsprechen. Wenn daher solche in doppelter Zahl vorhande- nen Organe durch akkumulative Selektion zahlloser zufälliger Ver- änderungen erklärt werden sollten, so müßten die letzteren in jedem Antimer immer in gleicher Weise und zu gleicher Zeit entstanden sein. Wir würden dann eine prästabilierte Harmonie von links und rechts erfolgten Zufälligkeiten annehmen müssen; eine contradictio in adjecto. Da somit der Zufall ausgeschlossen ist, weist die Ent- stehung bilateral-symmetrischer Organe auf Gesetze hin, welche unab- hängig von Zufall und Selektion der Formbildung der Organismen, wie der Kristallbildung vieler Substanzen in der unbelebten Natur, zugrunde liegen. Der gleiche Gesichtspunkt besteht aber auch zu Recht für alle Organe, die sich in noch größerer Zahl im Aufbau des Körpers O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 41 642 Sechzehntes Kapitel. wiederholen und selbständig angelegt werden ; ich meine die meta- mere Wiederholung vieler Organe bei den Wirbeltieren, wie der Körpersegmente mit ihren zahlreichen homodynamen Einrichtungen, den Wirbeln, den Muskelgruppen, Blutgefäßen, Nerven, Sinnes- organen, Drüsen etc., oder die Wiederholung der Extremitäten und Sinnesorgane bei Anneliden und Arthropoden, oder auch die Wieder- holung mehr oder minder zusammengesetzter Organe des Integu- ments, wie die Blakoidzähne der Selachier, der Knochenschuppen der Fische, der Hornschuppen der Reptilien und der Federn der Vögel. Nicht zu* widerlegen ist der Einwand von Wolff (l. c. p. 452): „Alle Gebilde, die an demselben Organismus vorhanden und gleich sind, spotten der Erklärung durch die Selektionstheorie. Da sie für die Erscheinungen, die sie erklärt, nur dadurch zu einer Er- klärung wird, daß sie das Komplizierte aus dem von jeder Kompli- ziertheit Freien, daß sie das Regelmäßige aus dem Regellosen ab- leitet, so kann sie hier, wo ihre Voraussetzungen schon die Regel fordern, nicht anwendbar sein.“ Man kann in diesen Verhältnissen, wie schon Wolff bemerkt hat, nichts anderes erblicken, als einen Hinweis, „daß die Veränderung der Formen von einem Gesetz beherrscht wird, welches wir nicht kennen, welches aber zu erforschen jetzt die vornehmste Aufgabe für alle denkend betriebene Biologie bilden muß.“ Daß allen Veränderungen der Organismen eine Gesetzmäßig- keit zugrunde liegt, welche sich in der Reaktionsweise ihrer spezi- fisch organisierten Artzelle gegen die Umweltfaktoren zu erkennen gibt, zeigt sich uns aufs deutlichste auch bei allen experimentellen Untersuchungen. So bringt jede etwas komplizierter gebaute Orga- nismenart Mißbildungen hervor, die nur ihr eigentümlich sind und welche ein Experimentator jederzeit in der Entwicklung des Eies willkürlich hervorrufen kann, wenn er die geeigneten Methoden im richtigen Zeitpunkt anwendet. Dann ist es geradezu wunderbar, wie unfehlbar genau der Organismus in seiner Formbildung auf den angewandten Reiz gleichsam wie eine chemische Verbindung auf ein chemisches Reagens antwortet. (Siehe S. 335 — 346.) Nicht minder offenbart sich uns bei der natürlichen Bildung von Modifikationen und Mutationen und bei ihrer experimentellen Erzeugung eine ihnen zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit. Es sei nur daran erinnert, wie die Füllung der Blumen sich in zahlreichen analogen Reihen durch Umwandlung der Staubfäden in gefärbte Blumenblätter vom Züchter erreichen läßt, wenn er nur die geeig- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 643 neten Methoden beherrscht, um das Idioplasma einer Art zur ge- wünschten Reaktion auf die angewandten Kulturbedingungen zu veranlassen (bei Rosaceen, Papaveraceen, Petunien, Campanularien, Korbblütlern etc. [Siehe S. 358 — 367].) Das Gesetz in der Entwicklung, nach welchem eine bestimmte Wirkung einem uns meist unbekannten und experimentell meist noch nicht erforschten Ursachenkomplex entspricht, kommt ferner auch zum Vorschein in dem, was Baur als „die homologen Reihen der Mutationen bei miteinander verwandten Organismen“ bezeichnet (Baur 1. c. S. 294). So erhält man z. B. von vielen in großem Umfang kultivierten Laubbäumen in analoger Weise eine Trauer- und eine Pyramidenrasse (var. pendula u. pyramidalis), ferner eine Rasse mit geschlitzten, mit schmalen, mit schüsselförmigen, mit krausen, mit blutrot gefärbten Laubblättern (var. laciniata, gramini- folia, cucullata, crispa, sanguinea). Seinem Hinweis auf solche Tatsachen fügt Baur die Bemerkung hinzu, daß es natürlich nahe liege, an Analogien aus der Chemie zu denken; ebenso wie man in der Chemie annehme, daß homologe Veränderungen verschiede- ner Ausgangskörper den von ihnen abgeleiteten homologen Reihen von Verbindungen zugrunde liegen, müsse man auch für die homo- logen Mutationen homologe Veränderungen im Bau ihrer Chromo- somen annehmen. In derselben Richtung sind endlich auch, von unserem Stand- punkt aus gesehen, alle gesetzmäßigen, durch die vergleichende Methode erkannten Verhältnisse der Anatomie und Entwicklungs- geschichte zu verstehen. Außer den von Wolff schon oben ange- führten Tatsachen erinnere ich nur kurz an die auf S. 447 — 450 besprochene Umbildung der pentadaktylen Ausgangsform des Fuß- skeletts einiger Säugetierordnungen in die von ihr abzuleitende perissodaktyle und artiodaktyle Form, wobei sich auch zwei in allen Einzelheiten einander entsprechende, obwohl ganz unabhängig von- einander erfolgte, parallele Umwandlungsreihen ergeben. Wenn wir alles zusammenfassen, geht die dritte Gruppe von Einwänden, die ich wohl nicht weiter auszuführen brauche, von dem Gedanken einer die Entwicklung der Organismen weit beherrschen- den allgemeinen Naturgesetzmäßigkeit aus, welche sich nicht in die DARWiNsche Formel einschnüren läßt. Es ist der Gedanke, der sich durch alle Kapitel meines Buches vom „Werden der Organis- men“ hindurchzieht und der auch in seinem Untertitel „Zur Wider- legung von Darwins Zufallstheorie durch das Gesetz in der Ent- wicklung“ von Anfang an als Leitmotiv betont worden ist; es ist 41 644 Sechzehntes Kapitel. der Gedanke, von dem sich bei ihren Untersuchungen Casp. Friedr. Wolff, Lamarck, Goethe, Carl E. von Baer, Nägeli und so viele andere haben führen lassen. Vierter Einwand, welcher der Genealogie der Organismen entnommen ist. In der Literatur der Deszendenztheorie wird nicht selten die Frage aufgeworfen, ob die Individuen, welche wegen ihrer Ähnlich- keit nach Form und Entwicklung unter den Begriff der Art zu- sammengefaßt werden, von einem einzigen oder von vielen Vor- fahren abstammen. Ihre Beantwortung kann selbstverständlicher- weise nur eine hypothetische sein, da eine strenge Beweisführung über genealogische Verhältnisse, soweit sie sich im Dunkel der Vorzeit verlieren, nicht möglich ist. Man spricht daher, je nachdem man sich für die erste oder zweite Annahme entscheidet, auch nur von einer monophyletischen oder von einer polyphyletischen Des- zendenzhypothese. Wie für die Angehörigen der Arten kann die Abstammungsfrage dann ebenso für die Angehörigen der über- geordneten Kategorien des Systems, also der Gattungen, der Familien, der Klassen und der Stämme, ja schließlich des Pflanzen- und Tierreichs und zuletzt der ganzen Organismenwelt gestellt und ent- weder im monophyletischen oder im polyphyletischen Sinne zu ent- scheiden versucht werden. Es ist von psychologischem Interesse, zu sehen, wie sich die Anhänger des Darwinismus mit einer fast unwiderstehlichen Gewalt zur monophyletischen Hypothese hingezogen fühlen. Es liegt hier, was die Abstammung der Angehörigen einer Art betrifft, ein Punkt vor, wo sich die Darwinisten mit der LlNNEschen Lehre und der Mosaischen Schöpfungsgeschichte, nach der die jetzt lebenden Re- präsentanten der Art die Nachkommen eines Paares von Stamm- eltern sind, in Übereinstimmung befinden. Zwar besteht zwischen beiden Standpunkten ein, wenn auch wichtiger Unterschied inso- fern, als hier das Ahnenpaar der Art an einem Schöpfungstag er- schaffen, dort aber auf einem natürlichen phylogenetischen Wege entstanden ist. Aber die Idee der Abstammungseinheit für die Individuen einer Art, auf die es uns bei der vorliegenden Frage ankommt, wird vom Darwinisten mit nicht geringerem Eifer als vom Anhänger der Mosaischen Schöpfungsgeschichte aufrecht er- halten. Eine sonderbare Erscheinung! Daher gehören denn Aus- drücke, wie „der gemeinsame Stammvater einer Gruppe“, einer Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 645 Spezies, einer Gattung etc., oder „der entfernte Urahn“ oder „Bluts- verwandtschaft“ zu dem festen Bestand der Darwinistischen Literatur. Unter der Herrschaft dieser Gedankenrichtung werden Zu- sammenhänge, die sich bei der Klassifikation der Lebewesen durch ihre Einordnung in die übereinander geordneten Kategorien des Systems ergeben, zugleich auch als der Ausdruck einer näheren oder entfernteren Blutsverwandtschaft angesehen, die auf der gemein- samen Abstammung von näheren oder entfernteren Vorfahren be- ruht. .Ebenso werden Übereinstimmungen, die in Bau und Anord- nung der Organe zwischen Gruppen von Organismen hervortreten und die als Homologien von der älteren vergleichenden Anatomie bezeichnet wurden, jetzt nicht nur als Erbteile von einem gemein- samen Vorfahren gedeutet, sondern sie werden durch einfache Um- kehrung des Grundgedankens sogar auch als Beweise für eine be- stehende Blutsverwandtschaft in Anspruch genommen. Dagegen hält man es nicht für notwendig und der Mühe wert, nach einem wissenschaftlichen Beweis für die Annahmezu suchen, daß Homologie auch wirklich auf gleicher Abstammung beruht. Ich habe mir die Frage vor gelegt, wodurch sich wohl die un- verkennbare Vorliebe für die monophyletische Hypothese mit den von ihr abgeleiteten wichtigen Konsequenzen erklären mag. Drei unbewußte Motive scheinen mir der Nährboden für den Glauben zu sein, von welchem die im Zeitalter des Darwinismus erwachsene Generation noch immer beherrscht wird. Einmal mußte wohl in dieser Richtung der originelle Grundgedanke der Selektionstheorie wirken, daß man sich die Natur unter dem Bilde eines mensch- lichen Pflanzen- und Tierzüchters vorstellen könne. Nun mag es ja bei der Tätigkeit des Züchters Vorkommen, daß, wenn er in seinen Zuchten ein seinen Zwecken entsprechendes „abweichend gebautes Individuum“ findet, er dieses auswählt und von ihm durch Reinzucht eine ihm gleiche Nachkommenschaft zu erhalten sucht. Die übrigen Exemplare, da sie ihm weiter nur zur Last fallen, werden zuweilen bei diesem Selektionsprozeß vernichtet. So hat z. B. der berühmte amerikanische Pflanzenzüchter Burbank, wie uns DE Vries (1906, p. 471) erzählt, aus 40000 selbstgezüchteten Brom- beer- und Himbeerhybriden eine einzige Sorte als die beste aus- gewählt und unter dem Namen „Paradox“ in den Handel gebracht. Alle anderen Exemplare samt ihrer Ernte reifender Beeren wurden ausgerissen, auf einen großen Haufen zusammengetragen und ver- brannt. „Nichts blieb übrig von jenem kostspieligen und lang- 646 Sechzehntes Kapitel. wierigen Versuch, außer der einen Elternpflanze der neuen Varie- tät.“ Ähnlich wie Burbank werden auch andere Gärtner häufiger handeln, wenn sie auf ihren Kulturbeeten eine „Neuheit“ entdeckt haben und sie durch Reinzucht vermehren wollen, um sie in den Handel zu bringen. In solchen Fällen kann man es in der Tat als glaubwürdig ansehen, daß alle Exemplare, welche plötzlich unter einem besonderen Namen als neue Varietät auf dem Markt auf- tauchen , von einem Exemplar als der gemeinsamen Stammform herrühren. Aber was können solche Geschichten für die monophyletische Entstehung der Arten beweisen ? Ist es nicht vielmehr ganz unstatt- haft, solche durch menschliche Eingriffe ausnahmsweise geschaffe- nen Beispiele monophyletischer Entstehung einer Varietät oder gar einer Spezies zu verallgemeinern und als das Verfahren der Natur ausgeben zu wollen ? Denn außer den schon früher zusammen- gestellten und den noch weiter zu erörternden Gründen, welche gegen die Selektionstheorie sprechen, bedarf es nur eines kleinen Hinweises, um zu erkennen, wie das vom menschlichen Züchter ein- geschlagene Verfahren nicht das Verfahren der Natur bei der Er- zeugung neuer Arten von Lebewesen sein kann und wie sehr da- her der Vergleich hinkt. Denn alle vom Züchter vernichteten Pflanzen, aus denen er nur ein Exemplar zur weiteren Vermehrung ausgelesen hat, sind ja ebensogut, manche vielleicht sogar in noch höherem Grade existenzfähig als das ausgewählte. Auch ist dieses in dem zitierten Beispiel durch Bastardierung entstanden und dem- nach kein Zufallsprodukt, sondern es würde bei anderen, in ent- sprechender Weise vorgenommenen Versuchen immer wieder in derselben Weise entstehen. So stimmt die Rechnung bei den aus dem Vergleich abgeleiteten Folgerungen weder in der einen noch in der anderen Richtung. Ein zweites Motiv dürfte wohl das größere Gefühl der Befriedi- gung sein, zu welchem unser Kausalitätsbedürfnis in Fällen gelangt, in denen es glückt, eine Reihe verschiedener Erscheinungen auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen. Dadurch mag schon der Verfasser vom ersten Buch Moses unbewußterweise bestimmt worden sein, die Entstehung des Menschengeschlechts nur von einem Adam und von einer Eva abzuleiten. Denn ein Schöp- fungsakt erklärt an sich die Herkunft des Menschengeschlechts ebenso vollständig, als die Annahme seiner Wiederholung, welche daher auch entbehrt werden kann. Damit werden Fragen, die bei der mehrfachen Schöpfung noch gestellt werden könnten, von vorn- herein abgeschnitten. Kritik der Selektions- und Zufalls theorie. 647 Als drittes Motiv läßt sich, wie mir scheint, die suggestive Wir- kung bezeichnen, welche die Darstellung der einander übergeordneten Kategorien des Systems unter dem Bilde eines Baumes und der Ver- gleich desselben mit dem genealogischen Stammbaum eines Adels- geschlechts ausübt. Man übersieht hierbei, daß eine solche graphische Darstellung auch dann möglich ist, wenn man durch dieselbe einen wirklich genealogischen Zusammenhang gar nicht auszudrücken beab- sichtigt, sondern sich nur ein Hilfsmittel der Übersicht verschaffen will. Denn wie schon im VI. Kapitel (S. 25 1) auseinander gesetzt wurde, kann man die systematischen Begriffe der Stämme, Klassen, Ord- nungen, Familien, Gattungen und Spezies, da der speziellere immer in dem von ihm vorausgehenden allgemeineren Begriff mitent- halten ist, in der Form eines Baumes anordnen, wenn man den all- gemeinsten Begriff zum Stamm und die ihm untergeordneten Be- griffe je nach ihrer Rangordnung zu Haupt- und Nebenästen, zu feineren und feinsten Zweigen macht. An dem zu einem Baum auf diese Weise umgestalteten und genealogisch gedeuteten System kann dann dem Leser in der anschaulichsten Weise trotz des voll- ständigen Mangels einer naturwissenschaftlichen Grundlage mit etwas Phantasie demonstriert werden, wie die einzelnen Abteilungen des Tierreichs voneinander abstammen, wie alle Säugetiere, Vögel, Fische usw. ein und dasselbe Urwirbeltier zum Stammvater haben und wie schließlich auch Pflanzen, Tiere und einzellige Lebewesen von einem Moner als dem denkbar einfachsten Geschöpf der ganzen organischen Welt ihren Ursprung herleiten. Allerdings wird von manchen Seiten für die allem iedrigsten Organismen auch die Möglichkeit eingeräumt, daß sie sich mehrfach sowohl gleich- zeitig als auch in verschiedenen Erdperioden durch Urzeugung ent- wickelt haben können. Im ganzen aber bleibt diese Ausnahme von der monophyletischen Konstruktion des Organismenreichs doch mehr eine Inkonsequenz und ohne Einfluß auf den prinzipiellen Stand- punkt, von dem aus die Deszendenz der Organismen behandelt und als eine streng monophyletische für alle zusammengesetzteren For- men der Pflanzen und Tiere dargestellt wird. Zu ganz entgegengesetzten Resultaten gelangt man, wenn man nach den strengeren Anforderungen einer wirklich genealogischen Wissenschaft in das Deszendenzproblem einzudringen versucht. Dann wird man sich nicht mehr mit der Aufstellung „eines Stammbaums von Begriffen“ begnügen, sondern wird von den konkreten Individuen, die sich durch Fortpflanzung vermehren, als der einzig möglichen Grundlage einer genealogischen Wissenschaft der Biologie ausgehen. Hierbei wird man dann auch dem Umstand Rechnung tragen 648 Sechzehntes Kapitel. müssen, daß bei fast allen Arten von Pflanzen und Tieren mit wenigen Ausnahmen die sie repräsentierenden Individuen getrennten Geschlechts sind, daß daher die Form des Stammbaums bei Er- forschung ihrer Aszendenz überhaupt nicht anzuwenden ist, daß vielmehr nur die Ahnentafel eine richtige und erschöpfende Kunde von den Vorfahren eines „Probandus“ gibt. Da alle diese Verhält- nisse schon nach dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft von der Genealogie objektiv und ausführlich im VI. Kapitel erörtert worden sind, genügt an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf das früher Gesagte. Dasselbe steht aber in direktem Widerspruch zu der monophyletischen Hypothese der Darwinisten. Denn nach der Ahnentafel sind alle jetzt lebenden Individuen sowohl des Menschen- geschlechts als auch aller Pflanzen- und Tierarten, die sich nur auf getrenntgeschlechtlichem Weg fortpflanzen, von einer unge- heuren Vielheit von Ahnen abzuleiten. Wollen wir aber für dies Verhältnis ein Bild gebrauchen, so ist es nicht der oberirdische, sondern der unterirdische Teil eines Baums. Durch ein unendlich viel und dichotom verzweigtes Wurzelwerk ist jeder einzelne ge- schlechtlich erzeugte Organismus in dem Boden der Vergangenheit verankert. Auf den Widerspruch, in den die modernen Deszendenztheo- retiker bei ihrer Darstellung der monophyletischen Hypothese unter dem Bilde eines Stammbaumes mit den Tatsachen der nackten Wirklichkeit geraten, hat schon der Historiker Ottokar Lorenz (1. c. 1898, p. 31) aufmerksam gemacht, wenn er bemerkt: „Für die Naturforschung ergeben sich aus der Betrachtung der Ahnentafel jedes einzelnen Individuums gewisse Probleme, deren Lösung viel- leicht kaum noch in Betracht gezogen ist. Denn wenn die Ahnen- forschung des Menschen zu einer unendlichen Vielheit von Indivi- duen führt, so kann der Deszendenzlehre umgekehrt die Frage nicht erspart bleiben, wie der Übergang der Arten von einer Form zur anderen gedacht werden kann, wenn die Genealogie doch lehrt, daß jedes Individuum eine unendliche Menge von gleichartigen und gleichzeitig zeugenden Ahnen voraussetzt und die Vorstellung einer Abstammung des Menschen durch Zeugungen eines Paares an der unzweifelhaft feststehenden Tatsache scheitern muß, daß jedes einzelne Dasein vielmehr eine unendliche Zahl von Adams und Evas zur Bedingung hat. Die Einheitlichkeit des Abstammungs- prinzips steht daher zunächst im vollen Widerspruch zu den ge- nealogischen Beobachtungen.“ Auch der Biologe wird, wenn er der genealogischen Wissen- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 649 schaft Rechnung trägt, über die Unhaltbarkeit der monophyletischen Stammbaumhypothese kaum noch in Zweifel sein können und daher nach einer anderen wissenschaftlicheren Form der natürlichen Ent- wicklungs- und Abstammungslehre suchen müssen. Auch von dieser Seite her bietet sich eine wichtige Widerlegung der auf dem Prinzip des Zufalls basierten Selektionstheorie des Darwinismus, be- sonders in der von Weismann schärfer gefaßten Form. Denn die wissenschaftliche Untersuchung der Abstammungs- verhältnisse von einer Pflanzen- und Tierart, die sich auf dem Wege der geschlechtlichen Zeugung vermehrt, lehrt uns unwiderleglich zweierlei. Erstens ist jeder jetzt lebende Repräsentant der Art, je weiter wir seine Genealogie in die Vergangenheit zurück verfolgen, im Hinblick auf die geschlechtliche Zeugung das Endprodukt einer Unzahl von Ahnenreihen. Also bedingt geschlechtliche Zeugung, wo sie die herrschende Form für die Erhaltung der Art geworden ist, eine polyphyletische Abstammung. Zweitens finden die kompli- zierten genealogischen Verhältnisse, die sich innerhalb eines von einer Art bevölkerten Bezirkes oder in einer Population ( Johannsen) durch Zeugung, durch Aszendenz und Deszendenz ausbilden, ihren richtigen Ausdruck einzig und allein in der Form des genea- logischen Netzwerks, wie es von mir auf S. 242 konstruiert worden ist. Denn die Deszendenz eines jeden Geschlechtspaares kann mit anderen Generationsreihen der Art in den verschieden- artigsten Kombinationen geschlechtliche Verbindungen eingehen. Da nun die Individuen einer Population, je höher organisiert die betreffende Art ist, um so mehr in geringfügigen Merkmalen von- einander variieren, so ist mit jeder Verbindung zweier genealogischer Linien eine Neukombination der individuellen Merkmale der Er- zeuger in ihren Deszendenten die notwendige Folge, und zwar gelten hierfür die von Mendel und seinen Nachfolgern ermittelten Regeln. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend wählen wir als Beispiel den Menschen. Bei ihm sind die Ehegatten in keiner Ehe als ein- ander gleich beanlagt zu betrachten und ebensowenig ihre Ahnen in den vorausgegangenen Ehen. Folglich wird sich die in einer menschlichen Ehe erzeugte Nachkommenschaft in bezug auf die Kombination väterlicher und mütterlicher Eigenschaften zu Merk- malspaaren wohl Polyhybriden vergleichen lassen. Hieraus können wir den Schluß ziehen, daß in dem genealogischen Netzwerk die ehelichen Verbindungen, die zwischen verschiedenen Linien im Laufe der aufeinanderfolgenden Generationen stattfinden, zu fort- 650 Sechzehntes Kapitel. währenden Veränderungen in den erblichen Grundlagen der durch Zeugung vereinten Idioplasmen führen müssen; und zwar müssen sich diese verändern teils durch stets wiederholte Spaltung von heterozygoten Merkmalspaaren und darauf wieder folgenden Neu- kombinationen in der nächsten Generation, teils auch durch den Erwerb neuer Anlagen, welche z. B. in einer Linie x durch Ehe mit einer etwas differenten Linie y eingeführt worden sind. Nach den Ergebnissen, die durch mühsam und sorgfältig durchgeführte Experimente bei polyhybriden Pflanzen ermittelt worden sind, lassen sich diese Vorgänge gar nicht kompliziert genug vorstellen. Wie läßt sich mit diesen Erwägungen die DARWiNsche Selek- tionstheorie und die nach ihr wieder geformte monophyletische Deszendenztheorie irgendwie in Einklang bringen? Wie sollte eine geringfügige, aber vorteilhafte Veränderung, die bei einem oder bei einigen wenigen Individuen unter Millionen durch Zufall entstanden ist, einen Selektionswert in der früher besprochenen Be- deutung gewinnen können, wenn eine Reinzucht derselben wegen der nach verschiedenen Richtungen stets wieder stattfindenden Kreuzungen im genealogischen Netzwerk eine einfache Unmöglich- keit ist? Wie sollte unter solchen Bedingungen ein durch Zufall um ein geringes, wenn auch vorteilhaft abgeändertes Individuum — oder nehmen wir sogar einige wenige gleich abgeänderte an — , wie sollten diese als Stammeltern den Ursprung einer neuen Art geben können dadurch, daß sie die übrigen im Kampf ums Dasein verdrängen? Ist das nicht ein ganz unglaublicher Vorgang, der allem widerspricht, was man in der Tier- und Pflanzenzucht, oder in der menschlichen Genealogie bei dem Studium der Geschichte einzelner Familien beobachten kann? Führende Geschlechter, die durch ihre besondere Beanlagung aus der großen Masse hervortreten, verschwinden wieder in dieser im Laufe von Generationen, während neue Familien mit unbekannten Vorfahren allmählich aus der Tiefe aufsteigen und ihre Stelle er- setzen. Durch ein Menschenpaar, wenn es auch wegen seiner zufällig erlangten außerordentlichen Eigenschaften alle übrigen weit übertreffen würde, wird gewiß noch keine neue Rasse von Über- menschen geschaffen, die im Kampf ums Dasein die Minderwertigen verdrängt, bis schließlich eine neue Spezies Mensch die Erde be- völkert 1). Wenn sich die Organismenwelt im Laufe der Zeiten in 1) Die nähere Ausführung dieses den Menschen betreffenden Verhältnisses habe ich auf der Grundlage statistisch-sozialer Untersuchungen in meiner 1918 veröffentlichten Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen und des politischen Darwinismus“ gegeben (besonders auf S. 76 — 96). (2. Auflage, 1921, S. 80 — 102.) Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 65 1 den Eigenschaften ihrer Arten verändert, so wirkt bei diesem Vor- gang die schöpferische Natur — das sollte endlich doch zu einem Gemeingut aller Gebildeten werden — nicht wie ein Pflanzen- oder Tierzüchter, der mit den von ihm ausgewählten Individuen durch Isolierung und andere künstliche Vorkehrungen Reinkultur treibt und die ihm nicht erwünschten Exemplare zuweilen vernichtet. Daher hat bei der Beurteilung der Selektionstheorie NäGELI voll- kommen recht mit seiner Bemerkung (p. 310): „Man kann ihr srewiß nicht den V orwurf machen, daß sie in der Studierstube ent- standen sei, — wohl aber, daß sie Stall und Taubenschlag zwar gründlich untersucht, die freie Natur dagegen, namentlich das Pflanzenreich, aus der Vogelperspektive angesehen habe.“ Das Gesagte gilt ebenso und noch mehr in bezug auf menschliche Ver- hältnisse. Wenn wir somit die monophyletische Deszendenz und die zu ihrer Begründung dienende Selektionstheorie fallen lassen müssen, so scheint mir ein Ersatz für letztere nicht fern zu liegen. In einem genealogischen Netzwerk könne nnurUrsachen, die gesetzmäßig und in längerer Dauer mehr oder minder auf alle Glieder einer Population einwirken, bestimmt gerichtete Veränderun gen in ihnen hervor- rufen; nur solche können für die Artbildung von Be- deutung werden. Die Veränderungen müssen ferner die erblichen Grundlagen der Art oder ihr Idioplasma in vielen Individuen treffen. Also müssen die Artzellen mit ihren erblichen Eigenschaften in einer bestimmten Richtung allmählich verändert werden. Während die ausgebildeten Repräsen- tanten der Art mit ihren sichtbaren Merkmalen altern und absterben, bleibt in den Geschlechtszellen das Erbgut der Art erhalten und wird von einer zur anderen Generation überliefert; indem es dabei allmählich neue Eigenschaften erwirbt, verändert es im Laufe der Zeiten auch das sichtbare Artbild. Demnach ist der große Hebel des Fortschritts im Werden der Organismen der gesetzmäßige Wechsel der Generationen, in welchem alle zu voller Ausbildung gelangten, aber in ihrer ausdifferenzierten Form zugleich auch erstarrten und weniger anpassungsfähig ge- wordenen Lebewesen, wenn ihre Zeit erfüllt ist, dem allgemeinen Tod ohne Unterschied und ohne Ausnahme verfallen, worauf dann an ihre Stelle neue anpassungsfähige, mit dem ganzen Erbe der vorausgegangenen Generationen ausgestattete Keime treten. Wie untergeordnet, von wie geringer Bedeutung erscheint fürwahr diesem 652 Sechzehntes Kapitel. großen und allgemeinen Naturgesetz gegenüber die vorzeitige, auf vielerlei Zufälligkeiten beruhende Vernichtung von Individuen, welche Darwin nach der Lehre von Malthus zur Auswahl des Passenden im Kampf ums Dasein verwertet und zu einem Grund- pfeiler seiner Selektionstheorie gemacht hat? in dieser Beziehung sei noch einmal auf die Darlegungen im VI. Kapitel (S. 228 — 262): „Die Erhaltung des Lebensprozesses durch die Generationsfolge“, besonders auch auf den letzten Abschnitt des Kapitels über „Tod und Verjüngung“ (S. 253 — 262) verwiesen. Fassen wir also unseren vierten Einwand in wenige Worte zusammen, so weisen auch unsere Betrachtungen über die Genea- logie der Organismen nicht auf eine monophyletische Entstehung der Art auf Grund der Zufallstheorie, sondern auf eine poly- phyletische Deszendenz unter der Wirkung von Natur- gesetzmäßigkeiten und unter Preisgabe der natür- lichen Zuchtwahl hin. Fünfte Gruppe von Einwänden. Die Stellung der Selektionstheorie zum Zweckbegriff und die sich hieraus ergebenden Folgen. Um den gewaltigen Einfluß zu begreifen, welchen die Selektions- theorie auf die biologischen Wissenschaften und durch sie auf die geistigen Strömungen eines halben Jahrhunders ausgeübt hat, läßt es sich nicht umgehen, auch noch die Stellungnahme vieler Ge- lehrter zum Zweckbegriff innerhalb der modernen Naturwissen- schaften zu besprechen. Auf viele Übertreibungen durch Auswüchse der SCHELLINGschen Naturphilosophie, die weniger Schelling als seinen Anhängern zur Last fallen, war von seiten der Naturforscher eine tief gehende und nur allzu berechtigte Reaktion gefolgt. Namentlich auf den Gebieten der Physik und Chemie wurde die Erforschung der Natur mit exakten Methoden als die allein berechtigte Aufgabe der Wissen- schaft hingestellt. Und da der Zusammenhang der Erscheinungen am klarsten in den Fällen erkannt ist, wo es nach mechanischen Prinzipien, womöglich in der scharf formulierten Sprache der Mathe- matik geschehen kann, wurde eine Wissenschaft um so vollendeter angesehen, je mehr sich ihre Erklärungen als mechanische und be- sonders in mathematische Formeln gebrachte bezeichnen ließen. Wenn nun schon die Chemie von diesem Ziel der Naturwissenschaft weit entfernt blieb, so war es doch in noch viel höherem Grade bei Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 653 der Biologie der Fall. Denn die Organismen, zumal in ihren voll- kommensten Formen, sind so außerordentlich zusammengesetzte Naturprodukte und ihre zahllosen Teile sind von den größten bis zu den allerkleinsten zu einem Gebilde von so wunderbarer Zweck- mäßigkeit verknüpft, daß eine mechanische Erklärung nach dem Vorbild der anorganischen Naturwissenschaften aussichtslos erscheinen mußte. Als du Bois-Reymond seinen erfolgreichen Feldzug gegen den Verlegenheitsbegriff der Lebenskraft eröffnete, geschah es in der ausgesprochenen Absicht, wenigstens den physiologischen Teil der Biologie den exakten Naturwissenschaften anzugliedern; er wollte die zusammengesetzteren Lebenserscheinungen aus den ein- facheren chemischen und physikalischen Kräften der leblosen Natur erklären. Unter der Vorherrschaft dieser Richtung fand der Darwinis- mus einen gut vorbereiteten Boden für sein Gedeihen. Denn jetzt schien auch von der morphologischen Seite her der Anschluß an die exakten Naturwissenschaften gewonnen zu sein. „Wir erblicken in Darwins Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein“, erklärt Haeckel in seiner generellen Morphologie (1866) „den schlagendsten Beweis für die ausschließliche Gültig- keit der mechanisch wirkenden Ursachen auf dem ge- samten Gebiet der Biologie , wir erblicken darin den definitiven Tod aller teleologischen und vitalistischen Beurteilung der Organis- men.“ „Die unschätzbaren Entdeckungen Darwins haben das Ge- samtgebiet der organischen Natur plötzlich durch einen so hellen Lichtstrahl erleuchtet, daß wir fürderhin keine Tatsache auf dem- selben mehr als unerklärbar werden anzusehen haben.“ Alle zweck- mäßigen Einrichtüngen in der Organismenwelt wurden jetzt „als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion erklärt“ (Haeckel, Nat. Schöpf., 1902, p. 288). In unzähligen Wiederholungen tritt uns fortan der gleiche Ge- danke in der biologischen Literatur von 5 Jahrzehnten entgegen. Denn wie 1866 Haeckel, so erklärt auch 1909 noch Weismann (1909, 1. c. p. 4 u. 5): ,,Mit dem Selektionsprinzip war das Rätsel gelöst, wie es denkbarsei, daßdasZweckmäßige ohne Eingreifen einer zwecksetzenden Kraft zustande kommt, das Rätsel, welches die lebende Natur von allen Enden und Ecken her unserem Begreifen entgegenhält , und welchem gegenüber auch der Geist eines Kant keinen Ausweg wußte und ein Verständnis für unmöglich und nicht zu hoffen hielt.“ „Wie das zu denken sei, das lehrt uns die Selektionstheorie, insofern sie 654 Sechzehntes Kapitel. uns begreifen läßt, daß zwar fortwährend Unzweckmäßiges so gut als Zweckmäßiges sich bildet, daß aber allein das Zweckmäßige überdauert, das Unzweckmäßige aber schon in seiner Entstehung wieder zugrunde geht.“ „Ohne Selektionsvorgänge müßten wir eine ,prästabilierte Harmonie' nach dem berühmten LEiBNizschen Muster annehmen, durch welche die Uhr der Entwicklung der Lebensformen aufs genaueste gleichginge mit der der Erdgeschichte.“ Um solchen Vorstellungen ein noch größeres Gewicht und zu- gleich eine noch größere Werbekraft in weiteren Kreisen zu geben, wurde die Meinung verbreitet, daß die Annahme von einer Zweckmäßigkeit der Organismen, wenn man sie nicht durch Selektion e r k 1 ä r'e , zu einer dualistischen Welt- anschauung führe, zur Annahme eines Schöpfers, welcher, wie der Mensch seine Maschinen, so die Organismen nach seinen Plänen zweckmäßig geschaffen habe, daß es daher von der Teleologie zum Wunderglauben nur ein kleiner Schritt sei. So begann jetzt eine Periode, in der zum Vitalist, Reaktionär und Dualist gestempelt wurde, wer sich gegen die Selektionstheorie aussprach. Es wurde in Verbindung mit Darwins Lehre eine „Teleophobie“ groß gezogen, welche der Philosoph v. Hartmann (1907, 1. c. p. 37) als „eine, in der modernen Naturwissenschaft grassierende Kinderkrank- heit“ bezeichnet. Daher ist zu dieser Frage jetzt auch noch Stellung zu nehmen, Hierbei muß zunächst gleich betont werden, daß in der Frage nach der Entstehung des Zweckmäßigen sich die extremen An- hänger Darwins, wie schon in anderen Dingen, in einem logischen Widerspruch mit sich selbst befinden. Das tritt schon in den zwei zitierten Aussprüchen Weismanns klar zu- tage. Denn in dem einen Satz behauptet er, daß das Selektions- prinzip das Zustandekommen des Zweckmäßigen ohne Eingreifen einer zwecksetzenden Kraft erklärt, dagegen heißt es im zweiten Satz: daß die Selektionstheorie uns nur be- greifen läßt, „daß zwar fortwährend sich Unzweckmäßiges so gut als Zweckmäßiges bildet, daß aber allein das Zweckmäßige über- dauert, das Unzweckmäßige aber schon in seiner Entstehung wieder zugrunde geht.“ Das sind aber zwei miteinander ganz unverein- bare Behauptungen. Denn der zweite Satz besagt etwas ganz anderes als der erste; im zweiten wird das Zweckmäßige als ein von der Natur Gebildetes, also als bereits vorhandenes und nicht näher Erklärbares von der Selektionstheorie vorausgesetzt, nicht aber wird sein Zustandekommen erklärt. Wie jeder bei der Lektüre von Darwins Schriften sich leicht überzeugen kann, besteht das Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 655 Wesentliche bei der Selektionstheorie nur darin, daß durch Summation von kleinsten, durch die Natur er- zeugtenZweckmäßigkeiten das größere Zweckmäßige geschaffen werden soll. Denn wenn kleine Organisations- vorteile im Kampf ums Dasein erhalten und summiert werden, weil sie zweckmäßig sind, so setzt Darwin die Zweck- mäßigkeit als etwas schon in der Natur der Organismen Vorhandenes voraus. In seiner Absicht hat es über- haupt gar nicht gelegen, das Problem der Zweck- mäßigkeit, welches ebenso wie das der K ausali tät ein metaphysisches ist, zu lösen. Darwin war alles andere als ein Metaphysiker; er war ein scharfsinniger, erfolgreicher Be- obachter, in seinem Denken ein Realist und, wie die meisten seiner Landsleute, ein Utilitarier, aber in der logischen Fassung seiner Gedanken läßt er es vieler Orten an der wünschenswerten Schärfe fehlen, wie schon früher gezeigt wurde. Durch ihre oben zitierten Behauptungen haben sich die Teleo- phoben noch in einen zweiten Widerspruch verwickelt. Es lassen nämlich Darwin und die meisten seiner Anhänger, wenn wir von Weismann mit seiner Lehre von der „Allmacht der Natur- züchtung“ absehen, nur einen Teil der organischen Zweckmäßig- keit durch Selektion, einen anderen Teil aber nach dem Lamarck- schen Prinzip durch direkte Bewirkung gebildet werden. Zu dem Zwecke will ich zwei Fälle von direkter Bewirkung in bezug auf ihre Kausalität etwas näher analysieren. Wie tägliche Erfahrung lehrt, werden durch konsequent durchgeführte, längere Übung einzelne Muskelgruppen des Menschen wie derjenigen des Oberarms, gestärkt; sie nehmen oft sehr erheblich an Volumen, an Zahl und Dicke der Muskelfasern und an Leistungsfähigkeit zu. Die Übung oder der Gebrauch ist also in diesem Fall die Ursache und ihre Wirkung ist die veränderte morphologische und funktionelle Beschaffenheit des Muskels. Insofern liegt zunächst ein einfaches kausalmechanisches Verhältnis vor. Aus diesem läßt sich aber leicht, wenn wir einen Schritt weiter gehen, ein zweckmäßiges Verhältnis ableiten, da die größere Leistungsfähigkeit des Muskels ihn für schwerere Arbeit wie beim Schmied für die erfolgreiche Verwendung des schweren Hammers beim Schmieden geeignet macht. Wir be- zeichnen dann den gestärkten Muskel als das Mittel, durch welches eine bestimmte Arbeit als Zweck ermöglicht wird, und erblicken in dem Verhältnis, das durch Stärkung des Muskels für seinen Ge- brauch geschaffen worden ist, ein zweckmäßiges. In ähnlicher Weise lassen sich alle Fälle von funktioneller An- 656 Sechzehntes Kapitel. passung analysieren. Bei der pathologischen Herzhypertrophie ist die durch einen Klappenfehler gesetzte Zirkulationsstörung die Ur- sache und ihre Wirkung ist die Vermehrung der Muskelfasern des Herzens in einer oder beiden Kammern. Die hierdurch ermög- lichte, kräftigere Herzaktion wird dann wieder das Mittel, durch welches die Regulierung der Zirkulationsstörung als Zweck erreicht wird. Insofern ist die Herzhypertrophie wieder eine zweckmäßige Veränderung. Da jeder Zweckmäßigkeit mechanische Kausalität zugrunde liegt, lassen sich die Begriffe Mittel und Zweck auch durch die Worte „Ursache und Wirkung“ ersetzen, und wir können dann den Zweck bei unserer Urteilsbildung ebensogut ganz aus dem Spiel lassen. So kann man den durch Übung gestärkten Armmuskel auch als Ursache für die größere Arbeitsleistung des Schmiedes, ebenso wie die Herzhypertrophie als die Ursache für die regulierte Blutzirkulation bezeichnen, wie es häufig geschieht. Jedenfalls aber geht aus unserer Darlegung das eine hervor, daß die Selektion an dem Zustandekommen des Zweckmäßigen in den besprochenen zwei Fällen keinen Anteil hat. Nicht minder deutlich spricht hierfür die Zweckmäßigkeit, welche schon den fundamentalen Lebenseigenschaften auch der niedersten Organismen innewohnt. Denn sie läßt sich gleichfalls nicht durch Selektion erklären, wie schon früher (S. 640) gezeigt wurde. Nehmen wir z. B. das Vermögen aller Zellen, sich durch Teilung periodisch zu vermehren. Schon von den Bakterien an ist es eine Grundeigenschaft der organischen Substanz. Da nun die Teilung der Zeile nur durch ihre vorausgegangene Ernährung und durch ihr Wachstum ermöglicht wird, sind diese die Ursache und ihre Wirkung ist die gelegentlich und zeitweise erfolgende Teilung. Außerdem aber verhindert dieselbe auch das Aussterben der Art; sie ist also ein Mittel zum Zweck der Erhaltung des Organismen- reichs und muß daher, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, als ein sehr zweckmäßiges Vermögen der lebenden Substanz be- zeichnet werden, wobei zugleich die Erhaltung des Organismenreichs als ein Naturzweck aufgefaßt wird. Wie sollte nun an dem Zu- standekommen dieser größten Zweckmäßigkeit, von welcher das Dasein der Organismenwelt abhängt, natürliche Zuchtwahl überhaupt beteiligt gewesen sein? Denn wo wäre hier der Hebel zu finden, an dem eine akkumulative Selektion hätte angreifen und wirken können? Ist doch mit einer Auswahl bloß von kleinen Ansätzen zu einer Teilung nichts gewonnen, da nur die Teilung selbst die Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 657 Art vor dem Aussterben bewahren kann. Wie in diesem Fall mit voller Klarheit zu erkennen ist, sind Selektionswert und Häufung durch akkumulative Züchtung, deren Wirksamkeit auch schon aus vielen anderen Gründen in Zweifel gezogen werden mußte, jeden- falls für das Zustandekommen des Zweckmäßigen und also auch für seine Erklärung ohne jede Bedeutung. Was für die Teilbarkeit, gilt genau ebenso von allen anderen fundamentalen Eigenschaften der lebenden Substanz. Auch sie tragen schon bei den niedersten Lebewesen den Stempel des Zweck- mäßigen ebenso deutlich an sich als die viel komplizierteren Vor- gänge und die ihnen dienenden Einrichtungen bei den höchsten Pflanzen und Tieren. Eine zweckmäßige Bewegung ist es, wenn die grünen Algenzellen sich nach dem Lichte hin bewegen, ohne welches ihr Chlorophyll apparat nicht zu assimilieren vermag (vgl. S. 380), oder wenn die Lohblüte aus sauerstoffreiem Wasser durch Aussendung ihrer Pseudopodien in eine sauerstoffhaltige Umgebung kriecht, oder wenn Fäulnisbakterien im Licht sich in der Umgebung einer sauerstoffabscheidenden Diatomee (S. 379) ansammeln, während sie dieselbe im Dunkeln bald verlassen, da sie jetzt keinen Sauer- stoff für ihren Stoffwechsel mehr erhalten. Zweckmäßig ist es, wenn Rhizopoden, Infusorien usw. feste Nahrungsstoffe in ihr Inneres aufnehmen, wobei sie oft sogar eine besondere Auswahl treffen, da sie ohne Nahrung nicht würden bestehen können. Zweckmäßig endlich ist es, wenn viele Einzelligen Dauersporen zu erzeugen ver- mögen ; denn dieser Zustand gibt ihnen Gelegenheit , sich unter ungünstigeren Bedingungen, während deren sie im aktiven Zustand absterben würden, zu erhalten. Er ist ihnen ferner ein Mittel zur weiteren räumlichen Verbreitung; denn eingetrocknete Sporen können infolge ihres geringen Gewichtes wie Staub durch die Luft weit fortgeführt werden, bis sie auf einen geeigneten, genügend feuchten Standort geraten, der ihnen wieder zu keimen gestattet. Ist es möglich, diese Eigenschaften der lebenden Substanz, die sich leicht noch weiter vermehren lassen und als Beispiele voll- endeter Zweckmäßigkeit ebensogut wie die zweckmäßigen Ein- richtungen höherer Organismen gebraucht werden können, durch die Selektionstheorie zu erklären? Die Frage aufwerfen, heißt sie in allen diesen Fällen auch gleich verneinen. Die soeben erörterte Stellung des Darwinismus zum Zweck- begriff kann uns als Übergang zu dem dritten Abschnitt der Kritik der Selektions- und Zufallstheorie dienen. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 42 658 Sechzehntes Kapitel. C. Kritik der Intraselektion oder des Kampfs der Teile im Organismus. Die Verbindung der Selektionstheorie mit dem Zweckbegriff, die bald nach dem Erscheinen von Darwins Werk „Über die Ent- stehung der Arten“ erfolgte, ließ unter den Biologen die rasch um sich greifende Ansicht aufkommen, daß es gelungen sei, „alle zweck- mäßigen Einrichtungen in der Organismenwelt als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion zu erklären“. Dies gab dann wieder den Anhängern Darwins den Anstoß, seine Theorie noch über ihr ursprüngliches Geltungsbereich auszudehnen. Da die natürliche Zuchtwahl in der Fassung ihres Urhebers nur von dem züchtenden Kampf ums Dasein zwischen den Indivi- duen der Arten und der durch ihn erzielten Erhaltung des Passenden handelt, wurde von anderer Seite jetzt geltend gemacht, daß „durch sein Prinzip nur ein Teil der Zweckmäßigkeit im Organis- mus seine Erklärung gefunden habe“. Auf diese vermeintliche Lücke hat zuerst Roux in einer trefflichen und ideenreichen Schrift: „Der Kampf der Teile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre“, 1881 hingewiesen. Durch die vorausgegangenen Untersuchungen, bemerkt er (1. c. p. 4), „wurde weniger für die Erforschung der Entstehungs- weise und -Ursachen der zweckmäßigen Einrichtungen im Innern, sowohl zum Teil derjenigen, welche Speziescharaktere darstellen, als besonders der allgemeineren, ganzen Klassen oder Ordnungen gemeinsamen getan, und daher auch die Lehre im einzelnen noch nicht eingehend geprüft, ob sie fähig sei, alle vorhandenen inneren Zweckmäßigkeiten der Organisation als notwendige Forderungen der bisher auf gestellten mechanischen Prinzipien her Vorgehen zu lassen“. Roux macht auf viele Einrichtungen der funktionellen Anpassung aufmerksam, auf Bildungen im Knochen-, Binde- und Muskelgewebe. Denn nach seiner Meinung könne „die Auslese aus formalen Einzel Variationen dieselben nie hervorbringen, da hier schon Tausende zufällig in dieser Weise zweckmäßig geordneter Fasern resp. Bälkchen nötig gewesen wären, um nur den geringsten im Haushalt bemerkbaren und durch die Auslese züchtbaren Vor- teil durch Materialersparnis hervorzubringen“ (1. c. p. 30). Durch seine Überlegungen hätte nun eigentlich Roux an der Selektionstheorie irre werden müssen; anstatt dessen sucht er die vermeintliche Lücke durch Übertragung des DARWiNschen Prinzips auf die Individualitätsstufen niederer Ordnungen, aus denen sich Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 659 Pflanzen und Tiere zusammensetzen, auszufüllen. Unter Berufung* auf den Ausspruch von Heraklit: „Der Streit ist der Vater der der Dinge“, und auf die von Darwin und Wallace hieraus ab- geleiteten Folgerungen meint Roux (1; c. p. 65): „Wie bei diesen der Kampf des Ganzen (Personen) zum Übrigbleiben des Besten führe, könne er es wohl auch unter den Teilen getan haben und noch tun, wenn Gelegenheit zu einer derartigen Wechselwirkung der Teile im Innern gegeben sei.“ Er nimmt dann weiter eine von Anfang an bestehende Ungleichheit der Teile als Grundlage eines Kampfes zwischen ihnen an (1. c. p. 69); „aus der Ungleicheit ergebe sich der Kampf von selber infolge des Wachstums und auch schon einfach infolge des Stoffwechsels. Denn da alle Teile sich im Stoffwechsel verzehren, so werden sie zur Erhaltung und zur Produktion sich ernähren müssen, und dabei werden diejenigen Teile, welche mit der vorhandenen Nahrung oder aus sonst einem Grunde weniger gut, d. h. weniger rasch und weniger vollkommen sich zu regenerieren vermögen, bald in erheblichen Nachteil gegen andere günstiger angelegte kommen.“ Auf diesem Wege will Roux die auf der Auswahl der Personen gegründete Selektionstheorie durch die auf demselben Prinzip fußende Intraselektion, die innerhalb eines jeden Organismus durch den Kampf seiner Teile geschieht, noch weiter ergänzen. Wie sich das Orga- nismenreich in eine Folge niederer und höherer übereinander- geordneter Stufen der Individualität gliedert, so gliedert sich jetzt auch der Prozeß der Selektion in eine Kormal-, Personal-, Histonal-, Zellular- und Molekularselektion. Entsprechend den einzelnen Indivi- dualitätsstufen läßt sich daher nach der so erweiterten und angeb- lich verbesserten Lehre Darwins auch ein züchtender Kampf der Zellen, ein Kampf der Gewebe, ein Kampf der Organe miteinander unterscheiden. — Beim Kampf der Molekel und beim Kampf der Zellen soll es dann ebenfalls, wie beim Kampf der Personen, unter- einander zu einer Auslese des Besseren kommen (1. c. p. 96). In- dem später Weismann den Gedanken Roux’s vom züchtenden Kampf der Teile im Organismus auf nahm, übertrug er ihn auf das Keimplasma und stellte seine Germinalselektion auf, welche ich hier nicht weiter zu besprechen brauche, da sie uns schon früher beschäftigt hat (Kap. XIII, S. 521). Bei einer Beurteilung der Roux-WEiSMANNschen Versuche, die Selektionstheorie noch über das von ihrem Urheber behandelte Gebiet auszudehnen, ist gleich von vornherein hervorzuheben, daß die Vorstellung einer Intraselektion an denselben Mängeln 42* 66o Sechzehntes Kapitel. leidet, wie Darwins Selektion der Personen, nur noch in etwas höherem Maße. Wenn schon von Darwin der Ausdruck „Kampf der Individuen“ nur in einem erweiterten und vielfach bildlichen Sinn gebraucht wird, so ist dies noch mehr bei der Unterscheidung einer Intraselektion der Fall, die auf einem Kampf der Organe, der Gewebe, der Zellen beruhen soll. Von einem solchen ist ja durch Beobachtung auch nicht die Spur zu sehen, er wird nur der Theorie zuliebe vorausgesetzt, ebenso wie sich der Kampf der Molekel in der Zelle der Beobachtung entzieht und wie seine Annahme zum Verständnis der chemischen Prozesse, die sich in der mannig- faltigsten Weise in der lebenden Zelle abspielen, auch nicht im geringsten beiträgt. Wenn auch seit Darwin der Kampf ums Dasein zu einem Schlagwort geworden ist, das auf alle möglichen Verhältnisse angewandt worden ist, so hat doch der Chemiker bis- her nicht daran gedacht, an Stelle der Affinitäten und Valenzen zur Erklärung der von ihm dargestellten chemischen Verbindungen den Kampf der „Moleküle im Reagenzglas“ zu verwenden, wie ich schon bei einer anderen Gelegenheit bemerkt habe. Seine Wissen- schaft würde wohl auch keinen Gewinn aus dieser Bildersprache gezogen haben. Bei näherer Prüfung ist die Intraselektion oder die Auslese und Züchtung des Passenden durch Akkumulation zufälliger Organi- sationsvorteile in bezug auf Zellen, Gewebe und Organe ein eigen- artiger Versuch, Verhältnisse zu erklären, die man sonst auf den Prinzipien der Arbeitsteilung, der Differenzierung und der Koadap- tation beruhen läßt. Beide Vorstellungs weisen sind nicht mitein- ander vereinbar. Arbeitsteilung mit ihren Folgeerscheinungen setzt keinen Kampf voraus. Wo sie stattfindet, gibt es weder Sieger noch Besiegte; vielmehr ziehen die arbeitsteilig gewordenen leben- den Einheiten niederer und höherer Ordnung aus der Teilung der Arbeit gleichermaßen Nutzen, und noch mehr das Ganze, dessen Teile sie sind. Indem sie sich in ihren Funktionen ergänzen und dadurch von selbst voneinander und vom ganzen abhängig werden, sind sie zugleich infolge der Arbeitsteilung auch zu- einander und ans Ganze angepaßt, dessen integrierte Teile sie geworden sind (vgl. hierzu Kap. IV, S. 139 — 148). Schon im elften Kapitel, das über Anpassungen der Organismen aneinander handelt, habe ich dieses Verhältnis bei Besprechung der Tierstöcke und Tierstaaten (S. 471 — 476) durch kritische Analyse einiger Beispiele, wie der Siphonophoren, der Bienen, Ameisen und Termiten erörtert. Daher sei auf das dort Gesagte noch einmal Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 66 1 verwiesen, um den Gegensatz zwischen dem Darwinismus und der Lehre von der direkten Bewirkung auf einer möglichst breiten Grundlage durchzuführen. Noch besser als durch das Studium des pflanzlichen und des tierischen Organismus erfahren wir, wie sich Arbeitsteilung und Koadaptation entwickelt, an uns selbst, als Gliedern der mensch- lichen Gesellschaft, von welcher ja der Begriff Arbeitsteilung erst in die Biologie übernommen ist. Wie jeder weiß, fügen sich die einzelnen mehr oder minder unbewußt und durch vielerlei Umstände veranlaßt, in die einzelnen Berufe ein und übernehmen dement- sprechende Funktionen in der Gesellschaft. Wenn hierbei zuweilen auch Zwang und Kampf mitunterläuft, so handelt es sich doch nicht um einen Kampf im Sinne der Selektionstheorie, um einen Kampf auf Leben und Tod und um ein Überleben des Passenden ; denn selbst im unfreiwilligen Beruf sind die einzelnen in der Lage, sich und ihre Art zu erhalten. Daß hierbei das Überfülltwerden einzelner Berufe durch Abströmen der Überschüssigen auf andere Berufe sich allmählich von selbst reguliert, lehrt ebenfalls die Erfahrung. Auch das Wort Auslese, das für manche Fälle der Berufsent- scheidung, wie bei amtlichen Anstellungen etc., gebraucht werden kann, gewinnt hier eine andere Bedeutung als in der Selektions- theorie; denn da die mit der Auswahl des einzelnen verbundene Berufung sich nicht auch auf seine Nachkommen erstreckt und das Amt sich nicht mit auf diese vererbt, ist von vornherein die akku- mulative Wirkung* ausgeschlossen, durch welche Darwin die Ent- stehung neuer Formen allmählich Schritt für Schritt stattfinden läßt. (Vgl. hierüber meine früher zitierte Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“, i. Aufl. S. 76 — 92, 2. Aufl. 1921, S. 80 — 88.) Die mit der Arbeitsteilung von selbst verbundene Koadaptation und das durch sie erzielte unbewußie Zusammenwirken unzähliger Glieder führt zu einem Endergebnis, das als ein im ganzen har- monisch reguliertes System bezeichnet werden muß und dessen Entstehung auf einer ganz anderen Grundlage beruht, als sie in der Selektionstheorie gegeben ist. Das harmonische System ist zugleich auch ein zweckmäßiges; denn seine einzelnen Glieder stehen nicht nur zueinander in kau- salen Zusammenhängen, sondern auch im Verhältnis von Mittel und Zweck, also in Zweckverbänden. Die durch Arbeitsteilung ge- schaffenen Verhältnisse lassen sich daher sowohl vom kausalen wie vom teleologischen Gesichtspunkt aus betrachten, wie alle Verhält- 602 Sechzehntes Kapitel. nisse im Organismenreich. So sind sie ebenfalls, wie die schon früher (S. 652) angestellte Betrachtung, eine handgreifliche Wider- legung der Meinung, daß die Entstehung der Zweckmäßigkeit der Lebewelt durch die Selektionstheorie auf mechanischem Wege als Zufallswirkung erklärt worden sei; denn die eben hervorgehobene, durch Arbeitsteilung entstandene Zweckmäßigkeit der menschlichen Gesellschaft läßt sich weder durch Selektion noch durch Zufall er- klären. Ebensowenig ist dies möglich bei allen Prozessen im Orga- nismenreich , die sich unter den Prinzipien der Arbeitsteilung, Differenzierung und Koadaptation zusammenfassen lassen und da- durch eo ipso zugleich mit Zweckmäßigkeit verbunden sind. Wenn Darwin, durch eine irrtümliche Auffassung der künst- lichen Zuchtwahl veranlaßt, nicht seine Selektionstheorie auf gestellt und wenn diese nicht damals in so weiten Kreisen der Wissen- schaft Beifall gefunden hätte, so würde gewiß niemand auf den Gedanken verfallen sein, die zweckmäßigen Einrichtungen im Innern des pflanzlichen und tierischen Organismus oder gar im Innern der Zelle durch die Hypothesen vom Kampf der Teile im Organismus, von der Intraselektion und der Germinalselektion zu erklären, in der Weise, wie es Roux und Weismann getan haben. Nach dem Vorbild von Darwin arbeitet auch Roux mit zwei sich gegenseitig auf hebenden Prinzipien. Wer im ersten Teil seiner Schrift seine zutreffenden Bemerkungen über die Wirkung des vermehrten und verminderten Gebrauchs , über die funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur, über die Architektur der Knochenspongiosa, über die Anpassung bindegewebiger Teile und der Gefäßwand an ihre Aufgabe durchliest, wird glauben, daß Roux sich vollkommen auf dem Boden des Lamarckismus bewegt und ein Anhänger der direkten Bewirkung ist. Anstatt dessen erfolgt im zweiten Teil der Schrift eine überraschende und kaum motivierte Wendung, indem er die zweckmäßigen Einrichtungen im Innern des Organismus, die sich nach seiner richtigen Einsicht durch Personalselektion nicht erklären lassen, nun trotzdem durch Ausdehnung des Selektipnsprinzips auf die untergeordneten Indi- vidualitätsstufen, also durch Intraselektion und dadurch ebenfalls im Sinne Darwins zu begreifen sucht. Es geschieht dies in den beiden Kapiteln über den Kampf der Teile im Organismus und über den Nachweis der trophischen Wirkung der funktionellen Reize. Schon Pauly (1. c. p. 84 — 86) hat den hierin liegenden Widerspruch in Rouxs’ Denken erkannt und ihn „als eine höchst merkwürdige und beklagenswerte Wendung bezeichnet, welche zu den größten Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 663 psychologischen Seltsamkeiten in der Geschichte des Darwinismus gehöre“. Er führt sie auf die Befangenheit Rouxs’ in der seine Zeit beherrschenden mechanischen Richtung in den Naturwissen- schaften und auf die Stellungnahme derselben zum Zweckbegriff zurück. Auch unter den Anhängern Darwins wurden energische Ein- sprüche gegen derartige Überspannungen des Selektionsprinzips er- hoben. H. Spencer spricht im Gegensatz zu der von Weismann verkündeten „Allmacht der Naturzüchtung“ von einer „Ohnmacht derselben“. Plate erhebt zahlreiche Ein wände gegen den Kampf der Teile von Roux (1907, 1. c. p. 337 — 351); noch mehr aber greift er Weismanns Germin alselektion (1. c. p. 378 — 384) an und gesteh^ wie schon früher (p. 502) bemerkt, offen ein, „daß er eher die ganze Selektionstheorie über Bord werfen, als sie auf der Germinalselektion, die er für gänzlich verfehlt hält, aufbauen würde“. D. Zwei weitere, wenn auch mehr untergeordnete Argumente. Zum Schluß meiner Kritik der Selektionstheorie und des Kampfes ums Dasein berühre ich noch kurz zwei Argumente, welche mir auch gegen die oft gehörte Meinung zu sprechen scheinen, daß die DARWlNsche Formel ein allgemeines biologisches Naturgesetz sei. Das eine Argument ergibt sich aus der gewiß auffälligen Erscheinung, daß die Lehren Darwins in den Untersuchungen und in den zu- sammenfassenden Lehr- und Handbüchern der Physiologie , der Anatomie, der Entwicklungsgeschichte, der Gewebe- und der Zellen- lehre gar nicht zum Ausdruck und zur Geltung kommen. Hier werden vielmehr die wissenschaftlichen Ergebnisse und Probleme in einer Form behandelt, die gar keine Beziehung zum Darwinis- mus hat. Wie die Astronomie, Chemie und Physik, so entwickeln sich auch die Spezialgebiete der Biologie in ihrer eigenen Art weiter, wobei es ganz gleichgültig ist, ob sich der einzelne Forscher ablehnend oder zustimmend zur DARWiNschen Formel und ihren Ergänzungen verhält. Ist dies nicht auch ein Beweis, daß die Selektionstheorie eben kein aus den zu beobachtenden Erscheinungen des Organismenreichs abgeleitetes, unentbehrliches Naturgesetz von allgemeiner Bedeutung ist? Was für eine ganz andere Stellung nehmen dagegen die New- TONschen und KEPLERschen Gesetze ein, welche die unentbehrliche Grundlage für das Lehrgebäude der Himmelskörper bilden und das Vorbild aller exakten Naturwissenschaften seit 2 Jahrhunderten sind. Gleichwohl hat auch ihnen der Gelehrte Carl du Prel (1882) ge- 664 Sechzehntes Kapitel. glaubt, die DARWiNsche Formel zu weiterer Erklärung noch an- hängen zu müssen, zu einer Zeit, als die Woge des Darwinismus am höchsten ging. Ich nehme das hierüber zuerst in meiner Schrift „zur Abwehr“ Gesagte auch an dieser Stelle noch unter die Reihe meiner Gegenargumente zu ihrer Vervollständigung auf. Unter dem Einfluß seiner Zeitströmung stehend, hat DU Prel (1882) seinem Buch: Entwicklungsgeschichte des Weltalls, Entwurf einer Philosophie der Astronomie, noch den Untertitel „Der Kampf ums Dasein am Himmel“ gegeben. Er glaubt, wie er selbst des genaueren ausführt, das DARWiNsche Gesetz, noch über die bio- logische Wissenschaft hinaus ausdehnen zu können, weil „alle Zweige der empirischen Forschung dem Erklärungsprinzip der Entwicklung zutreiben“ und „weil diese in keinem Gebiet getrennt werden könne von einer Art von Konkurrenz“. „Denn jede Entwicklung besage teilweise Negation des jeweilig gegebenen Zustandes und Bewegung nach einem neuen Zustande hin unter Überwindung aller retar- dierenden Momente“ (1. c. p. 7). Auf dem Wege der Verallgemeinerung und Verflüchtigung der Begriffe findet DU Prel zwischen den biologischen und den astronomischen Erscheinungen eine Analogie ; er läßt sie darin be- stehen, daß wie die Tierwelt auch der Kosmos in einer fortwähren- den Entwicklung begriffen ist. In diesem Prozeß aber sei „die zweckmäßige Bewegung der Gestirne (gegenseitige Anpassung) in- direkt dadurch erzielt worden, daß unzweckmäßig sich bewegende Gestirne beseitigt wurden oder wenigstens in ihren Bahnen Korrek- turen erfuhren.“ Im Bilde gesprochen, ist also das Weltensystem aus einem Kampf ums Dasein der Gestirne durch natür- liche Auslese der zweckmäßig sich bewegenden und durch all- mähliche Vernichtung (Ausmerzung) des Unzweckmäßigen ent- standen; die Harmonie ihrer Bahnen ist durch Anpassung all- mählich herbeigeführt worden (S. 20, 22). An anderer Stelle be- zeichnet du Prel auch in der Sprache Darwins „die kosmisch- mechanische Zweckmäßigkeit als das Resultat der im Kampf ums Dasein sich messenden Kräftekombinationen“. Trotzdem ist DU Prel, als er in der Zeit der ersten Begeisterung die DARWiNsche Formel auf das Gebiet der Himmelsmechanik zu übertragen versuchte, sich immerhin vollkommen klar darüber, daß die NEWTONschen und KEPLERschen Gesetze davon ganz unberührt bleiben. Er sagt: „Ein Grundphänomen der Materie ist ihre Gesetzmäßigkeit. Auch diese fällt außerhalb des Erklärungsbereichs der ÜARWlNschen Formel, wird Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 665 vielmehr von dieser vorausgesetzt, da die indirekte Auslesezweckmäßig erBewegungenimEntwicklungs- prozesse siderischer Sy steme nur auf der Basis unver- änderlicher Gesetze eintreten kann. Selbst wenn wir alle Teleologie in der Mechanik der Himmelskörper als natürlich sich einstellendes Resultat erklären können, so verbleibt doch die Ge- setzmäßigkeit — die ja im Grunde selbst wieder ein teleologisches Problem bildet — als nicht zu erklärender Rest übrig“ (1. c. S. 352). Durch die Erforschung der von DU Prel betonten Gesetzmäßig- keit haben sich die großen Forscher der Astronomie, ein Koperni- kus, ein Kepler und ein Newton ihre unsterblichen Verdienste erworben. Auf den von ihnen gelegten, unveränderlichen Grund- lagen hat sich die Wissenschaft vom Himmel weiter entwickelt und ist dadurch vorbildlich auch für alle übrigen Wissenschaften geworden. Nach ähnlicher Methode, durch welche es in der Astro- nomie möglich wurde, die Vorgänge am Himmelsgewölbe in feste Formeln zu kleiden, die wir Naturgesetze nennen, sind in der Physik und Chemie die Gestaltungsgesetze der leblosen Natur und endlich in der Biologie die Gestaltungsgesetze und die Gesetze der mit ihnen verbundenen Wirkungsweisen der Lebewesen zu erforschen. Also ist Gestaltung, Organisieru n g des Stoffes ver- möge der ihm innewohnenden Kräfte das große, allge- meine Problem auf allen Gebieten der Naturwissen- schaft. Siebzehntes Kapitel. Zusammenfassung. „If the Darwinian hypothesis was swept away, evolution would still stand where it was.“ Ausspruch von Huxley , zitiert nach Weismann: Neue Gedanken zur Vererbungs- frage, 1895. Durch meine Darstellung vom Werden der Organismen und durch die im XVI. Kapitel gegebene Kritik des Darwinismus wird der vorurteilslose Leser die Überzeugung gewonnen haben, daß die Selektion oder die Naturauslese nicht das universale Erklärungs- prinzip für das „Werden der Organismen“ ist, zu dem sie Darwin und seine einflußreichsten Anhänger, Haeckel und Weismann, mit so großem Erfolg zu erheben versucht haben. Die Theorie krankt von vornherein an einem inneren logischen Widerspruch. Denn für sich allein betrachtet, kann eine Auswahl bei den Organismen, bei denen sie vorgenommen wird, keine neuen Eigenschaften hervor- rufen. Diese müssen bereits vorhanden sein, ehe eine Auswahl beginnen kann ; sie müssen also durch Ursachen bewirkt sein, die ganz außerhalb des Machtbereichs der Selektion liegen. In derselben Weise wie die leblose Welt, unterstehen auch die Lebewesen, ihre Entwicklung und ihre Erhaltung, dem allgemeinen Kausalitätsgesetz. Und da niemand diesen Grundsatz leugnen wird, kann auch die Aufgabe des Biologen nur in der Erforschung der zahllosen, verschiedenen Ursachen bestehen, durchweiche die Veränderungen bei der Entwicklung und beim Werden der Organismen, unabhängig von jeder Auswahl, bewirkt werden. In dieser allgemeinsten Hinsicht ist die wissen- schaftliche Aufgabe des Biologen dieselbe wie die Auf- gabe des Chemikers und Physikers, nur an einem anderen Zusammenfassung. 667 Objekt. Er hat also, wie es schon NÄGELI (S. 294) aus- gesprochen hat, von dem Grundsatz auszugehen, daß „Bau und Funktion der Organismen in den Hauptzügen eine notwendige Folge von den der Substanz inne- wohnenden Kräften und somit unabhängig von äußeren Zufälligkeiten ist.“ Daher muß auch jeder Versuch, das Werden der Organismen zu verstehen, auf eine Theorie der direkten Bewirkung hinauslaufen. Die Gestaltung und Organisierung des Stoffes vermöge der ihm inne- wohnenden Kräfte läßt sich auf allen Gebieten der Natur- wissenschaften als das große allgemeine Problem be- zeichnen. Von diesem Standpunkt aus ist der wissenschaftlichen Er- forschung der Organismenwelt nicht mit allgemeinen und inhalts- leeren Phrasen gedient, wie Kampf ums Dasein, Auswahl des Passenden, Allmacht der Naturzüchtung, Personal- und Intraselektion und was sonst noch das Vokabularium des Darwinismus an ähn- lichen Redewendungen enthält. Wie zur wissenschaftlichen Naturerklärung keine Universalursache ausreicht, so gibt es auch keine einzige allgemeine Formel, aus der sich das Werden der Organismen begreifen, ja nicht einmal der Schein, es begriffen zu haben, erwecken läßt. Astro- nomen, Physiker, Chemiker u. a. leiten aus dem Studium ihrer Ge- biete sehr viele verschiedene Regeln und Gesetze ab, unter welche sich die von ihnen beobachteten Naturerscheinungen einordnen lassen. Und je mehr und vollkommener dies geschieht, einen um so höheren Grad der Vollendung und einen um so reicheren In- halt hat die einzelne Wissenschaft empfangen. Ebenso kann auch für die Biologie die Aufgabe nicht in der Aufstellung einer Uni- versalformel bestehen , wie sie durch den Darwinismus in seiner Selektionstheorie gefaßt worden ist. Durch eine solche läßt sich bei der Erforschung der Lebewesen noch weniger als in den un- organischen Wissenschaften ausrichten, da die Lebenserscheinungen noch ungleich mehr verwickelt und vielgestaltig sind. Auch hier kann das für die biologische Wissenschaft Erreichbare nur zu der Erkenntnis von Regeln und Gesetzen führen, unter welche sich Gruppen von Lebenserscheinungen vereinigen und aus denen sie sich dann, wie man sagt, erklären lassen. In diesem Sinne faßt die Theorie der direkten Bewirkung die Aufgaben des Biologen auf. Alsdann aber wird die Biologie als Wissenschaft, wenn wir uns eines prächtigen Ausspruchs von C. Ernst V. Baer bedienen, „ewig in ihrem Quell, 668 Siebzehntes Kapitel. unermeßlich in ihrem Umfange, endlos in ihrer Aufgabe, unerreich- bar in ihrem Ziele“. Bei kritischer Prüfung beruht die Erklärung, die man durch die Selektionstheorie gewonnen zu haben glaubte, auf einer eigen- artigen Selbsttäuschung, in welche sich ihr Begründer versetzt, und welche sie auch in dem weiten Kreis ihrer Anhänger durch ihre Darstellung hervorgerufen haben. Denn nur so wird es ver- ständlich, daß Darwin trotz mancher stets wieder neu aufsteigender Bedenken doch seine „Natural Selection“ als „die weitaus wichtigste Kraft“ für die Entstehung der Arten bezeichnet, daß Haeckel in ihr die eigentlich kausale oder mechanische Basis der gesamten Transmutations- und Deszendenztheorie oder schlechtweg ihre kausale Begründung erblickt (1. c. 1866, Bd. II, S. 166 u. 290), und daß Weis- MANN für die Biologie die „Allmacht der Naturzüchtung“ verkündet (1893, 1. c.). Die Selbsttäuschung und die auf andere ausgeübte Suggestion ist, wenn ich früher entwickelte Gedankengänge noch einmal kurz zusammenfasse, auf zwei Wegen zustande gekommen- Auf der einen Seite ist das zu ergründende Problem, die natür- liche Entstehung der Organismenwelt, durch die Kombinierung des Begriffs der Auslese mit Prinzipien der direkten Bewirkung insofern erschwert und verwirrt worden , daß es bei der Darstellung ge- wöhnlich unentschieden gelassen wird, wieviel auf Konto des einen oder des anderen Postens bei der Abrechnung zu setzen ist. Daher werden in der eigenartigen Sprache des Darwinismus auch viel- deutige und nicht schärfer definierte Ausdrücke, bei denen sich jeder das Seine denken kann, wie Naturzüchtung etc. mit Vorliebe gebraucht. Nun bedeuten aber Zuchtwahl und Naturzüchtung (natural selection) viel mehr als die Ausdrücke Selektion und Aus- wahl für sich, und geben ihnen, wenn das Hauptgewicht auf das Wort züchten gelegt wird, einen ganz anderen Sinn. Denn „Züchten“ kann ja auch heißen , daß die Lebewesen- unter abändernde Ur- sachen gebracht werden; dann hängt es mit dem Prinzip der direkten Bewirkung zusammen. Wenn aber in diesem Sinne die Natur als Züchter personifiziert wird, dann bedeutet Naturzüchtung nur so viel als natürliche Schöpfung. In diesem Fall würde auch für mich kein Hindernis bestehen, mit Weismann von einer „All- macht der Naturzüchtung“ zu sprechen. Besagt doch dann der Ausdruck nur etwas, was sich für den Naturforscher von selbst versteht, daß die Natur ihre Geschöpfe hervorgebracht hat. So sagen auch einsichtsvolle Züchter „La nature cree“ (vgl. S. 617), indem sie das geheimnisvolle Wirken der Natur sich nicht selbst als Zusammenfassung. 669 eigenes Verdienst zugute rechnen. Indessen verbindet Weismann nicht diesen zunächstgelegenen Sinn mit dem Begriff der Natur- züchtung. Denn wie jeder aus seinen Schriften weiß, vertritt er den extremsten Standpunkt der von Darwin ausgedachten Selek- tionstheorie und macht zum einzigen Entwicklungsfaktor die Aus- wahl (Selektion) zwischen Organismen, die durch Zufallsursachen verschieden und richtungslos variiert haben. An diesem Punkt ist das Problem vom Werden der Organismen in einer zweiten Weise auf eine falsche Bahn geleitet worden. Denn, wie jeder leicht einsehen wird, verändert eine zwischen ver- schiedenen Gegenständen getroffene Auswahl nicht ihre Eigen- schaften ; sie ist ja weder eine in den Gegenständen wirkende noch sie von außen beeinflussende Kraft; sie ist in keiner Beziehung eine Ursache, die in den zur Wahl gestellten Gegenständen eine Veränderung bewirkt; wie sollte sie daher überhaupt das Werden der Organismen erklären können ! Was ist nun geschehen, um trotzdem die Selektion als eine schöpfe- rische Kraft erscheinen zu lassen ? Es wurde durch einen Kunst- griff das eigentlich naturwissenschaftliche Problem, das Werden der Organismen aus seinen Ursachen zu begreifen, in den Hintergrund gedrängt und herabgesetzt, dagegen die Macht der Selektion ins Wunderbare gesteigert. Zu dem Zweck wurde die Hypothese auf- gestellt, daß die Variationen der Organismen, mit welchen die nie rastende, allgegenwärtige Selektion, dieser mystische Spiritus rector, arbeitet, an sich geringfügige und für uns kaum wahrnehmbare sind; die Variabilität wurde in kleinste Differentiale zerlegt. Und was hierbei noch wichtiger ist, es wurden die an den Lebewesen sich abspielenden Veränderungen zugleich als an sich richtungslos erklärt, d. h. : es wurde mit der ersten noch die zweite Hypothese verbunden, daß die Veränderungen in vielen verschiedenen Richtungen, ohne ein ihnen zu- grunde liegendesPrinzip, also regellos, erfolgen und so erst ein für die Selektionstheorie geeignetes Aus- gangsmaterial liefern; denn wenn sie schon an sich gerichtet wären, so würde ja von vornherein der Hebel fehlen, an welchem die Auswahl im DARWIN-WElSMANNschen Sinne hätte an greifen können, und ihre Theorie wäre gegenstandslos und überflüssig ge- worden. Dagegen wurde von ihnen die Selektion nun selbst zum richtenden Prinzip beim Werden der Orga- nismen erhoben; sie wTurde — man verzeihe den Ausdruck, da er auch im Bereich der DARWiNschen Redeweise liegt — zu 670 ^Siebzehntes Kapitel. einer Naturkraft gemacht, die auch die geringsten Abstufungen und verschiedensten Ausschläge in der Variabilität der Organismen er- kennt, sie dabei nach ihrem Wert für den Vorteil und Nutzen ihrer Träger abschätzt und hiernach über Leben und Tod derselben ent- scheidet. Durch die Selektionstheorie , besonders inderver- schärften Fassung von WEISMANN, ist die Biologie zu den Zweigen der Naturwissenschaft, die von der un- belebten Natur handeln, in einen ausgesprochenen Gegensatz gebracht worden, worüber sich die eingefleischten Darwinisten doch endlich einmal klar werden sollten. Chemie und Physik gehen von der Voraussetzung aus, daß die unter der Herr- schaft des Kausalitätsgesetzes sich vollziehenden Veränderungen nach Naturgesetzen erfolgen, daß bestimmte Ursachen in den von ihnen betroffenen Gegenständen auch bestimmte Wirkungen her- vorrufen und daß es die Aufgabe des Forschers ist, die hierbei be- stehenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und ihnen in möglichst einfachen Formeln, in Gesetzen und Regeln, einen Ausdruck zu geben. Nach der Selektionstheorie dagegen sind die kleinen Variationsdifferentiale der Organismen, die das Ausgangsmaterial für die Zuchtwahl bilden, richtungslos und regellos. Sie werden daher auch als zufällige bezeichnet. Indem die Vertreter der Selektionstheorie sich auf diesen, von Weismann am schärfsten durchgeführten Standpunkt stellen, machen sie den Zufall zur Grundlage für die Erforschung der Organismenwelt. Sie arbeiten dadurch von vornherein mit einem Be- griff, der für den Naturforscher einer der inhalt- ärmsten ist und für ihn die wenigste Befriedigung darbietet. Nur durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung können die Begebenheiten, die uns als zufällige erscheinen, zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschung gemacht und aus ihnen Regeln hergeleitet werden, durch welche auch das „zufällige Geschehen“, wenn auch in der unvollkommensten Weise, dem allgemeinen Natur- gesetz einzuordnen versucht wird. Gegen die Rolle, welche Darwin den Zufall bei der Erklärung der zweckmäßigen Organisation der Lebewesen spielen läßt, haben bald nach dem Erscheinen seines Buchs „Von der Entstehung der Arten“ hervorragende Forscher Verwahrung eingelegt, K.E.v. Baer, Fechner, Wigand, der Philosoph Eduard v. Hartmann und viele andere. In der Tat liegt hier meines Erachtens ein noch zu wenig beachteter Punkt vor, an welchem sich der Darwinismus in Zusammenfassung. 67 einem scharfen Gegensatz zu den Aufgaben und Zielen der exakten Naturwissenschaften und auch zu ihren Forschungsmethoden ge- stellt hat. Für mich ist diese Erwägung auch bestimmend gewesen, um gleich das Wichtigere im Titel meines Buches hervorzuheben, anstatt von Selekti onstheorie von einer Widerlegung der DARWiNschen Zufalls- theorie zu sprechen und ihr als Gegensatz gleich das Gesetz in der Entwicklung entgegenzuhalt en, als die Aufgabe und das Ziel, welches auch die Wissenschaft von der Biologie zu dem ihrigen zu machen hat. In einer Theorie der direkten Bewirkungen, wie wir sie auf- fassen, fällt dem Prinzip der Auslese auch eine regulierende Rolle bei dem Werden der Organismen zu, allerdings von anderer und mehr untergeordneter Bedeutung als beim Darwinismus. Beim Ein- ordnen in den Mechanismus der Natur haben die Eigenschaften der Lebewesen, durch die sie untereinander in Konkurrenz treten und durch die sie sich mit der ganzen leblosen und lebenden Umwelt in Einklang zu setzen haben, auch eine mehr oder minder ent- scheidende Bedeutung für ihr Gedeihen und geben dabei nicht selten über Leben und Tod den Ausschlag. Lebewesen, die zu- weilen schon vom Ei an unter ungünstigen Verhältnissen auf- wachsen, schwächlich beanlagt, krank oder gar mißgebildet sind, gehen zugrunde, während kräftigere gedeihen , wie es aus der menschlichen Gesellschaft zur Genüge bekannt ist. Geographische und klimatische Veränderungen in Landgebieten beeinflussen auch die Zusammensetzung und den Charakter ihrer Pflanzen- und Tier- welt. Austrocknung eines Teiches vernichtet alle für Wasserleben angepaßten Organismen und schafft nun Siedlungsgebiete für Land- bewohner. Durch irgendeinen Umstand begünstigte Vermehrung der Raubtiere führt zur Verdrängung namentlich von solchen Pflanzenfressern, die sich gegen die größere Nachstellung nicht zu schützen wissen. Systematische Ausrottung wilder Pflanzenarten, welche die Folge der Kultur einer Gegend durch Menschenhand ist, verhindert z. B. in derselben auch das Fortkommen von In- sektenarten, welche die ihnen zusagende Nahrung verloren haben. Da Tiere vor ihren Feinden Schutz bedürfen, suchen sie je nach ihrer Färbung, Zeichnung und Form die sie am besten schützenden Lokalitäten auf, wie die Anpassungen der Polar- und Wüstentiere und die Mimicry lehren (vgl. hierüber auch S. 625, 483—511). In diesem Zusammenhang aufgefaßt, handelt es sich bei den Paradebeispielen der Selektion auch nur um Fälle direkter Be- 67 2 Siebzehntes Kapitel. Wirkung, bei denen die Zusammenhänge in der Kette von Ursachen und Wirkungen zuweilen komplizierter und schwieriger zu er- kennen sind. Daher ordnet sich nach unserer Auffassung auch die Selektion als ein Glied der direkten Be- wirkung mit in die Kausalzusammenhänge des großen Naturganzen ein (siehe S. 508 — 511). In eine ganz eigentümliche und unhaltbare Stellung haben sich endlich die Darwinisten in ihrem Verhalten gegenüber dem Zweck- begriff durch die Erklärung gebracht, daß es jetzt der Natur- wissenschaft gelungen sei, alle zweckmäßigen Einrichtungen in der Organismenwelt als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion zu begreifen. In der Theorie geben sie sich nach der Bezeichnung des Philosophen v. Hartmann als Teleophoben (S. 654); sie haben Worte des Tadels, wenn in der Biologie vor Darwin der ZweckbegrifF gebraucht wurde, weil darin die An- erkenntnis einer zwecksetzenden Kraft oder sogar eines Welten- schöpfers zu erblicken sei. Praktisch aber handeln sie selbst bei ihren Untersuchungen der Organismenwelt als die allergrößten Teleologen. Denn niemand hat die organischen Einrichtungen unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit mehr untersucht als Darwin selbst und seine Anhänger. Nachdem man die Selektionsformel gefunden hatte, war für sie der vordem wegen seiner leichten Mißdeutung verpönte Zweckbegriff rasch wieder in der Wissenschaft salonfähig geworden. Das Nützlichkeitsprinzip, welches im englischen Geistesleben eine so ausschlaggebende Rolle im letzten Jahrhundert gespielt hat und zum Teil bis in die Gegen- wart noch spielt, ist als ein erstklassiges Erklärungsmittel von Darwin in die Biologie eingeführt worden. Auf allen Gebieten wurde jetzt mit einer wahren Virtuosität, wie nie zuvor, zu er- gründen versucht, welche Einrichtungen zweckmäßig, nützlich, vorteilhaft, konkurrenzfähig an einem Organismus sind. Darwins Anhänger, unter ihnen am meisten Weismann, haben vom Zweck- begriff in der früher erörterten, schablonenhaften Weise den aus- giebigsten Gebrauch zur Erklärung der Natur gemacht. Mit feiner Ironie hat Nägeli (1. c. p. 296) gegenüber dem Nützlichkeitsstandpunkt des Darwinismus und den durch ihn hervorgerufenen willkürlichen Auffassungen bemerkt; „Statt wissenschaftlich zu bleiben, wird das Verfahren zur Manier. Es braucht ja nicht gar sehr viel Scharfsinn, um aus irgendeiner organischen Erscheinung einen wirklichen oder eingebildeten Nutzen für ihren Träger her auszu klügeln. Aber welche Berechtigung liegt Zusammenfassung. 673 in einem solchen Erfolge, wenn man sich gestehen muß, daß, wenn die Erscheinung anders wäre, der Nutzen ebenso deutlich oder noch deutlicher hervorträte. — Man muß sich überhaupt damit bescheiden, daß die Dinge in der organischen Welt, gerade so wie in der unorganisierten Natur, da sind, weil sie eben da sind, weil nämlich die sie bewirkenden Ursachen ihnen vorausgingen, und daß ihr Bestehen weiter nichts als ihre Existenzfähigkeit und den Mangel anderer verwandter Dinge mit größerer Existenzfähigkeit beweist. Wenn man das Verfahren der Selektionstheorie auf die unorganische Natur anwenden wollte, was ließe sich nicht alles über nützliche Anpassungen der Erscheinungen sowohl an andere unorganische als an organische Erscheinungen sagen? Welche Betrachtungen könnten nicht allein über die teilweise exzeptionellen Eigenschaften des Wassers an gestellt werden. Glücklicherweise begnügen sich Physik und Chemie damit, die Ursachen zu er- forschen, und niemand stellt Spekulationen darüber an, welche Vorteile und Nachteile die sechseckige Form der Schneeflocken und die kugelige Gestalt der Regentropfen gewähren.“ Wenn ich die Zufalls- und Selektionstheorie Darwins, die oft kritiklose und einseitige Verwertung des Nützlichkeits- und Zweck- mäßigkeitsprinzips, die phylogenetischen Spekulationen und die daraus abgeleitete Umdeutung des Systems als Stammbaum, für Lehren, die nicht mehr aufrecht zu erhalten sind, und für Abwege der wissenschaftlichen Forschung halte, so möchte ich doch auf der anderen Seite nicht den mächtigen Impuls unterschätzen, welchen Darwin, Haeckel, Weismann u. a. der Biologie auf den ver- schiedensten Gebieten gegeben haben. Der Entwicklungsgedanke, der wie nie zuvor als Richt- linie für die Erforschung des Lebens mit echter Begeisterung ver- kündet wurde, und auch von mir nach wie vor entschieden auf- recht erhalten wird, hat auf die studierende Jugend vieler Jahrzehnte zündend gewirkt; er hat in ihr ein tieferes Interesse für die Bio- logie geweckt, hat viele Forscher in ihren Dienst gestellt und zu unzähligen Untersuchungen in vielen Richtungen den Anstoß ge- geben. Indem die führenden Männer der neuen Lehre auch Nachbar- gebiete zu befruchten und noch weiter greifend die ganze Welt- anschauung der Menschen umzugestalten suchten, indem sie ferner auch weitere Kreise außerhalb der Fachgelehrten zu erfassen und ihrem Einfluß zu unterwerfen strebten, ist der Darwinismus zu einer O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 3. Aufl. 43 674 Siebzehntes Kapitel. allgemeineren, wenn auch vielfach sehr gefährlichen Kulturbewegung von weittragender Bedeutung geworden. Durch Übertragung biologischer Gesichtspunkte auf moralische, ethische und religiöse Gebiete wurde der Versuch unternommen, auf dem Fundament des Darwinismus eine Art von Naturreligion zu begründen. So nahm die von Darwin ausgehende, ursprüng- lich wissenschaftliche Umwälzung teilweise sogar den Charakter einer religiösen Bewegung an, gewann aber hierbei auch vielfach Züge des Fanatismus und der Intoleranz, welche der Wissenschaft als solcher fremd sind. In vielen Beziehungen wird hier ein ernster Wandel eintreten müssen, und er wird in demselben Maße rascher eintreten, als unter den Forschern und dann allmählich auch in Laienkreisen sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß die Selek- tionstheorie und viele aus ihr gezogenen Folgerungen unhaltbar geworden sind. Dann wird die biologische Wissenschaft sich wieder der auch ihr gesteckten „Grenzen der Naturerkenntnis“ bewußt werden und sich innerhalb derselben an der Bewältigung ihrer eigentlichen Aufgaben betätigen, wie dies bei den exakteren Wissen- schaften der Physik, Chemie und Physiologie schon längere Zeit der Fall ist. Der Umschlag wird auch dadurch erleichtert werden, daß wichtige Gebiete der Biologie sich schon immer ganz unabhängig von der eigentlich darwinistischen Bewegung entwickelt und zum großen Fortschritt der biologischen Wissenschaft im letzten Jahr- hundert und zu dem Ansehen, dessen sie sich jetzt erfieut, nicht zum wenigsten beigetragen haben. Ich erinnere nur an die ganz abseits vom Darwinismus gelegenen, vielseitigen Fortschritte der Zellenlehre, an die bahnbrechenden Entdeckungen auf dem Gebiete der Morphologie und Physiologie der Zeugung, an die Vollendung des Gebäudes der vergleichenden Entwicklungsgeschichte auf den von V. Baer gelegten Fundamenten, an die von Mendel begonnene Bastardforschung und den Ausbau derselben mit ihren vielver- sprechenden weiteren Zielen ; ich erinnere ferner an die Erforschung der niedersten Lebewesen und ihre außerordentlich bedeutsame Rolle, die sie im Haushalt der Natur in verschiedener Weise, zumal auch als Ursache vieler Infektionskrankheiten, spielen. Hier liegen bleibende und glanzvolle Errungenschaften der biologischen Wissen- schaft und zugleich auch große Gebiete vor, auf denen sich für den methodisch vorgehenden und mit den technischen Hilfsmitteln vertrauten Forscher noch weitere Fortschritte erwarten lassen. Über viele Fragen, namentlich auf dem Gebiete der Vererbung, Zusammenfassung. 675 der Variabilität, der Mutabilität, der Beeinflussung der Entwicklung durch äußere Faktoren etc., wird das biologische Experiment noch wichtige Aufschlüsse bringen. Auch hier sind schon verheißungs- volle Grundlagen nach manchen Richtungen gelegt worden. Bei diesen Fortschritten werden allmählich auch die aus dem Darwinismus erwachsenen Irrtümer, seine unzulänglichen Aufgaben und Ziele beseitigt werden. Unter ihnen haben am meisten die Fächer der Morphologie gelitten, welche sich der vergleichenden Methode bedienen. Ohne Frage hat in den letzten Jahrzehnten die vergleichende Anatomie und die vergleichende Entwicklungs- geschichte einen Stillstand inmitten des allgemeinen Fortschritts fast aller Wissenschaften erfahren. Besonders die vergleichende Anatomie, welche einst als die Königin der biologischen Wissen- schaft geschätzt wurde, hat am meisten unter den ihr vom Darwi- nismus gesteckten Zielen gelitten. Sie begann ein Tummelplatz der verschiedenartigsten , sich widerstreitenden phylogenetischen Spekulationen zu werden. Hier muß man, wie ich schon im Schluß- kapitel des Handbuchs der vergleichenden Entwicklungslehre der Wirbeltiere näher begründet habe, vor allen Dingen mit der vom Darwinismus großgezogenen Ansicht brechen, daß die vergleichend anatomischen Methoden als phylogenetische gehandhabt werden müßten und daß die durch Vergleichung nachgewiesene Homologie der Organe als Blutsverwandtschaft zu erklären und im Rahmen eines phylogenetischen Systems zu verwerten sei. Gewiß blickt die heute lebende Organismenwelt auf eine Ahnen- geschichte von unendlicher Dauer zurück, und auch von unserem Standpunkt aus ist sie auf phylogenetischen Wegen aus einfachen Grundlagen in ihrer heutigen Komplikation hervorgegangen. Aber für eine wirklich wissenschaftlich zu erforschende Genealogie fehlen, wie jeder einsehen muß, alle notwendigen Voraussetzungen. Darum ist in jeder Beziehung der Ausspruch von Alexander Braun vollberechtigt: „Nicht die Deszendenz ist es, welche in der Morpho- logie entscheidet, sondern umgekehrt, die Morphologie hat über die Möglichkeit der Deszendenz zu entscheiden.“ Ihre Aufgaben sind von der Abstammungslehre ganz unabhängig. Wie alle Natur wissenschaf ten , hat auch die Mor- phologie von dem Axiom auszugehen , daß alles Natur- geschehen sich nach bestimmten Gesetzen vollzieht deren Erkenntnis Aufgabe der Forschung ist. Zwischen der leblosen Natur und dem Reich der Lebewesen be- steht nach dieser Richtung kein prinzipieller Unter- 43 676 Siebzehntes Kapitel. schied, sondern nur ein Unterschied insoweit, als dort die Verhältnisse einfacher sind und sich leichter auf durchgreifende Gesetze zurückführen lassen, während sie sich hier sehr viel mehr verwickeln und daher schwieriger in allgemein passende Formeln ein- kleiden lassen. Gleich den chemischen Körpern, deren Zu- sammensetzung sich in bestimmten Strukturformeln ausdrücken läßt, sind auch die so viel komplizierter gebauten pflanzlichen und tierischen Gestaltungen in letzter Instanz nur der Aus- druck allgemeiner Bildungsgesetze, von welchen das organische Gestalten beherrscht wird. Ihre Ermittlung ist unser Ziel, mögen wir die Embryonalstadien verschiedener Tiere (vergleichende Entwicklungslehre) oder die ausgebildeten Endformen (vergleichende Anatomie) oder Embryonalstadien mit ähnlichen, aus- gebildeten Formzuständen in der Tierreihe vergleichen. Unter der Herrschaft der darwinistisch-naturphilosophischen Be- wegung ist auch in der Verwertung der Hypothese viel gesündigt worden. Es begann mit dem Jahre 1859 wieder eine Zeit über- triebener und ausartender Spekulation an Stelle be- sonnener Natur erklär ung und damit auch eine Zeit einer über- stürzten und sich steigernden Hypothesenfabrikation, wie es in einer früheren Periode unter dem Einfluß der OKEN-SCHELLlNGschen Naturphilosophie der Fall war. Nun sind zwar Hypothesen ohne Frage für die Entwicklung der meisten Naturwissenschaften be- rechtigt und notwendig; am wenigsten können sie in der Biologie, die es mit so vielgestaltigen Verhältnissen zu tun hat, entbehrt werden. Doch gibt es auch hier ein Maß in den Dingen und eine Grenze, wo ihre Berechtigung aufhört. Im allgemeinen sollen durch eine Hypothese Reihen gleich- artiger, gut beobachteter Tatsachen unter einen gemeinsamen Ge- sichtspunkt zusammengefaßt, der Gesamtwissenschaft eingeordnet, auf eine ihnen gemeinsame Ursache zurückgeführt und aus ihr nach Möglichkeit erklärt werden. Man soll daher in der Regel nicht eine vereinzelte Beobachtung zum Ausgangspunkt einer Hypo- these machen, am wenigsten dann, wenn die Beobachtung für sich nicht einmal als wirklich sichergestellt betrachtet werden kann. Ein gewissenhafter Forscher sollte eine Scheu davor haben, jeden Einfall als Hypothese — und sei es auch als Arbeitshypothese — der .Nachwelt zu überliefern, wenn er sich überlegt, zu wieviel Ein- fällen die so ungemein verwickelten Verhältnisse der Organismen- welt bei morphologischen und bei physiologischen Untersuchungen Zusammenfassung. 677 für eine nur etwas rege Phantasie Gelegenheit bieten. Forscher, die fast jedes Jahr ihre Ansicht wechseln und über dieselbe Frage eine lange Reihe von Hypothesen auf gestellt haben, gehören nicht zu den Seltenheiten; bei ihnen bedarf es oft eines zeitraubenden Studiums, um der Metamorphosenreihe ihrer Ideengänge nachzu- gehen, zumal wo es sich dabei noch um eine Erhebung von Pri- oritätsansprüchen aus ihnen handelt. Auch in dieser Richtung wird uns die „Krisis des Darwinis- mus“ wohl einen heilsamen Wandel bringen. Die Notwendigkeit eines solchen wird schon von manchen Seiten empfunden. Bereits 1884 (1. c. p. 6) warnt NäGELI vor den Auswüchsen der Speku- lation: „Man hätte erwarten können, daß nach der naturphiloso- phischen Periode, welche in Deutschland viele der besten Kräfte für den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar machte, die Er- nüchterung hinreichend gewesen wäre, um uns auf dem eigentlich naturwissenschaftlichen Felde vor philosophischer Spekulation zu bewahren. Wir machen aber die Erfahrung, daß im großen und ganzen die philosophische, philologische und ästhetische Bildung immer noch so sehr die Oberhand hat, daß eine gründliche und exakte Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen nur auf enge Kreise beschränkt bleibt, und daß auch ein größeres Publikum sich mit Vorliebe von einer sogenannten idealen, poetischen, spekulativen Darstellung angezogen fühlt.“ Noch viel bestimmter erhebt Jo- HANNSEN die Forderung: „Treatment — mathematical, philosophical and fantastical — may be disputable; what we want in much higher degree than commonly admitted — are well analysed, pure and clear elementary premises.“ Indem Baur (1911, 1. c. p. 268) diese Worte anführt, fügt er ihnen ebenfalls noch die kurze Aufforderung hinzu: „Viel mehr Experimentieren und weniger Theoretisieren ist die Parole für die nächste Zeit!“ Nachwort zur ersten bis dritten Auflage. In Anknüpfung an Gedanken der Einleitung schließe ich mein Buch über das Werden der Organismen noch mit einem kurzen Nachwort an den Leser, der mir durch die verschiedensten Gebiete der Biologie gefolgt ist. Wenn er jetzt zum Schluß auf die mit- geteilten Ergebnisse der experimentellen Forschung und der ver- gleichenden Beobachtung zurückblickt, wenn er zugleich auch in der kritischen Analyse der Grundlehren von Darwin mit mir und anderen Naturforschern und Philosophen, die schon früher Ähnliches geäußert haben, übereinstimmt, wird er erstaunt sein, wie fast ein Menschenalter hindurch sich die Biologie von der Zufalls- und Selektionshypothese hat beherrschen lassen. Vielleicht wird ihm als Weg zur Erklärung die Andeutung dienen, daß Darwins Lehre zu vielen Erscheinungen der modernen Entwicklung und des modernen Geisteslebens innere Berührungspunkte darbietet. Das Nützlichkeitsprinzip, die Überzeugung von der Notwendigkeit un- beschränkter merkantiler und sozialer Konkurrenz, materialistische Richtungen der Philosophie sind Mächte, die auch ohne Darwin eine große Rolle in der neuzeitlichen Entwicklung der Menschen gespielt haben und noch spielen. Wer schon unter ihrem Einfluß stand, begrüßte gern den Darwinismus als eine wissenschaftliche Bestätigung ihm schon anderweit vertrauter, lieb gewordener Ideen. Er konnte sich jetzt selbst gleichsam im Spiegel der Wissenschaft schauen. Die Auslegung der Lehre Darwins, die mit ihren Unbestimmt- heiten so vieldeutig ist, gestattete auch eine sehr vielseitige Ver- wendung auf anderen Gebieten des wirtschaftlichen, des sozialen und des politischen Lebens. Aus ihr konnte jeder, wie aus einem delphischen Orakelspruch, je nachdem es ihm erwünscht war, seine Nutzanwendungen auf soziale, politische, hygienische, medizinische und andere Fragen ziehen und sich zur Bekräftigung seiner Be- hauptungen auf die Wissenschaft der darwinistisch umgeprägten Biologie mit ihren unabänderlichen Naturgesetzen berufen. Wenn nun aber diese vermeintlichen Gesetze keine solchen sind, sollten da bei ihrer vielseitigen Nutzanwendung auf anderen Gebieten nicht Nachwort. 679 auch soziale Gefahren entstehen können? Man glaube doch nicht daß die menschliche Gesellschaft ein halbes Jahrhundert lang Rede- wendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl etc., in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete wie tägliches Brot gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden ! Der Nachweis für diese Behauptung würde sich nicht schwer aus vielen Erscheinungen der Neuzeit gewinnen lassen. Eben darum greift die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum des Darwinismus auch weit über den Rahmen der biologischen Wissenschaften hinaus. Ich beschränke mich darauf, diesen Gesichtspunkt hier noch angedeutet zu haben. Es liegt mir fern, in einem Buche, in dem ich die Frage nach dem Werden der Organismen vom Standpunkt und innerhalb der Grenzen des Naturforschers mit den ihm eigenen Methoden behandelt und den Irrtum der Zufalls- und Selektions- theorie aufzuklären versucht habe , das Gebiet der biologischen Wissenschaft zu überschreiten. Auch in der dritten Auflage bin ich diesem Grundsatz treu geblieben. Dagegen habe ich inzwischen die in den vorausge- gangenen Sätzen angedeutete Ergänzung zu meinem , ,W erden der Organismen“ in einer zweiten kleineren, im Januar 1918 erschienenen Schrift (Jena, Gustav Fischers Verlag) geliefert und ihr den Namen : ,Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politi- schen Darwinismus“ gegeben. Sie hat jetzt auch (1921) ihre zweite Auflage erfahren. Schon der Name zeigt das Programm und den Inhalt der Ergänzungs- schrift an. Ich halte sie für eine Notwendigkeit, weil die von Darwin entwickelten Prinzipien schon bald nach ihrer Veröffent- lichung im Jahre 1859 nicht auf das engere Gebiet der Entstehung der pflanzlichen und tierischen Art beschränkt geblieben, sondern, zwar nicht von Darwin selbst, aber doch von seinen Anhängern, zu vielen verschiedenartigen Nutzanwendungen verwertet worden sind, von denen kaum ein Gebiet der menschlichen Kultur unberührt geblieben ist. Register, A. Abortiveier 114. Acridium (Färbung) 505. Actinie 396, 417. Äquivalenz der weibl. und männl. Kern- masse 104. Affinität 49, 50, 173. Afterklaue 208, 448. Ahnen 236. Ahnenplasma 247, 249. Ahnenprobe 238. Ahnentafel 228, 236, 648. Ahnenverlust 238, 239. Allelomorphs 77. Algen (Chlorophyllfärbung) 385. Ameisenstaat 272, 473. Amphimixis 100. Amphioxus 129. Andalusier, blaue 614. Anencephalie 344. Animalkulisten 8, ioi, 139. Anlage 33, 55, 57, 70, 76, 133, 513, 531, 564> 567. Anpassung, doppelte 314, 469, 480. Anpassung, ontogenetische , 221, Bei- spiele 221. Anpassung der Organismen an die Um- welt 372, im Pflanzenreich 380, Be- deutung des Chlorophylls für den Bau der Pflanzen 382, der mechanischen Ge- webe 387, im Tierreich 391, Beispiel tierischer Ernährung 391, Atmungsorgane 397- Anpassung zweier Organismen aneinander 451, 456, 470, der Mundwerkzeuge der Insekten 461, der Blüten an Insekten- besuch 466, zwischen beiden Geschlech- tern 477. Arbeitsmittel 142, 146. Arbeitsteilung (physiologische) 59, 122, 139, 298, 412, 453, 471, 660. Argusfasan (Augenflecke) 501. Art (LiNNEsche) 280, 624, elementare 281, Unter- oder MENDELsche 281, 284, 349, 624. Artbegriff, Art, siehe Spezies 264, 269, 624, Artdiagnose 268. Artkonstanz, siehe Konstanz der Arten. Artzelle 26, 52, 71, 126, 209, 513, 528. Artemia salina 526. Artiodactylen 447. Ascaris megalocephala 105. Aszendenten 236. Atavismus 516. Atmung 159. Atmung im Wasser durch Kiemen 400, in der Luft durch Lungen 403, im em- bryonalen Leben durch Aliantois und Placenta 406. Atome 25, 27. Auge von Euglena 419, von Erythropsis 419, von Medusen 420, von Polyophthal- mus 422, von Ascidien 422, von Nau- tilus 425, von Helix 425, von Phyllo- doce 426, von Alciope 426, Vergleich zwischen den Augen der Cephalopoden und der Wirbeltiere 426 — 432, 638. Augenflecke, augenähnliche Flecke 501. Auslese, Auswahl 61 1, 618, 672. B. Bakterien (Urzeugung von) 4, Vermehrung 232. Bastarde 73, 275. Befruchtungsprozeß 96, Biologische Theorie der Befruchtung 97, 100. Register. 68l Bienen 272, 307. Bienenstaat 473. Bildungstrieb 16, 56. Binomialformel 330. Biogenetisches Grundgesetz 179, 189, 601, Umwertung desselben 192, 209. Biologie (Stellung zu Chemie und Physik) 18, 24. Biologische Verbindungen 34, 47, 55. Biologische Reaktionen 173. Biotypen 286, 289. Blattheuschrecken 493. Blattschmetterlinge 493. Blutsverwandtschaft 173, 645, 675. c. Cetaceen 499. Chemotaxis der Samenfäden 379. Chitinskelett 588. Chlorophyll-Körner, -apparat 68, 147, 382. Chromatin 63, 108. Chromosome 29, 35, 63. Cirripedien 203, 499. Crista sterni 163, 444. Cuscuta 455. D. Darwinismus 580, 592, 652, ethischer, sozialer und politischer 679. Descendenztheorien 580, 592, 604. Determinanten 518, 523, 525, 5 27, 533. Differenzierung 122, 140. Dihybride 73, 87. Dimorphismus 299. Dinophilus 305. Dionaea 459. Direkte Bewirkung 586. Dominanten 20, 149. Draba verna 282. Drosera 457. Drosophila 35. Dunkelkammeraugen 424. Duplicitas ant. 132. E. Eier 58. Eikern 99. Eireife 107, 112, 115. Eidechsen (Färbung) 504. | Eigenschaftsanalyse 553. Einschachtelungstheorie 6, 56, 139, 527. Einsiedlerkrebs 590. Elektrone 27. Elementareigenschaften 553. Eiern entarorganismus 28, 54. Empfängnishügel 97. Entdifferenzierung 156. Entelechienlehre 20. Entenmuschel 499. Entwicklungsgesetze, allgemeine, s. Gesetz. Epigenesis 3, 12, 56, 139, 533. Epithelmuskelzellen 412. Equiden (Extremität) 449. Erbeinheiten 29, 77. Erb träger 75. Erbformeln 78. Erythropsis agilis 419. Euglena viridis 419. Evolution 3. F. Faktoren 77, realisierende, äußere 555, 560. Färbung der Haut bei Tieren 500. Fasziation 339. Federn der Vögel 442. Flechten (Symbiose) 451. Fleischfresser 484. Flossen 183, 437. FlugAverkzeuge bei Insekten , Vögeln, fliegenden Säugetieren 440. Fortbewegungswerkzeuge zu Land, in Wasser und Luft 435. Funaria hygrometrica 127. Funktion 14 1. funktionelle Anpassung 584, 604. Funktionswechsel 156, 197, 200, 218, 404, 465- Furchungsprozeß 129, 182, 535. G. Gameten 58. Gasträatheorie- 601. Gastrula (Gastrulastadien) 188, 213, 393. Gedächtnis 575. Gehörknöchelchen (Entstehung durch Funk- tionswechsel) 197, 201, 218. Gene 29, 33, 77, 546, 551. Genealogie (Wissenschaft der G.) 228, de Organismen 644. 682 Register. Genealogisches Netzwerk 229, 242, 649. Generatio aequivoca 4. Generationswechsel 124, 273, 562. Generations folge 228. Germinalselektion 512, 521, 522, 600, 659, 663. Gerste 620. Geschlechtsbestimmung (experimentelle) 299. Geschlechtschromosomen 303. Gestaltungsgesetze 150, 640. Gesetz des Zellteilungsprozesses 61, der Kontinuität der Kerngenerationen 62. Gesetze der Entwicklung 72, 139 — 170, 227, 261, 638, 640. Inneres Entwicklungs- gesetz 212. Gewebe 142. Gnaphalium leontopod. 310. Gregarine, Entwicklung derselben 124. Grundwissenschaften 23, 24. H. Hämoglobinurie 174. Halbkern 115, 116. Haustorien 455. Heliconiden (Mimicry) 495. Hemikranie 344. Hemmungsmißbildungen 344, 418. Hermaphroditismus 304. Herzentwicklung 18 1, 185 und Kreislauf (Kiemen- u. Lungenkreislauf) 185. Heterochromosomen 303. Heterochronie 221, Beispiele dafür 224 bis 225. Heteromorphose 435. Heterozygote 78, 86, 87, 614. Hieracium 310. t Höhlenfauna 207. Homologie 645, 675. Homozygote 78, 86, 614.- Hormone 166, 175. Hyalodaphnia 333. Hybride 73. Hydatina senta 301. I Id 519. Idioplasma 71, 76, 121. Idioplasma, Kombinationen von zwei Arten desselben 347, 348, 613. Idioplasmatheorie 102, 514. Individualität 54. Infusorien (Urzeugung von) 4, 392. Insektenbesuch von Blüten 466. Insektenfressende Pflanzen 456. Integration 122, 148. Interpolation larvaler Organe 221, 222. Intraselektion 522, 658, 662. Inzucht 78. Irisblende 424. K. Kallima paralecta 493. Kampf ums Dasein 592, 594, 664. Kampf der Teile im Organismus 658. Karyokinese 63, 106. Keimbahn 519, 541. Keimblätter 393, 394. Keimchen (Darwin) 510, 523, 525. Keimkern 99. Keimplasma 517, aktives und inaktives 5:9- Keimplasmahypothese (Weismann) 512, 5i5» 517» 537- Keimzellen 34, 55, 57, 58, 69, 96, 540. Kern 62, generative und nutritive Funktion desselben 66, Kern der Infusorien 67. Kernspindel 63. Kernidioplasmatheorie 102, 103, 121, 13 6 Kernplasmarelation 66. Kernteilung 62, 63, erbgleiche 123, 518. Kiefergelenk, primäres 198, sekundäres 200. Kiemenatmung 400. Kiemenkreislauf 186. Koadaptation siehe Korrelation. Köcherf liege 590. Kombinationen (Kombination zweier Idio- plasmen) 347, 613. Konkurrenz 599, 629. Konstanz der Arten 267, 294, 347, der Eigenschaften 563. Kontinuität der Zellgenerationen 61, Kern- generationen 62. Konvergente Naturzüchtung, Konvergenz 418, 429, 445, 447, 638. Korpuskel (radioaktive) 38. Korrelation, Koadaptation 122, 161, 660, Beispiele vom ausgebildeten Organismus 1 6 1 , von Individuen eines Tierstaates 472, Register. 683 von ober- und unterirdischen Teilen der Pflanzen 162, Crista sterni 162, sekun- däre Geschlechtscharaktere 164, Beispiele vom sich entwickelnden Organismen 167. Kraft (Begriff) 19, 39. Kreislauf des Lebens 483. Kreuzung 73, 275. Kulturvarietäten 285. L. Lamarckismus 580, 583, 587. Lebenskraft 19, 40, 50, 631. Lepas anatifera 499. Leptinotarsa 367. Leptodiscus medusoides 498. Linsenbildungen verschiedener Art im Tier- reich 433, 500. Lithiumlarven 341. Lungenatmung 403. Lungenkreislauf 187. M. Makrosporen 305. Maschine (Vergleich mit Lebewesen) 42. Maskierung 507. Mechanismus 19, 42 — 51. Mechanistische Richtung der Biologie 19, 22. Mendels Forschungsrichtung 72. Mendels Kreuzungsregeln 80, 348. Merkmale bei der Vererbung (dominierende, latente oder rezessive) 75. Merkmalspaare 77. Metamorphosen in der Entwicklung 180, Beispiele vom Achsenskelett, Niere, Herz 180, 18 1, von Sacculina 201. Micellen 103. Micellartheorie 103. Migration 635. Mikrokosmus der Keimzelle 71. Mikrosporen 305. Mimikry 492, 497, 506, 508. Mirabilis Jalapa 74. Mischlinge 73. Mißbildungen 132, 170, bei Pflanzen 336, bei Tieren 330. Mistel 455. Mittelwert 332. Modifikationen 295, 309, 557, 558, 561. Mohn (Pistillodie) 338. Moleküle 25, Konstitution derselben 30, 42. Monismus 602. Monohybriden 73, 80. Monophyle tische Deszendenz 644. Monstrositäten 170, 335, bei Pflanzen 336, bei Tieren 340. Morphologie (als Grundwissenschaft) 23, ihre Stellung zur Chemie 35. Morphologische Merkmale (Selektionswert) 638. Mosaikarbeit 170. Mosaiktheorie der Vererbung 249, 534. Mundwerkzeuge der Insekten 461, bei- ßende 462, leckende und saugende 464. Musterung der tierischen Haut 501. Mutabilität 296, 347. Mutanten 296. Mutation 348, 353, 355, 558, 560, 610, im Protistenreich 357, im Pflanzenreich 358, von Chrysanthemum 359, von Linaria vulgaris 362, von Chelidonium maj. lacin. 365, im Tierreich 367, von Leptinotarsa 367, von Schmetterlingen 370, vom Ancon- oder Otterschaf 371. N. Nahrungspolymorphismus 308, 475. Natürliche Zuchtwahl 592, 594, 627. Natur religion 674. Naturwissenschaftliche Erkenntnis, Grenzen derselben 46, 674. Naturzüchtung, Allmacht derselben 521, 603 604. Nautilus 499. Neovitalismus 20. Nepenthes 460. Nervenring 417. Nervensystem 160, 410. Neudarwinismus 602. Neuromuskelsystem 417. Niere 167, 181. Nomenklatur, binäre 267, 280, ternäre 282. Nukleolen 65, 67. Nützlichkeitsprinzip 667, 678. o. Ocellus 420, 421, 423. Oenothera lamarckiana gigas 354. Ontogenetische Anpassung 221. 684 Register. Ontogenetisches Kausalgesetz 33, 69, 212, 270. Ontogenie 219, 220. Organisation (Wesen und Bedeutung) 23, 43, 629, 640. Orobranche 455. Orthopteren (Mimikry) 492. Oscillarien 385. Ovisten 8, 101, 139. Ovogenese 96, 112. P. Paarhufer 447. Pangenesis 515, 529, 531. Panspermie 3, 9, 56. Papaver somnif. (Pistillodie) 338. Paramaecium 319. Parasiten, pflanzliche 454, tierische 468. Passiv wirkende Organe 588. Pedigreekultur 289. Pelagische Fauna 488. Pelorie 339. Pentadaktylie, Grundform der Wirbeltierextr. 447, 643. Perissodaktyla 447. Personalselektion 523, 600, 662. Petalodie 337. Petalomanie 337. Pfau (Augenflecke) 501. Pferd 449, 623. Pferdespulwurm 105. Pflanzenfresser 484. Pflanzengeographie 487. Phaenotypus 92. Phototaxis, 279. Phylloxera 305. Phylogenie 581. Physiologie (als Grundwissenschaft) 23, ihre Stellung zur Physik 39. Pieriden (Mimikry) 495. Pigment (verschiedene Verteilung im Auge j Poly hybriden 73, 91. Polymerisierung 32. Polymorphismus der Individuen 272, 297, 307, 471, 474- Polyphyletische Deszendenz 644. Polypodium vulgare 312. Polythalamien 498. Polzellen 112. Potenzierung der Artzellen 122, 133. Präformierte Anlage 138. Präformation 3, 56, 101, 138. Primula 282, Pr. sinensis 314, 559, 561. Prinzip der individuellen Nachkommenbe- urteilung 288, 618. Prinzipien der Entwicklung 122. Probien 29. Prospektive Potenz 169, 209 218, 520, 534. Proteus anguineus 409. Prothallien 299. Protoplasmaprodukte 145. R. Rana esculenta (Geschlechtsbestimmung) 301. Reaktion der Organismen 1. auf Tempera- turveränderungen 375, bei Protoplasma- bewegung 375, bei Zellteilung 376, bei embryonalem Wachstum 377; 2. auf chemische und photische Reize 378. Reduktionsprozeß 104, 107, 116. Regeneration 128, 155. Reizstoffe 166, 175. Reine Linien 231, 286, 288,325, 620, 625. Reinzucht 288. Rekapitulationstheorie 189, 208, 215. Reproduktion 577. Reservekraft 167. Rizocephalen 203. Richtungskörper 112. Rudimentäre Organe 205. s. 433- Pinguicula vulg. 458. Pinnipedier (Flosse) 438, 439. Pistillodie 338. Placenta 407, 480. Podophrya gemmipara 124. Polartiere 488, 489. Polygonum amphibium 313. §acculina 201. Saisondimorphismus 306. Samenfäden 58. Samenkern 99. Samenreife 104, 108, 115. Schlund-spalten, -bögen 183, 195. Schmetterlinge 306. Schutzfärbung 488, 506. Register. Seeigelei, das Studienobjekt für Befruchtung 96. Seeschildkröten (Flossen) 438, 440. Sehorgane 418. Selbstregulierung 525. Selektion 508, 61 1, 619, 659, 664, 672. Selektionstheorie 261, 592, 598, 603, 604, 605, 621. Selektionswert 632. Serumforschung 172. Siphonophoren 471. Situations vor teil 637. Skelett 180. Somatische Zellen 123, 540. Somationen 295, 558. Sonderung, morphologische und histologische 144, siehe auch Arbeitsteilung und Diffe- renzierung. Soredien 454. Spaltungsregel von Mendel 34, 80, 118. Spermiogenese 96, m. Spezies, Konstanz derselben 267, LlNNEsche 280. Speziesbegriff 263, 274, 624. Spina bifida 342, 418. Stabheuschrecken 493. Stammbaum, Stammtafel 228, 229, 251. Stammesgeschichte 581. Standortsmodifikationen (Varietäten) 309. Stereochemie 26, 30. Strukturchemie 25. Summierung der Erbmasse 104, 107. Symbiose 452. Sympathische Färbung 487, 497, 506. Synapsis 109. System der Organismen 263. Systembedingungen 135. T. Taraxacum dens leonis 310. Teilung der Zelle, erbgleiche 134, 519, 533. Teleophobie 654, 672. Teratologie 132, 336. Termiten 272, 308, 473. Tetraden 109. Theorie der Einschachtelung 6, Epigenesis 3, 12, Evolution 3, Panspermie 3, 9, Prä- formation 3. Tiergeographie 487. 685 Tierstaaten, Tierstöcke (Bienen, Ameisen, Termiten) 471, 472. Tod der Lebewesen 253 — 262. Transfusion 173. Transplantation 172. Transporthypothese von Darwin 518, 537. Tritonei 132. u. Umschlagsvarianten 309, 313. Unpaarhufer 447. Urdarm, Urmund 189, 393. Ureier 61. Ursamenzellen 61. Urniere 18 1, 208. Urtica pilulifera und Dodartii 74. Urzeugung 3, 4, 12. V. Variabilität 287, 295, 296, 563, Beispiele der fluktuierenden Variabilität beim Menschen 322, bei Bohnensamen 323, bei Chrysanthemum 323, Ursachen der fluktuierenden Variabilität 325. Varianten 287, 295, 296, 618, des Ge- schlechts 297, des Standorts 297, fluk- tuierende oder lineare 297, 315, mon- ströse 297, 395. Variation, lineare oder fluktuierende 286, 3*5- Variationskurve 318. Variationspolygon 318. Varietäten 284 Vegetative Affinität 173. Verbänderung 339. Verbindungen, biologische 34, 55, 120, harmonische und disharmonische 173. Verb reitungs weise der Organismen 483. Vererbung 74, in reinen Linien 231, Pro- blem der Vererbung 512, 528, 544. Verjüngung 253. Vermehrung der Organismen 232 — 235. Vierergruppen 109, 1 1 5. Vis essentialis 15. Visceralbögen 195. Visceralskelett 195. Viscum album 455. Vitalismus 19, 40, 44. Vollkern 115. 686 Register. Vorentwicklung 136. Vomiere 18 1. W. Wachstum, formatives und Massenwachs- tum 135, ungleiches 177. Wachstumsreize, formative, organbildende, strukturbildende 144. Walfische 499. Wahlvermögen, akkumulatives 593, 621. Wahrscheinlichkeitsrechnung 327, 330. Wasserknöterich 313. Weismannismus 602. Weizenrassen 620. Weltanschauung 602. Wirbelsäule 183. Wüstentiere 488, 489. Z. Zahlengesetz der Chromosomen 63, 115, 353. Zahnsystem 206. Zelle 26, 53, 54, 55. Zelleneigenschaften 76. Zellenkern 29. Zellenstaat 54. Zellteilung, Zell Vermehrung 61, 122. Zeugungslehre 55. Zeugungskreise 269, 272. Zeugungstheorien 1, 16. Zeugungs vermögen 232, Beispiele für das- selbe 232 — 235. Zuchtwahl 592, 622, 626, 627. Zufallskurve 331, Zufallstheorie, Zufall 603, 605, 612, 652. Zwangsdrehung der Stengel 338. Zweckbegriff 600, 652, 6 72. Zweckmäßigkeit, Zweckverbände 661. Zygote 77, 116. Zyklomorphose 334. Zyklopenauge 345. Fromtnannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena. — 499°- Verlag yon Gustav Fischer in Jena. Die angegebenen Preise sind die im Mai 1922 gütigen; für das Ausland erhöhen sie sich durch den vorgeschriebenen Valuta- Zuschlag. Die Preise für g ebundene Bücher sind unverbindlich. Weitere Schriften von Oscar Hertwig Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Zweite Auflage. V, 121 S. gr. 8« 1921 Mk 17.50 Archiv für systematische Philosophie, Bd. 24, Heft 1: Der Verf. gibt hier eine über den Kähmen seines Spezialgebietes hinausgehende Zurückweisung der Gedankengänge, die man populär und wissenschaftlich unter dem Namen einer darwinistischen Welt- und Lebensanscbauung zusammenzufassen pflegt. Wohl wenige sind zu dieser Kritik so geeignet wie H., dem eine beherr- schende Kenntnis der ausschlaggebenden Naturwissenschaften wie ein gesundes und reifes Urteil über die Angelegenheiten unserer Kultur zur Seite stehen. So stellt der Abriß eine philosophische Kritik der biologischen Natur- und Kulturwissenschaft dar, die um so wertvoller ist, als sie nicht auf kenntnisarmer „kultur philosophischer“ Vorbildung beruht . . . Dr. Ernst Barthel (Straßburg). Allgemeine Biologie. Fünfte, verbesserte und erweiterte Auflage, bearbeitet von Oscar Hertwig, Direktor des anatomisch- biologischen Instituts der Universität Berlin, und Günther Hertwig, Privat- dozent der Anatomie an der Universität Frankfurt a. M. Mit 484 teils farbigen Abbildungen im Text. XYI, 800 S. gr. 8° 1920 Die sechste Auflage befindet sich in Vorbereitung. Zentralblatt für Physiologie, Bd. 26, No. 17: . . . Der umfassende Ueberblick über die unendliche Fülle der ver- arbeiteten Details und das klare Urteilen, Abwägen des Bedeut- samen, zusammen mit der seltenen Fähigkeit, anregend und fesselnd zu schreiben, haben dem Buche die künstlerische Abrundung und Schönheit bewahrt, die bei den früheren Auflagen, wie bei den anderen Büchern Hertwigs, mit Recht so hoch geschätzt werden. H. Piper (Berlin). Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 1920, Nr. 30: Hertwigs „Allgemeine Biologie“ bedarf einer besonderen Empfehlung nicht mehr. Es wird nicht viele Biologen geben, seien es nun Naturwissenschaftler im engeren Sinne, oder seien es über ihr Fachgebiet hinaus interessierte Mediziner, denen das Buch un- bekannt geblieben ist. Wer sich über Morphologie und Biologie der Zelle, dieses Thema im weitesten Sinne gefaßt, unterrichten will, der findet in der „Allgemeinen Biologie“ ein außerordentlich reiches Tatsachenmaterial zusammengetragen und wohlverarbeitet, und auch der Spezialist auf dem Gebiete kann manche Anregung aus dem Buche schöpfen. . . Nachtsheim. Münchener Neueste Nachrichten. 29. Juni 1920: ... Das, was jeden, auch Nichtbiologen, der für Naturforschung Interesse hat, an den letzterschienenen Werken O. Hertwigs so sehr ergreift und fesselt, tritt auch in diesem Buch klar zutage. Es ist neben der klaren Sachlichkeit und dem emi- nenten Wissen, neben der grundlegenden experimentellen Mitarbeit an der heutigen Biologie überhaupt, die olympische Ueberlegenheit des siebzigjährigen Betrachters. Man hat das bestimmte Gefühl: hier spricht ein reiner, nur der tendenzfreien Wahrheit furchtlos nacbstrebender Geist, dessen innerstes Wesen, verankert in der leicht resignierten Skepsis des Bescheiden-Einsichtigen, nicht in, sondern über den von Menschen gefun- denen Grundlagen der Erkenntnis schwingt. W. Sch. Der Staat als Organismus. Gedanken zur Entwicklung der Menschheit. VI, 271 8. gr. 8° 1922 Mk 30.—, geb. Mk 50.— Inhalt: Einleitung: Die Lehre von der Organ projektion. — 1. Das Verhältnis der Teile zum Ganzen. — 2. Die individualistischen Systeme in der Staatslehre. — 3. Die sozialen, kollektivistischen oder altruistischen Systeme. — 4. Allgemeine Gesetze in der Organisation der Lebewesen und der menschlichen Staaten. — 5. Betrachtungen über die staatsbildenden Faktoren in der Geschichte der Menschheit. — 6. Die wirtschaftliche Or- ganisation der europäischen Staaten im Mittelalter und ihre Umwandlung beim Uebergang zur Neuzeit. — 7./10. Der moderne Wirtschaftsprozeß in seiner Wirkung auf Staat und Gesellschaft. (Die Mechanisierung der Wirtschaft durch das Unternehmertum als Vorstufe zur Sozialisierung durch Staat, Gemeinde u. Unternehmerverbände. Der Arbeitersozialismus. Der ethische Sozialismus.) — 11./14. Krisen und Krankheiten im staatlichen Organismus (im wirtschaftlichen und sozialen, religiösen und sittlichen Leben). Wege zu ihrer Lösung und Heilung. Die Elemente der Entwicklungslehre des Menschen und der Wirbeltiere. Anleitung und Repetitorium für Studierende und Aerzte. Sechste Auflage. Mit 438 Abbildungen im Text. IX, 495 S. gr. 8° 1920 Mk 60.—, geb. Mk 80.— Das Bildungsbedürfnis und seine Befriedigung durch deutsche Universitäten. Rede, gehalten zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität, König Friedrich Wilhelm III., in der Aula derselben am 3. August 1905. 31 S. gr. 8° 1909 Mk 9.— Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- und Vererbungs- lehre. IV, 122 S. gr. 8° 1909 (vergriffen) Die Entwicklung der Biologie im neunzehnten Jahrhundert. Vortrag, gehalten auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Aachen am 17. Dez. 1900. Zweite, erweiterte Auflage. Mit einem Zusatz : lieber den gegen- wärtigen Stand des Darwinismus. 46 S. gr. 8° 1908 Mk 9. — Ergebnisse und Probleme der Zeugungs- und Vererbungslehre. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Kongreß für Kunst und Wissenschaft in St. Louis (U. St. A.) September 1904. Mit 5 Abbild, im Text. 30 S. gr. 8° 1905 Mk 9.- Zeit- und Streitfragen der Biologie. Heft 1: Präformation oder Epigenese? Grundzüge einer Entwicklungstheorie der Organismen. Mit 4 Abbild, im Text. IV, 143 S. gr. 8° 1894 Mk 27. — Heft 2: Mechanik und Biologie. Mit einem Anhang: Kritische Bemerkungen zu den entwicklungsmechanischen Naturgesetzen von Roux. IV, 211 S. gr. 8° 1897 Mk 36.— Die Lehre vom Organismus und ihre Beziehung zur Sozial- wissenschaft. Universitäts-Festrede mit erklärenden Zusätzen und Literatur- nachweisen. 36 S. gr. 8° 1899 Mk 9.— Die Symbiose oder das Genossenschaftsleben im Tierreich. Vortrag, gehalten in der ersten öffentlichen Sitzung der 56. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Freiburg i. Br. am 18. Sept. 1883. Mit 1 Tafel in Farbendruck. IV, 50 S. gr. 8° 1883 Mk 16.20 Der anatomische Unterricht. Vortrag, gehalten beim Antritt der anatom. Professur a. d. Univ. Jena am 28. Mai 1881. 25 S. 8° 1881 Mk 5.40